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Das Seegespenst

Heinrich Schmidt
Das Seegespenst

»Willy! Willy!«

»Hier, Bruder Jack!«

»Komm her, mein Junge! Komm! Hier an Backbord bin ich! Lehne dich mit dem Rücken gegen den Poller und lasse deinen Kopf auf dem Anker ruhen. Ich will mich zu dir setzen.«

»Hier ist Raum für uns beide, Jack.«

»Still! Wir müssen leise sprechen, sonst stören sie uns. Siehst du die dunklen Gestalten dort auf dem Quarterdeck? Das sind der Kapitän und der Steuermann. Sie dürfen uns nicht hören, Willy!«

»Jack! Mich hungert, aber mich dürstet noch mehr. Als wir noch zu Hause waren, ging ich einmal aus, während es heftig regnete. Ich wurde durchnässt und schrie im Zorn: Ach, das verdammte Wasser! Ich glaube, Gott straft mich jetzt dafür, dass ich das süße Wasser verdammt habe.«

»Still, Bruder! Still, mein süßer Willy! Wir wollen zusammen ausharren. Unter einem Herzen haben wir gelegen, zu derselben Stunde sind wir geboren und zu eben derselben Stunde hat unser treuloser Vater die arme Mutter verlassen, die Tag und Nacht weinte, bis sie blind war. Weißt du noch, was wir m ihre sterbende Hand schworen?«

»Nichts weiß ich, als dass mich fürchterlich dürstet. Bekommen wir denn nicht bald unsere kleine Ration?«

»Es sind noch sieben Stunden bis dahin. Ich wollte für dich wohl ein Dutzend Tropfen stehlen, aber der Kapitän hat den Schlüssel zum letzten Fass an einer Kette um den Hals hängen, und der Steuermann bewacht ihn mit Luchsaugen.«

»Alles verdurstet in dieser schaurigen Einöde!«

»Sieh nur die Sterne an, wie matt und traurig sie herunterblicken. Es ist kein Glanz mehr in ihnen. Der ganze Ozean lechzt nach einem süßen Wassertropfen. Seit sechs Wochen hat ihn kein Lufthauch bewegt, seit sechs Wochen liegen wir auf derselben Stelle. Es muss ein großer Sünder an Bord sein, Willy, um dessentwillen der Himmel uns so hart straft. Hu! Wie entsetzlich ist diese Stille!«

»Soll ich über Bord springen, und mich von dem Hai fressen lassen?«

»Noch nicht sterben, Willy! Hunger und Durst sind stark, aber die Hoffnung ist stärker und besiegt beide. Ich hoffe noch!«

»Hilf, Himmel! Was ist das? Sieh doch, Bruder Jack! Vorne auf dem Bugspriet, auf der Nock des Klüverbaums!«

»Das ist eine schwarze Wolke. Sie wallt hin und her!«

»Man kann durch sie hindurchschauen! Sie sieht so grauenhaft aus! Ich fürchte mich!«

»Nicht fürchten, Bruder! Wir sind gute Christen! Ich will ein Kreuz schlagen! Weiche, Unhold! … Es weicht nicht! … Es wird größer! … Weh uns! … Was ist das?«

»Nun weiß ich es! Das ist das Seegespenst. Mein alter Bootsmann hat mir oft davon erzählt, und ich habe ihn heimlich ausgelacht und alle Geister dazu. Nun wird es mich fressen und dich auch. Heißt es nicht, wir wären mitten im heißen Sommer und das Schiff läge unter der Linie? Ich glaube es nicht! Mich friert! Hu! Hu! Und wie sind meine Augenlider so schwer! Lass mich schlafen!«

Beide Brüder schliefen ein.

Auf dem Quarterdeck gingen Kapitän und Steuermann, der eine an Steuer-, der andere an Backbord, auf und ab.

»Noch viel Wasser vorrätig, Meister Blank?«, fragte der Kapitän herüber.

»Was fragt Ihr mich?«, war die mürrische Antwort. »Den Schlüssel zum letzten Fass tragt Ihr, wie der Irländer sein Kruzifix, auf der Brust; also müsst Ihr es am besten wissen.«

»Ich habe nicht darauf achtgegeben, Meister Blank. Aber ich will gleich hinunter gehen und nachsehen.« Der Steuermann trat ihm in den Weg und ergriff ihn mit eiserner Faust: »Nicht ohne mich, Herr! Nicht ohne alle, die noch an Bord und imstande sind zu gehen. Stehlt Diamanten! Es sind deren genug an Bord. Das wird Euch eher vergeben als der Raub eines einzigen Wassertropfens!«

»Lasst uns allein gehen, Meister Blank! Nur einen Zug für meinen glühenden Schlund. Ihr sollt zwei nehmen, und eine Achtel Finte Branntwein ist noch übrig; die wollen wir teilen!«

Der Steuermann legte seine Hand auf die Schulter des Kapitäns und blickte ihm fest ins Auge: »Sechzehn Menschen sind mit Euch auf die See hinausgegangen. Ihr und ich stehen noch hier; zwei junge Burschen kriechen da vorne umher, fünf liegen krank in ihren Hängematten und warten auf ihre Erlösung; die anderen haben einen schnellen Tod vorgezogen und sind über Bord gesprungen. Uns bleibt nur übrig, dasselbe zu tun, wenn nicht einer über den anderen das Los werfen will und ihn erschlagen, um von seinem Blut zu trinken und von seinem Fleisch zu essen.«

»Möge es so kommen, Meister Blank! Wir sind die Herren und bleiben bis zuletzt. Lasst die anderen jetzt gleich sterben. Was macht es, ob sie einen Tag länger leben? Für uns beide reicht der Vorrat dann noch acht Tage aus. In acht Tagen kann vieles geschehen! Es kann regnen, es kann ein Schiff – wir brauchen uns um nichts zu sorgen. Hinunter mit ihnen in die Tiefe!«

»Ihr seid ein Ungeheuer, und die Strafe des Himmels folgt Euren verworfenen Gedanken auf dem Fuße nach. Schon lauert sie auf der Nock des Klüverbaums, sie wird auch das Quarterdeck erreichen, denn das Seegespenst wächst von Stunde zu Stunde. Wohl dem, der dann freudig seine Seele dem Herrn befehlen kann.«

»Ja, wohl ihm!«

»Ihr habt der Untaten gar viele verübt, aber ich bin nicht der Mann, der sie Euch nachzählt. Mich hätte Euer Auge nicht mehr gesehen, allein ich wusste nicht, dass Ihr es unter falschem Namen zum Kapitän gebracht hattet, als ich auf diesem Schiff Dienst nahm. Es ist der Geist meiner Schwester Hannah, der Euch jetzt erscheint und Euch das Gewissen rührt.«

»Ich habe deine Schwester schwer beleidigt. Aber ich fühle Reue und will gutmachen, so viel ich kann. Ich will sie heiraten und zu Ehren bringen.«

»Und wo wollt Ihr sie finden? Als Ihr sie samt ihren Zwillingen verließt, als die Mutter sie von sich stieß und die Nachbarn mit Fingern auf sie deuteten, hat sie zur Nachtzeit das Dorf verlassen, und niemand hat sie wieder gesehen. Sie ruht wohl längst in kühler Erde. Aber auch wenn sie noch lebte, für Euch ist sie tot; dieser Stachel muss Eurem Gewissen bleiben.«

»Seht nach dem Gespenst, Steuermann Blank! Es wächst von Minute zu Minute. Sieht es nicht aus wie eine Rauchsäule? Mich dünkt, es ist Feuer im Schiff! Zum Teufel mit dem Geplärr Eurer Schwester! Geht nach vorn und seht nach dem Feuer!«

»Geht selbst, wenn Ihr Euch die Finger verbrennen wollt. Wen Gott so schwer gezüchtigt hat wie uns, der erkennt kein irdisches Gesetz mehr an. Steuert Euren Kurs, Herr! Wenn wir uns hier trennen, bin ich überzeugt, dass unsere Wege nie mehr zusammentreffen, denn Ihr werdet hoffentlich wohlbehalten in der Hölle anlangen.«

»Willy! Willy! Wach auf!«

»Lass mich schlafen, Jack! Ich kann die Augen nicht offenhalten, und wenn es geschieht, erblicke ich das furchtbare Seegespenst, das in den vier Tagen, seit es erschien, immer größer wurde, und alle unsere Leute frisst. Lass mich schlafen!«

»Du sollst nicht! Wenn du so fortfährst zu schlafen, wirst du die Augen nie wieder öffnen. Es ist dein Todesschlaf.«

Ein helles Geläute flog über die Meeresfläche hin. Willy hob den Kopf und sah den Bruder gedankenlos an. »Was ist das? Mich dünkt, der Vikar in unserem Dorf lässt zur Messe läuten.«

»Es ist der Steuermann, Bruder Willy! Er zieht die Schiffsglocke, denn er hat eben den letzten unserer Kranken über Bord geworfen. Wir sind jetzt nur noch vier. Soeben sinkt die Leiche unter. Es war Thoms.«

»Er ist glücklich. Wie brennt doch die Sonne so heiß! Ich will wieder schlafen.«

»Raff dich auf! Der Steuermann winkt mir. Es gibt heute zum letzten Mal Wasser.«

»Wasser!«

Willy sprang auf und blickte umher. Da stand der Steuermann und hielt dem Schmachtenden das gefüllte Maß hin.

»Er winkt mir, zu kommen! Ich kann nicht.«

»Ich will es dir holen«, sprach Jack und schwankte fort. Als er wiederkehrte, drückte Willy die Hand des Bruders an seine brennenden Lippen und schlürfte dann die spärliche Flüssigkeit.

»Ach! Welch Genuss! Bin ich schon am Ende? Nichts mehr drin? -Und das war das letzte Mal? Trinken wir nun niemals wieder? O mein Gott! Niemals!« –

Jack betrachtete seinen Bruder mit tiefer Rührung: »Ja, du sollst noch einmal trinken!«

Er holte sich seinen Anteil. Aber auf dem Rückweg übermannte ihn die eigene Schwäche zu sehr; er sank mit dem unschätzbaren Reichtum, der augenblicklich über das glühend heiße Deck hinströmte, zu Boden. Die Brüder stürzten darüber her und hefteten die Lippen fest auf die benetzte Stelle.

»Nun stirb, Willy, nun stirb! Ich kann dich nicht länger schützen und dich zu trösten vermag ich auch nicht mehr. Ich will mit dir sterben!«

Beide Brüder umschlossen sich fest; sie hofften, die Augen nie mehr aufzuschlagen.

»Steuermann Blank, kommt zu mir!«

»Was wollt Ihr?«

»Seht, wie hoch das Seegespenst über die Reling des Schiffes ragt! Es lehnt sich schon an die Sahling des Fockmastes. Wenn es den Besanmast erreicht, drückt es das Schiff in den Abgrund. Ich will aber nicht in den Abgrund! Wie es mich packt! Es wird mir schwarz vor den Augen.

Sterben? Possen! Wir werden mit Sonnenuntergang Regen bekommen, und dann noch lange leben. Hört nur! Ich habe einen tollen Einfall! Ich will das Seegespenst erschießen. Man kann eine Wasserhose treffen, dass sie machtlos zusammenfällt, warum nicht solche Rauch- und Dunstwolke? Seegespenst! Tollheit! Ich will es bannen!«

»Ihr seid ein hartgesottener Sünder, Kapitän! Tut, was Ihr wollt, ich bereite mich zum Abmarsch vor. Das Seegespenst wird bald wieder seinen Rachen öffnen, dann bin ich hin, und meine jungen Kameraden werden auch die Augen nicht mehr aufschlagen.«

Der Kapitän hatte mit wahrhaft riesiger Stärke eine Kanone gefasst und gerade auf die schwarze Nebelgestalt gerichtet. Jetzt schüttelte er Pulver auf das Zündloch und leitete mit einem Brennglas den Sonnenstrahl darauf.

Plötzlich entlud sich das Geschütz, die Kugel flog zischend über das Deck, das Schiff, das sich seit drei Wochen nicht bewegt hatte, bebte von der ungewohnten Erschütterung und bewegte die spiegelglatte Flut. Der Dampf verzog sich, aber das Gespenst war nicht verschwunden; es senkte sich immer tiefer auf das Deck herab.

»Noch immer da, Unhold? Helft! Steuermann, es wird mir schwarz vor den Augen – ich unterscheide nichts mehr! Wer tritt mir entgegen und sieht mich mit Hohn an? Es ist ein Weib, das zwei Kinder auf den Armen hat! Es sind die meinen! Was willst du, Hannah Blank?«

»Lasst die arme Tote ruhen!«, gebot der Steuermann mit brechendem Auge.

»Sie schreitet auf mich zu! Sie fasst mit den Knochenhänden nach mir. Sei barmherzig, Hannah Blank!«

»Wer ruft hier unserer Mutter Namen?«, sprach Jack mit bebenden Lippen und schwankte herbei, Willys Leiche im Arm.

»Heiliger Gott!«, schrie der Steuermann, und der Kapitän fragte bebend: »Wer seid ihr?«

»Jack und Willy, die Söhne der armen Hannah Blank zu Beiford in Exetershire. Wir sterben der Verbrechen unseres sündigen Kapitäns willen! Fluch ihm, der meinen armen Willy tötete und mich!«

»Das ist Gottes Gericht!«, sprach der Steuermann sterbend.

»Hierher, Kinder! Hierher zu Hannahs Bruder! Lasst jenen verbrecherischen Vater mit seinem Gewissen allein.«

Eine tiefe, lautlose Stille herrschte ringsumher; kein Atemzug, kein banges Stöhnen ward mehr gehört; das Seegespenst hing drohend über dem Schiff. Als die Sonne sich senkte, sank auch die Nebelgestalt immer tiefer und umstrickte das Schiff mit riesigen Armen. Die Nacht umhüllte alles mit ihrem Schweigen.

Als der neue Morgen anbrach, kräuselte ein frischer Wind die hüpfenden Wellen, aus dem tief herabhängenden Gewölk stürzte der Regen stromweise herab.

Das Schiff war verschwunden.

Aus: Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, 1849