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Gordon Black Band 1 – Der Spiegel des Grauens

Norman Thackery (Horst W. Hübner)
Gordon Black
Gruselkrimi aus der Geisterwelt
Band 1
Der Spiegel des Grauens
Heftroman, Wolfgang Marken Verlag, Köln, 1982, 66 Seiten, 1,60 DM

Kurzinhalt:

Immer, wenn hinter den Palastmauern des Grafen Girolamo lautes Musikspiel erklang und bis zum Morgen gellende Schreie ertönten, bekreuzigten sich die Menschen von Venedig. Der Teufel sei dort zu Gast, hieß es, und Girolamo ein guter Gastgeber. Als die Soldaten des Dogen die Palasttüren einschlugen, fanden sie die Überreste von mehr als fünfzig Menschen, die der Graf auf entsetzliche Weise umgebracht hatte. Das Urteil für Girolamo lautete, auf dieselbe Art zu sterben wie seine Opfer – auf einen spitzen Pfahl gespießt und angesichts eines Spiegels, der ihm sein eigenes qualvolles Sterben bis zum Ende zeigte …

Leseprobe

Dumpf entsann er sich, dass er gelebt hatte, dass er hingerichtet wurde und dass man seinen geschundenen Körper auf dem Scheiterhaufen hatte verbrennen wollen.

Davor war irgendetwas geschehen. Jemand hatte einen entsetzlichen Bannfluch gegen ihn geschleudert. Jedenfalls war er nicht auf den Scheiterhaufen gekommen.

Gewissermaßen von einer höheren Warte aus hatte er seinen eigenen zuckenden Körper auf dem blutigen Pfahl sitzen sehen, hatte die namenlose Pein in seinen Augen erblickt und die kaum noch menschlichen Töne vernommen, die dem brüllenden runden schwarzen Loch entflohen, das sein Mund war.

Eine ungeheure Macht hatte Gewalt über ihn bekommen und hielt seine leicht wie eine Feder schwebende Seele von seinem gemarterten Körper fern. Und endlich zog ihn diese Macht hinab in die Folterkammer, zwischen den Knechten, dem Schreiber und den Vertretern des Klerus hindurch, in den Spiegel hinein, den sie ihm hingestellt hatten.

Und plötzlich war seine Seele wieder mit seinem gepeinigten Körper vereint. Er hörte die Entsetzensschreie der Folterknechte, der Vertreter der Kirche, den zweiten Bannfluch »Anathema sit!«, den sie ihm nachschleuderten, und er sah den leeren Pfahl.

Die unbekannte Macht hatte seinen Leib vom Pfahl gerissen. Noch in der Folterkammer fügte sie das Fleisch mit der Seele zusammen.

Danach hatte ihn milde Dunkelheit umgeben, die weder wärmte noch kühlte. Irgendwann verstand er, dass er ins Schattenreich eingegangen war und dass der Spiegel in der Folterkammer eine Rolle dabei gespielt hatte.

Er kam sich vor wie hinter einer Scheibe. Auf der anderen Seite war die Welt der Lebenden, jener Wesen, die mit pulsendem Blut gefüllt waren. Seine Gier nach Menschenblut stieg ins Unermessliche, je länger er im Schattenreich gefangen saß.

Einen eigentlichen Begriff für Zeit hatte er nicht. Er nahm nach einer Epoche der Ruhe und Ereignislosigkeit wahr, dass manchmal Bilder und Eindrücke wie kurze Lichtblitze von drüben in seine Schattenwelt drangen.

Seine Neugierde wurde geweckt und seine Blutgier angestachelt. Er begann zu erforschen, wie die Bilder und Eindrücke aus der Welt der Lebenden zu ihm gelangten.

Und er sann darauf, selbst hinüberzugelangen …

 

*

Alles, was zwischen Boston, Albany, Philadelphia und New York zur Kulturszene gehörte oder sich dazu zählte, fand sich zu den sommerlichen Festen in Sir Goffreys Haus ein, um der Vorstellung talentierten Künstlernachwuchses beizuwohnen.

Sir Goffrey Addisons Haus lag im äußersten Zipfel von Long Island, eingebettet in einen weitläufigen Park, dessen Bäume so alt waren wie die Vereinigten Staaten.

Und wenn Sir Goffrey zu seinen Festen lud, dann stand dahinter genauso viel gesellschaftlicher Zwang, als hätten die Rockefellers zum Stehempfang im Waldorf-Astoria gebeten. Man musste hin, da half nichts. Nur der eigene Todesfall galt als einigermaßen ausreichende Entschuldigung.

Urheberin dieser Vorstellungsfeste war die selige Peggy Guggenheim. Zu Lebzeiten hatten herzliche Freundschaftsbunde sie mit Sir Goffrey verbunden.

Goff, wie sie ihn zu nennen pflegte, hatte ein annähernd gleich großes Vermögen wie sie, und wie sie sammelte er Kunst. Alte Kunst allerdings, das war der Unterschied.

Und er machte seine Sammlungen nicht der Öffentlichkeit zugänglich, sondern verschloss sie in seinem Haus, das er schlicht sein Heim nannte. Dieses Heim war ein veritabler Herrensitz, wirkte nach außen fast wie ein etwas verkommenes Gemäuer und sah innen wie ein vollgestopftes Museum aus.

Peggy Guggenheim hatte ihm gesagt, dass es nicht recht sei, all seine Schätze zu verschließen. Ihrem Einfluss war es zu verdanken, dass er sein Heim den interessierten Kunstkreisen öffnete, und dass er vor allem ein Freund und Förderer des Nachwuchses wurde.

Also hatte er diese Vorstellungsfeste eingeführt. Und wer bei ihm vor erlauchtem Publikum debütierte, hatte eine steile Karriere vor sich.

Zwar witzelten ergrimmte Neider, Sir Goffrey fördere in auffallender Weise nur noch Künstlerinnen, und im Gegensatz zu seinem zunehmenden Lebensalter seien die immer jünger.

Doch mit der Toleranz und milden Nachsicht eines großen Geistes setzte er sich über solche niederen Gehässigkeiten hinweg und richtete unverdrossen die Feste aus, wie er es Peggy gelobt hatte. Ein Gentleman, der mit der Zuverlässigkeit des wahren Freundes ein einmal gegebenes Versprechen hält und immer wieder einlöst. Eine Verpflichtung, die über den Tod hinaus verbindlich ist.

Traditionell wurde jedes Fest mit einem musikalischen Abend eröffnet. Die Debütantin war diesmal Linda Turtle; das Konservatorium in Boston sagte ihr eine glänzende Zukunft voraus.

Freunde wussten über Linda zu berichten, dass sie an sich selbst höchste Ansprüche stellte und ihre Ziele immer höher steckte.

Ihren Freunden und sich machte sie das Leben damit oft unnötig schwer.

So auch an diesem Abend.

Es war besprochen, dass sie auf einem Flügel ihr Konzert gab. Völlig überraschend disponierte sie um und wollte unbedingt auf einem steinalten Spinett spielen. Das Instrument war eines der wertvollsten Stücke in den Sammlungen Sir Goffreys und mit Geld kaum noch zu bezahlen.

Wie in Trance ging Linda Turtle darauf zu und strich über das wurmstichige, vom Alter dunkel gebeizte Holz.

»Ein wundervolles Spinett«, sagte sie mit fast geschlossenen Augen. »Darauf spiele ich.«

Sir Goffrey machte ein Gesicht, als bekäme sein Magen Knoten.

»In der Tat ein außergewöhnliches Stück, Linda.« Seine Stimme klang seltsam gequält. »Es stammt aus der Werkstatt von Spinetus in Venedig.«

»Vom Erfinder des Spinetts, ich weiß.«

Linda lächelte geduldig und wirkte ziemlich abwesend. Wieder strich ihre Hand über das altersdunkle Holz. »Schätzungsweise um fünfzehnhundertfünfzig entstanden. Lassen Sie es bitte in den Saal hinüberschaffen, Sir Goffrey.«

Der Hausherr und Gastgeber machte einen letzten Versuch.

»Das Instrument umfasst nur drei Oktaven. Der Klang ist überdies sehr dünn.«

»Schwer zu spielen also«, sagte Linda Turtle verständnisvoll. »Für mich genau richtig.«

»Ja, aber Sie sind nicht vorbereitet, Linda!«

»Ein echtes Talent braucht keine Vorbereitung.« Linda Turtle wirkte unnahbar wie eine Königin und hochmütig und eingebildet wie die Gewinnerinnen aller Schönheitswettbewerbe zusammen. »Ich suche mir aus Ihrer Sammlung eine passende Komposition aus – Ihr Verständnis voraussetzend, Sir Goffrey.«

Lieber Himmel, was war mit diesem Mädchen plötzlich los? Es war wie umgewandelt. Sir Goffrey sah es im Hintergrund der dunklen Augen höhnisch glitzern.

Er wollte sich nicht die Blöße geben, vor allen seinen Gästen als Geizkragen und kleinlicher Mensch dazustehen.

Ein ungutes Gefühl bedrückte ihn; dennoch sagte er: »Bitte, es sind alles Originale. Treffen Sie Ihre Wahl, Linda.«

»Das werde ich. Danke, Sir.« Sie wandte sich den Vitrinen zu, wo unersetzliche Handschriften und Notenblätter aufbewahrt wurden.

Entschuldigend meinte einer von Lindas Freunden zu Sir Goffrey: »Sehen Sie ihr das bitte nach, Sir. Sonst ist sie die Bescheidenheit in Person. Vielleicht das Lampenfieber! So kennt sie niemand von uns.«

Sir Goffrey Addison überspielte die peinliche Szene, indem er fröhliche Miene zu der überraschenden Entwicklung machte. »Dann gehen Sie doch meinem Personal zur Hand und schaffen Sie das Spinett in den Saal.«

Er rückte die weiße Smokingjacke zurecht und begab sich zum Gros seiner Gäste.

Hilfreiche Hände fassten zu und trugen das Spinett in den größten Raum des Hauses. Der bereitgestellte Flügel wurde fortgeschafft.

Erwartungsvoll nahmen die Gäste auf bereitgehaltenen Stühlen Platz oder reihten sich an der Wand auf.

Ein Raunen ging um. Sir Goffrey Addison stand bereit, um die Eröffnungsworte zu sprechen. Die wichtigste Person des Abends fehlte jedoch noch – die Nachwuchspianistin.

Mit ungebührlicher Verspätung erschien Linda Turtle endlich. Ihr Freundeskreis hatte weiteren Grund, sich zu wundern. Linda hatte sich umgezogen – statt des strengen schwarzen Kleides trug sie ein legeres weißes Kleid mit Viertelarm, und ihr zu dem festlichen Anlass straff gekämmtes und zum Knoten geschlungenes Haar floss offen und ziemlich unordentlich um ihre Schultern.

Mit dem Mädchen war eine unglaubliche Veränderung vorgegangen.

Lindas Freunde schauten besorgt.

»Bist du in Ordnung?« raunte ihr eine Stimme zu.

Linda reagierte nicht, und ihr Blick schien durch sämtliche Gäste hindurchzugehen wie durch Glas.

Sie hatte ein paar Notenblätter mitgebracht. Vergilbtes Papier mit vielen Stockflecken, handgezogenen Linien und verschnörkelt gesetzten Noten. Recht unbekümmert legte sie die kostbare Originalkomposition auf dem Spinett ab und nahm auf einem zurechtgerückten Hocker hinter dem Instrument Platz.

Das Raunen legte sich.

Sir Goffrey Addison sprach die Eröffnungsworte. Gelangweilt, wie es schien, lehnte sich Linda Turtle zur Wand in ihrem Rücken zurück, bis sie fast den altertümlichen Spiegel berührte, der dort aufgehängt war.

Dann raschelte sie mit den Notenblättern.

Aus der Zuhörerschaft drang das erste indignierte Räuspern. Dann folgten eisige Blicke. Sir Goffrey brachte seine Begrüßungsrede zu einem vorgezogenen Schluss.

»Und was bringen Sie uns zu Gehör, Linda?« fragte er.

Linda Turtle blickte nicht einmal auf.

»Monteverdi«, sagte sie. Mit einer Stimme, die ihr gar nicht zu gehören schien.

Sir Goffrey spürte einen Stich. Monteverdi erinnerte ihn an einen grauenvollen Unfall. Hier in diesen Räumen. Zwar hatte er diese Erinnerung unterdrückt, ja sogar verdrängt, aber mit Nennung des Namens war alles wieder lebendig.

Er machte eine Handbewegung, als wollte er Linda Turtle das Spiel untersagen. Zu spät.

Sie schloss die Augen und begann zu spielen, als hätte sie wochenlang auf diesem Spinett geübt. Sir Goffrey zog sich zu seinem freigehaltenen Stuhl in der ersten Reihe zurück.

Jemand lenkte ihn ab mit einer Bemerkung über das skandalöse Benehmen der Nachwuchspianistin, dann erst hörte er, was Linda Turtle spielte.

Es war dieses Stück, das er damals gehört hatte! Mit dem sich grauenhafte Erinnerungen verbanden!

Er hatte seitdem die Notenblätter doch fest weggeschlossen!

Wie kam Linda Turtle daran? Die Komposition befand sich tief unten in einem eisernen Schrank. Und den Schlüssel dazu bewahrte er im Schreibtisch auf!

»Bitte, lassen Sie mich vorbei!« raunte er der reifen Dame zu seiner Linken zu. Es war schier unglaublich, dass sich Linda Turtle den Schlüssel aus seinem Schreibtisch besorgt haben sollte.

Sir Goffreys Stuhlnachbarin war gerade im Begriff, zur Seite zu rücken, als die elektrische Beleuchtung im Saal erlosch.

Die Zuhörer verhielten sich still. Sie glaubten, dieser Effekt sei geplant.

Linda Turtle saß ebenfalls in der Dunkelheit. Aber sie spielte wie besessen, schneller, hastiger.

Und plötzlich war milder Lichtschein hinter ihr zu sehen. Unmittelbar hinter ihrem Rücken. Es war, als strömte Licht aus dem alten Spiegel, warmes, flackerndes Kerzenlicht. Eine gespenstische Szene. In der Reihe hinter Sir Goffrey lachte ein Mann hysterisch. Ein anderer Gast hielt den Vorgang für geplant und klatschte in die Hände.

»Licht an!« Sir Goffrey sprang auf. Entsetzliche Ahnungen peinigten ihn. »Bitte sofort das Licht einschalten!«

»Sofort, Sir, sofort!« Das war jemand vom Personal. Die Saaltür klappte.

Das seltsame Kerzenlicht hinter Linda Turtle wurde diffus und noch unwirklicher. Die Künstlerin schien jetzt erst die Verdunkelung des Saales zu bemerken; ihr Spiel wurde stockend.

Zwei, drei dünne, etwas blechern klingende Anschläge auf dem Instrument folgten noch, dann drang ein ächzender Seufzer durch die Weite des Saales, dass es manchem Gast die Nackenhaare aufrichtete.

Das seltsame Licht im Spiegel erlosch. Ein Körper schlug zu Boden. Lähmende Stille trat ein.