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Die Plauderstube – Die Geschichte vom alten Pomschick

Die Geschichte vom alten Pomschick

Ich zählte achtzehn Jahre, als ich schon durch zwei Jahre Fähnrich im Regiment Pawlowsky war.

Das Regiment bewohnte die Kaserne am anderen Ende des Marsfeldes, gegenüber des Sommergartens.

Der Kaiser Paul regierte bereits drei Jahre und bewohnte den roten Palast, der eben fertig geworden war.

Eines Nachts, als mir, ich weiß nicht mehr welcher Ausflug, den ich mit meinen Kameraden machen wollte, nicht gestattet worden war und ich fast allein zu Bett lag, wurde ich aus meinem Schlummer durch eine Stimme geweckt, welche mir in das Ohr flüsterte: »Dmitri Alexandrowitsch erwache und folge mir!«

Ich öffnete die Augen, ein Mann stand vor mir, welcher dieselben Worte wiederholte.

»Euch folgen?«, fragte ich, »und wohin?«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete er, »doch wisse: der Kaiser sendet mich.«

Ich erbebte.

Der Kaiser? Was kann er von mir wollen? Von mir, einem armen Fähnrich, zwar von guter Familie, aber so weit vom Thron entfernt, dass mein Name kaum bis zum Kaiser gedrungen sein kann. Ich erinnerte mich des fürstlichen russischen Sprichwortes: Nahe dem Kaiser, nahe dem Tod.

Ich durfte nicht zögern; ich sprang aus dem Bett und kleidete mich an. Dabei betrachtete ich aufmerksam den Mann, der mich geweckt hatte. So tief er auch in seinen Pelz gehüllt war, so glaubte ich ihn doch zu erkennen. Er war früher Sklave, dann Barbier und nun Günstling des Kaisers.

»Ich bin bereit«, sagte ich endlich in fünf Minuten, indem ich zur Vorsicht meinen Degen fest aufschnallte.

Meine Unruhe verdoppelte sich, als ich sah, dass mein Führer, anstatt den gewöhnlichen Ausgang aus der Kaserne zu wählen, über eine kleine Treppe in die unteren Säle des ungeheuren Gebäudes hinabstieg, wo er mit einer Blendlaterne leuchtete.

Nach längeren Hin- und Hergehen kamen wir zu einer Tür, die mir ganz unbekannt war. Wir waren auf dem ganzen Weg keiner Seele begegnet, es war, als ob das Haus ausgestorben wäre. Ich bemerkte wohl einige Schatten, aber diese verschwanden sogleich in der Finsternis.

Die Tür, zu welcher wir kamen, war verschlossen. Mein Führer klopfte auf eine gewisse Art und sie schien sich denn selbst zu öffnen Aber als wir hindurchgegangen waren, sah ich einen Mann, der sie wieder schloss und uns dann folgte.

Wir waren in unterirdische Gewölbe von 7 – 8 Fuß Breite getreten. Nach einigen hundert Schritten kamen wir an ein Gitter, welches mein Führer öffnete und sodann wieder schloss.

Ich erinnerte mich der Sage, dass durch eine unterirdische Galerie die Kaserne der Pawlowsky-Grenadiere mit dem roten Palast in Verbindung stehe und vermutete, dass wir uns dahin begeben würden.

Nachdem wir noch eine Tür passiert hatten, stiegen wir über eine Treppe in die inneren Gemächer, aus deren Atmosphäre ich erkannte, dass das Haus sorgfältig geheizt war.

Hier zeigten sich die Verhältnisse eines Palastes.

Nun zweifelte ich nicht mehr, man führe mich zum Kaiser, mich, der ich in dem untersten Rang der Garde diente. Ich gedachte wohl jenes jungen Fähnrichs, der dem Kaiser einst auf der Gasse begegnete, und den er, bloß weil ihm sein Gesicht gefiel, in weniger als einer Viertelstunde nacheinander zum Leutnant, zum Hauptmann, zum Major, zum Oberst und zum General ernannte. Aber ich konnte nicht hoffen, dass er mich aus derselben Ursache habe holen lassen.

Wir kamen endlich zu einer letzten Tür, bei welcher eine Schildwache auf und ab ging.

Mein Führer legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: »Halten Sie sich gut, Sie werden sogleich vor dem Kaiser stehen!« Dann sagte er der Schildwache etwas ins Ohr und diese trat, das Gewehr anziehend, zur Seite.

Er öffnete die Tür nicht mit einem Schlüssel, sondern durch einen geheimen Druck. Wir traten ein und ein Mann von kleiner Statur mit Stiefeln, welche bis zur Mitte der Schenkel reichten, einem Rock, der bis zu den Sporen herabfiel, einen ungeheuren, dreieckigen Hut auf dem Kopf, stand in voller Parade um Mitternacht vor mir.

Ich erkannte den Kaiser, was nicht schwer war, da er fast täglich Revue über uns hielt. Ich erinnerte mich auch, dass er am vorigen Tag bei der Revue mich starr und lange angeblickt hatte, dass er dann meinen Hauptmann aus dem Glied vortreten ließ, dass er an diesen, auf mich deutend verschiedene Fragen gestellt, und dann einem seiner Adjutanten einen Befehl gegeben habe. All dieses vermehrte nur nach meine Unruhe.

»Sire!«, sagte mein Führer, »hier ist der junge Fähnrich, mit welchem Eure Majestät zu sprechen wünschten.«

Der Kaiser trat mir näher und da er klein war, so stellte er sich auf die Fußspitzen, um mich genau zu betrachten. Vermutlich erkannte er mich als denjenigen, den er zu sich beschieden hatte, denn er machte ein zustimmendes Zeichen und indem er sich umdrehte, sagte: »Marsch!«

Mein Führer machte eine Verbeugung, entfernte sich und ließ mich mit dem Kaiser allein. Ich gestehe offen, ich wäre lieber mit einem Löwen in seinem Käfig allein gewesen.

Der Kaiser schien anfangs mich gar nicht zu bemerken, er ging auf und nieder, öffnete ein Fenster, um Luft zu schöpfen, dann trat er zum Tisch und nahen eine Prise Tabak. Dies war das Fenster seines Schlafzimmers, in welchem er später getötet wurde, und welches seit seinem Ende, wie man sagt, nicht mehr geöffnet worden ist. Ich hatte Zeit, alles hier zu beobachten, jedes Einrichtungsstück, jeden Stuhl. An einem Fenster stand ein Schreibtisch und daraus lag eine offene Schrift.

Endlich schien der Kaiser mich zu bemerken. Mit wütenden Gesichtszügen und einem nervösen Zittern trat er vor mich hin und sprach: »Staub, du weißt, dass du Staub bist, und dass ich alles bin!«

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, ihm zu antworten: »Eure Majestät sind der Auserwählte des Herrn und der Herr über das Schicksal der Menschen.

»Hm, machte er, und mir den Rücken kehrend, ging er wieder auf und ab, öffnete das Fenster, nahm eine Prise und trat wieder vor mich hin. »Du weißt«, sprach er, »wenn ich befehle, muss man gehorchen ohne Widerrede, ohne Bemerkung.«

»Wie man Gott gehorcht, ja ich weiß es, Sire!«

Er blickte mich fest an. Es lag in seinen Augen ein so seltsamer Ausdruck, dass ich seine Blicke nicht ertragen konnte; ich wendete mich ab. Er schien zufrieden mit dem Einfluss, den er auf mich geübt hatte. Er schrieb ihn auf Rechnung der Ehrfurcht; es war Abscheu. Dann ging er zum Schreibtisch, nahm die Schrift, las sie, faltete sie, legte sie in einen Umschlag, siegelte diesen mit einem Ring, den er am Finger trug, trat dann wieder zu mir und sprach: »Erinnere dich, dass ich dich unter Tausenden ausgewählt habe, um meine Befehle zu vollziehen, weil ich glaube, dass du sie genau ausführen wirst.«

»Ich werde stete den Gehorsam vor Augen haben, den ich meinem Kaiser schuldig bin«, antwortete ich.

»Gut, gut! Erinnere dich nur, dass du nichts als Staub bist, und dass ich alles bin.«

»Ich erwarte die Befehle, Ew. Majestät.«

»Nimm diesen Brief, trage ihn zum Gouverneur der Festung, begleitete ihn dahin, wohin er dich führen wird. Sieh zu, was er tun wird, und komm dann wieder, mir zu sagen: Ich habe gesehen!«

Ich nahm den Brief und verbeugte mich.

»Ich habe gesehen! Verstehst du mich? Sonst nichts als: Ich habe gesehen!«

»Ja, Sire!«

»Jetzt geh!« Er selbst öffnete mir die Tür, durch welche ich eingetreten war, und wo mich mein Führer erwartete. Der Kaiser schloss die Tür hinter mir, indem ich ihn noch murmeln hörte: »Staub! Staub! Staub!«

Ich stand ganz verstört auf der Schwelle. Mein Führer fasste mich am Arm und zog mich fort.

Wir gingen einen anderen Weg, der zur Außenseite der Festung führte. Ein Schlitten stand im Hof.

Man führte uns zum Gouverneur, welcher schon schlief. Man weckte ihn auf Befehl des Kaiser. Er kam, indem er seine Unruhe unter einem Lächeln zu verbergen suchte.

Bei einem Mann wie Paul war der Gefangenenwärter ebenso wenig sicher wie der Gefangene, der Scharfrichter ebenso wenig wie sein Opfer.

Mein Führer bedeutete ihm, dass ich einen Auftrag an ihn habe. Hierauf blickte er mich aufmerksam an, zögerte aber, mit mir zu sprechen; vermutlich staunte er über meine Jugend.

Ich überreichte ihm, ohne ein Wort zu sprechen, den Befehl des Kaisers. Er näherte sich dem Licht, prüfte das Siegel, erkannte es als das Privatsiegel, welches stets bei geheimen Befehlen beigedrückt war. Er verbeugte sich, machte das Kreuzzeichen und öffnete den Befehl. Er las, blickte mich scharf an, las wieder und fragte dann: »Sie sollen sehen?«

»Ja«, antwortete ich, »ich soll sehen.«

»Was sollen Sie sehen?«

»Sie werden es wohl wissen!«

»Und wissen Sie es nicht?«

»Nein.«

Er blieb einen Augenblick nachdenkend, denn fragte er meinen Führer: »Werden Sie mit uns kommen?«

»Nein, ich warte hier, bis alles getan ist.«

Dann wandte sich der Gouverneur an einen Diener und befahl ihm, zwei Schlitten und vier Soldaten bereit zu halten, deren einer einen Hebel, der Zweite einen Hammer, die anderen Hacken mitnehmen sollten.

Der Diener ging und der Gouverneur wendete sich zu mir mit den Worten: »Nun kommen Sie und sehen Sie.«

Er ging voraus, ich folgte, und ein Beschließer ging hinter mir.

Wir stiegen viele Treppen hinab, überall waren Gefängnisse. Erst bei der dritten untersten Abteilung, und zwar bei einer mit der Nr. 11 bezeichneten eisernen Tür, hielt der Gouverneur an und gab ein Zeichen.

Es war draußen eine Kälte von 20 Grad. In der Tiefe, in welcher wir uns befanden, war diese Kälte noch mit Feuchtigkeit gemischt, sodass sie bis in das Mark der Gebeine drang. Die Tür wurde geöffnet, wir stiegen noch sechs steile, klebrige Stufen hinab und befanden uns in einem Kerker von acht Fuß im Viereck.

Es schien mir beim Schein der Laterne, als bewege sich im Hintergrund eine menschliche Gestalt.

Der Gouverneur blieb auf der letzten Stufe stehen, denn der Kerker war mit feuchtem, kalten Dunst erfüllt. Man hörte ein dumpfes Rauschen, ich blickte um mich und gewahrte ein Schießloch in der Mauer, einen Fuß lang und vier Fuß breit. Der kalte Wind kam durch diese Öffnung und wurde zum Zugwind durch das Öffnen der Tür. Das Rauschen kam von der Newa, welche an die Mauern des Gefängnisses schlug.

»Steht auf und kleidet euch an!«, befahl der Gouverneur, und ich befahl dem Gefangenenwärter: »Leuchte in den Hintergrund, denn ich bin beauftragt, zu sehen!«

Da sah ich denn einen mageren, blassen Greis mit weißem Haar und Bart sich erheben, der nur mit einem zerfetzten Pelz bedeckt war, unter welchem man seinen nackten, knochigen, zitternden Körper sehen konnte. Vielleicht war dieser Körper einst mit kostbaren Kleidern, vielleicht war diese entfleischte Brust einst mit Orden bedeckt. Jetzt war er nur noch ein lebendes Skelett, welches seinen Rang, seine Würden, ja selbst seinen Namen verloren hatte, denn man nannte es nur Nummer 11.

Er stand auf, hüllte sich in die Reste seines Pelzes, ohne eine Klage laut werden zu lassen. Sein Körper war gebeugt durch Zeit, Nässe, Finsternis, vielleicht auch durch Hunger, sein Blick aber war stolz, fast flehend.

»Es ist gut«, sagte der Gouverneur, »jetzt komm.« Er ging zuerst hinaus. Der Gefangene warf einen letzten Blick auf seinen Kerker, auf seinen Wasserkrug, auf sein faules Stroh. Er stieß einen Seufzer aus und ging an mir vorüber. Nie werde ich den Blick vergessen, den er mir zuwarf, und den Vorwurf, der in demselben lag. Er schien sagen zu wollen: Noch so jung und schon ein Knecht der Tyrannei! Ich wandte die Augen ab, denn dieser Blick war in mein Herz gedrungen gleich einem Dolch.

Er ging hinaus, ich hinter ihm, der Gefangenwärter nach mir. Dieser schloss die Tür sorgsam zu. Man hatte den Kerker vielleicht nur geleert, weil man ihn für einen anderen nötig hatte.

Im Festungshof fanden wir zwei Schlitten. Man ließ den Gefangenen in einen steigen, und der Gouverneur setzte sich an seine Seite, ich ihm gegenüber. In den zweiten Schlitten stiegen die vier Soldaten. In meiner Stellung hatte ich die Knie des Greises zwischen den meinen, ich fühlte, wie er zitterte.

Wir kamen zur Newa, und in die Mitte des Flusses gelangt, nahmen die Schlitten die Richtung gegen Kronstadt.

Das Wetter war das fürchterlichste, was mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist. Der Schnee fiel so dicht und in so großen dicken Flecken, dass es schien, als wolle er sich zu Mauern erheben und uns unter denselben begraben.

Ich stand im Begriff, meinen Überwurf auszuziehen, und ihn dem armen Greis zu geben. Allein der Gouverneur, der meine Absicht bemerkte, sagte: »Es ist nicht mehr der Mühe wert.

Endlich hielten wir an. Wir mochten eine Meile von Petersburg sein. Der Gouverneur stieg aus, die vier Soldaten ebenfalls mit ihren Instrumenten.

»Haut ein Loch in das Eis!«, befahl der Gouverneur.

Ich konnte einen Schrei des Entsetzens nicht zurückhalten; ich fing an zu begreifen.

»Ach!«, murmelte der Greis mit einem Ausdruck, der dem Lächeln eines Skeletts glich, »so erinnert sich die Kaiserin doch nach meiner, ich glaubte, sie habe mich schon vergessen!«

Von welcher Kaiserin sprach er? Drei Kaiserinnen waren einander schon gefolgt: Anna, Elisabeth und Katharina. Er glaubte wohl noch, unter einer derselben zu leben.

Die Soldaten hatten das Eis zerhauen, das Wasser trat heraus.

»Steigt nun aus«, befahl der Gouverneur. Der Greis gehorchte, kniete auf dem Eise nieder und betete.

Der Gouverneur gab den Soldaten leise einen Befehl, dann setzte er sich neben mich, denn ich hatte den Schlitten nicht verlassen.

Nach einer Minute stand der Greis wieder auf und sprach: »Ich bin bereit.«

Die vier Soldaten ergriffen ihn – ich wendete die Blicke ab und hörte einen Körper in das Wasser fallen. Der Greis war verschwunden. Meiner kaum mehr mächtig, rief ich dem Kutscher zu: »Paschol! Paschol! (Fort, fort!)«

»Stoi! (Halt)«, rief der Gouverneur, »es ist noch nicht alles geschehen.«

»Was ist noch zu tun?«, fragte ich.

»Zu warten.«

Und wir warteten eine halbe Stunde, dann sprach einer der Soldaten: »Das Loch ist wieder zugefroren, Exzellenz!«

»Jetzt fahr zu«, rief der Gouverneur.

Wir flogen so schnell fort, als ob die Pferde selbst sich beeilt hätten, den schrecklichen Ort zu verlassen. In zehn Minuten kamen wir zur Festung, wo ich meinen Führer fand, und in fünf Minuten nachher öffnete sich mir die Tür zum Kaiser wieder.

Er war ganz angekleidet, sowie ich ihn verließ.

»Nun?«, fragte er.

»Ich habe gesehen, Euer Majestät!«

»Du hast gesehen? Gesehen?«

»Belieben Sie mich anzublicken, Sire, und Sie werden nicht zweifeln.«

Mir gegenüber hing ein Spiegel. Ich sah mich darin. Ich war so bloß, meine Züge so entstellt, dass ich mich selbst kaum erkannte.

Der Kaiser starrte mich an, dann nahm er ein Papier vom Schreibtisch, reichte es mir und sprach: »Ich gebe dir zwischen Treitza und Pereslaw einen Grundbesitz mit 500 Bauern. Reise diese Nacht noch ab, und komme nie mehr nach Petersburg. Wenn du plauderst, so weißt du, wie ich bestrafe. Geh!«

Es ist zum ersten Mal, dass ich diese Geschichte erzähle.

Ende