Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Plauderstube – Die Geschichte des Strandwächters

Die Geschichte des Strandwächters

Um mich zu erholen, hatte ich einen Ausflug an die südliche Küste von Cornwall gemacht und in einem kleinen, nicht weit vom Meer gelegenen Dorf meine Wohnung genommen. Die regelmäßigen Spaziergänge am stillen Ufer und die frische stärkende Seeluft hoben in kurzer Zeit meine geschwundenen Kräfte. Ich dachte bereits ernstlich daran, die Rückkehr anzutreten, als ich die nachstehend geschilderte Begegnung hatte.

Es war ein schöner mondheller Abend und ich stand am Fenster meines Wohnzimmers, die wenigen dort weilenden Fremden beobachtend, welche nun Zeit zu Zeit vorübergingen, als plötzlich der Gedanke in mir erwachte, jetzt, beim Mondlicht, einen Spaziergang über die Klippen des Ufers zu machen. Es war schon oft meine Absicht gewesen, um Gelegenheit zu haben, das eigentümliche und gefahrvolle Leben der englischen Strandwächter etwas näher beobachten zu können. Ich entschloss mich deshalb kurzerhand, dieses schon so lange verschobene Vorhaben endlich zur Ausführung zu bringen.

Eine halbe Stunde lang mochte ich an der Küste entlang geschlendert sein, versunken in den Anblick der tiefblauen Wellen, auf denen hie und da ein weißes Segel im Mondlicht schimmerte, als ich plötzlich einen Schritt hinter mir vernahm und beim Aufblicken einen Mann an meiner Seite gewahrte, dessen dampfende Tabakpfeife mich schnell meinen Fantasien entriss.

Er trug einen großen Lotsenmantel und einen niedrigen Hut, während ein dicker Stock in seiner Hand seine einzige Angriffs- und Verteidigungswaffe zu sein schien. Ich sah sogleich, dass mein neuer Gefährte einer von denjenigen Männern war, deren Leben mich so sehr interessierte. Nachdem wir deshalb den Guten Abend gewechselt hatten, entspann sich eine Unterhaltung zwischen uns. Er begleitete mich auf meinem Spaziergang.

»Es gibt wohl jetzt nicht viel mehr zu tun, als am Strand fortwährend auf und abzugehen?«, fragte ich.

»Nein«, erwiderte er, »es gibt jetzt nicht mehr so viel zu tun, mit in früherer Zeit, wo wir oft schwere Arbeit hatten, und ich – aber sehen Sie sich vor, mein lieber Herr, wohin sie treten!«, rief er plötzlich, sich unterbrechend. »Es ist nicht ohne Gefahr, dicht am Rand der Klippen zu gehen, und wenn sie, was zuweilen geschieht, unter ihrem Fuß nachgeben sollten, so würden Sie unten auf den Felsen zerschmettert werden, wie es vor einiger Zeit einem armen Kameraden von mir erging. Ruhe seiner Seele!«

»Was geschah mit ihm?«, fragte ich. »Stürzte er hier über die Klippen hinab?«

»Nein, er stürzte nicht gerade über die Klippen hinab, und es war auch nicht an dieser Stelle, sondern an der nächsten Klippe, zu der wir kommen. Mein Bezirk hört dort auf, und ich bin etwas vor der Zeit gekommen, sodass mein Kamerad, der mich dort treffen muss, wahrscheinlich noch zehn bis fünfzehn Minuten ausbleiben wird. Wenn Sie deshalb die Geschichte zu hören wünschen, so will ich sie Ihnen an der Stelle, wo sie sich ereignet hat, erzählen. Es wird mir, um die Wahrheit zu gestehen, sehr lieb sein, wenn ich dort in ihrer Gesellschaft bleiben darf, denn es ist für mich ein unheimlicher Ort. So oft ich auch schon dort gewesen bin, so bin ich doch stets froh, wenn ich ihm wieder den Rücken wenden kann.«

Beim Licht des Mondes erreichten wir bald die bezeichnete Stelle, eine kleine Bucht. Nachdem er über die Klippen geblickt hatte, um sich zu überzeugen, ob sein Kamerad sich noch nicht näherte, aber kein Zeichen von ihm entdeckte, nahm er auf einem Stein Platz, worauf ich mich neben ihn setzte, eine Zigarre anzündete und seiner Erzählung zuhörte.

»Vor mehreren Jahren, es mögen ihrer fünf oder sechs sein, kam ein junger Mann, ein Herr wie Sie, hierher, um einige Wochen in unserem stillen Ort zuzubringen. Er war nicht hässlich und hatte sehr kleine und weiße Hände. Die meisten hielten ihn sogar für hübsch, obgleich er um seinen Mund einen Zug hatte, der mir nie gefallen wollte. Er wohnte im Blauen Eber. Von dort verbreiteten sich bald Gerüchte in der Stadt über das wilde Leben, welches er mit einigen anderen jungen Leuten seines Schlages – deren es überall gibt – führte, wie er mit ihnen ganze Nächte hindurch spielte und trank und allerhand großartige Streiche trieb. Allein da er Geld genug hatte und seine Rechnung jede Woche bezahlte, so kümmerte sich Polmarthen, der Hauswirt, nicht darum und ließ ihn treiben, was er wollte. Polmarthen war ein schlauer Mann und verdiente ohne Zweifel ein hübsches Stück Geld an Mr. Hendon; aber dennoch würde es besser für ihn gewesen sein, wenn Letzterer nie in sein Hans gekommen wäre. Seine Tochter, die hübsche Kate, wie sie allgemein genannt wurde, war in der Tat das schönste Mädchen in der ganzen Gegend. Manches Glas war ihr zu Ehren geleert worden und mancher junge Mann würde viel darum gegeben haben, wenn er sich ihrer Gunst hätte erfreuen können. Allein, obgleich sie etwas kokett war, so hatte doch kein anderer Gnade in ihren Augen gefunden als Ralph Tregarva, – ein so netter, junger Mann, wie es je einen gab. Die Leute wunderten sich oft darüber, dass der alte Polmarthen seiner Tochter erlaubt hatte, sich mit dem jungen Tregarva zu verloben, der nur ein Fischer war; aber der alte Mann, obgleich er das Geld liebte, hatte seine Tochter doch noch lieber und ihren Wünschen nachgegeben, wenn auch nicht ohne einige Schwierigkeiten. Es dauerte jedoch nicht lange, nachdem Mr. Hendon hierher gekommen war, und wenn Ralph kam, um sie aufheitern wollte, so antwortete sie in ärgerlichem Ton, worauf sie häufig in eine Flut von Tränen ausbrach, ihn umarmte, um Verzeihung bat und sagte, er sei der beste, bravste Mann und sie sei seiner nicht wert. Ralph war ein guter Freund von mir. Aus seinem eigenen Munde erfuhr ich damals diese Einzelheiten.

Eines Abends war ich in meiner Hütte und schickte mich an, meinen Bezirk zu begehen, als Tregarva, bleich wie der Tod und kaum fähig, sich auf den Füßen zu halten, hereingestürzt kam.

›Mensch, was ist dir?‹, fragte ich. ›hast du ein Gespenst gesehen?‹

Ohne zu antworten, sank er auf einen Stuhl, legte den Kopf zwischen beiden Händen auf den Tisch und begann so furchtbar zu schluchzen, dass sein ganzer Körper erschüttert wurde. Ich stand eine Zeit lang neben ihm, während derer sein Zustand immer schlimmer zu werden schien. Endlich legte ich meine Hand auf seine Schulter und sagte: ›Ralph, sei ein Mann! Was soll das bedeuten?«

Wie ein Tiger wandte er sich nach mir um und rief: ›Lass mich zufrieden! Geh zum Teufel! Willst du mich auch verhöhnen?« Er sprang wie ein Wahnsinniger mit einem Satz zur Tür hinaus.

Eilig und in großer Unruhe folgte ich ihm, aber ich konnte ihn nicht entdecken. Ein Nebel stieg auf, der selbst die näheren Gegenstände verbarg und bange Ahnung erfüllten mich, während ich an jenem Abend meinen Wachdienst verrichtete. Als ich in meine Hütte zurückkam, fiel mir ein auf dem Fußboden liegendes Blättchen Papier auf. Es erklärte alles, denn es war ein Brief von Hendon an Kate, der augenscheinlich in großer Eile geschrieben und von krampfhaften Fingern zerknittert worden war. Ohne Zweifel hatte ihn Ralph im Zimmer fallen lassen, aber auf welche Weise er in seinen Besitz gelangt war, weiß ich nicht. Der Inhalt ließ mir keinen Zweifel. Hendon drängte darin Kate, das Dorf zu verlassen, ehe ihr Zustand bemerkbar werde und versprach für sie zu sorgen. Bald erfuhr ich noch mehr. An demselben Abend verschwand Kate und ihr Schlafzimmer wurde am anderen Morgen leer gefunden. Worüber andere sich wunderten, aber nicht ich, war der Umstand, dass ihr Vater keine Nachforschungen nach ihr anstellte. Er wusste nur zu gut, aus welchem Grund seine Tochter sich entfernt hatte. Hendon blieb im Dorf, um wahrscheinlich dadurch alle Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken, da er nicht wusste, dass sein an Kate gerichtetes Schreiben gefunden worden und dessen Inhalt mir und Ralph bekannt war. Wir bewahrten beide Schweigen darüber, denn was hätte es genutzt, die Schande des armen Mädchens zu veröffentlichen? Drei Tage lang war Ralph unsichtbar; dann ging er wieder an seine gewohnte Arbeit, sprach aber nie ein Wort über das Geschehene. Auch in seinem ganzen Wesen war eine große Veränderung vorgegangen. Sein Gesicht sah abgehärmt aus, die Züge waren wild und an Stelle der früheren Heiterkeit war eine finstere Verschlossenheit getreten. Selbst mit mir sprach er nie. Ein paar Male versuchte ich es, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen, aber erweckte dadurch eine solche Wut bei ihm, dass ich von ihm ablassen musste.

Jetzt komme ich zu der traurigsten Stelle meiner Geschichte. Sie sehen, dass die Bucht unten zur Zeit der Flut ganz mit Wasser bedeckt ist? Gut. Es war an einem Septemberabend, gegen elf Uhr, zur Zeit der steigenden Flut, als ich meinen Bezirk beging, und der Mond schien hell, wie heute. Ich schritt am Rande der Klippe entlang, denselben Weg, den wir heute gefolgt haben, als ich unten, in der Nähe des Ufers, welches vom Wasser schon fast ganz bedeckt war, eine Stimme zu vernehmen glaubte. Erstaunt blickte ich über den Rand der Klippe hinab und gewahrte dort eine Gestalt, die angstvoll umherlief und um Hilfe schrie. Ich erkannte deutlich Hendons Stimme. Er rief mit aller Macht: ›Holla, holla! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Die Flut hat mich abgeschnitten – ich kann nicht schwimmen – schickt mir ein Boot! Um Gottes willen, helft mir, helft mir!‹

So war es auch. Wahrscheinlich gedankenlos umherschlendernd, hatte er auf dem Sand der Bucht zu lange verweilt und war von der steigenden Flut abgeschnitten worden. Es musste aber schon länger als vor einer Stunde geschehen sein, und seitdem hatte er unter Todesangst in dem immer zunehmenden Wasser gestanden. Was war zu tun? Ein Seil führte ich zwar, wie immer, bei mir, allein es war kaum zehn Ellen lang und also von keinem Nutzen. Die Klippe konnte ich nicht hinabklettern, da es sicheren Tod gewesen wäre, und wenn ich meinen Bezirk hätte verlassen wollen, um Hilfe herbeizuholen, so wäre er sicher vorher ertrunken, ehe ich zurückkommen konnte. Während ich noch zauderte, ließ sich ein Schritt hinter mir hören und Ralph Tregarva stand an meiner Seite.

›Ich kann die Klippe hinabsteigen«, sagte er in dem finsteren abgemessenen Ton, der ihm seit dem unglücklichen Ereignis mit seiner Braut eigen war, während jedoch zugleich ein wilder Triumph daraus hervorzuleuchten schien, vor dem ich unwillkürlich schaudern musste. ›Ich will gehen; gib mir das Seil.‹

›Mein Gott!‹, rief ich, um ihn abzuhalten, ›das ist ja gewisser Tod!‹

Er riss mir das Seil aus der Hand, ließ sich über den Rand der Klippe hinab und begann mit Händen und Füßen abwärts zu klettern, indem er sich an jeden Zweig, an jedem Grasbüschel klammerte, der ihm einen Halt bot. Mir wurde schwindelig, als ich ihm nachblickte. Ein Fehltritt und er musste unten im eigentlichsten Sinne des Wortes, zerschmettert auf den Felsen liegen. Aber es schien, als ob ein schützender Zauber über seinem Leben waltete, denn einer Eidechse gleich kroch er tiefer und tiefer hinab, bis er nur noch zehn oder zwölf Fuß von dem Grund entfernt und anhielt. Hier lag eine ebene Felsplatte, auf die er sich niederließ. Die Nacht war still, und ich konnte sie so deutlich sprechen hören, wie Sie.

›Mit Hendon!‹, rief er.

›Ach, Gott sei Dank, kommen Sie endlich!‹, war Hendons Antwort. ›Ich bin hier. Wie kann ich Sie erreichen.«

›Ich habe ein Seil bei mir; wenn ich es Ihnen zuwerfe, werden sie hier heraufsteigen können?‹

›Ja, ja, nur schnell, schnell! Die Flut ist schon bis über meine Knie gestiegen und ich bin halb tot vor Kälte.‹

›Ganz richtig‹, antwortete Tregarva in höhnischem Ton.

›Schnell, schnell! Spotten Sie meiner nicht oder ich muss ertrinken!‹

›Oh, Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit mit dem Ertrinken!‹, versetzte Tregarva mit teuflischem Lachen.

›Ach, seien Sie barmherzig und werfen Sie mir das Seil zu!‹, rief Hendon in Todesangst.

›Barmherzig?‹, wiederholte Tregarva. ›Ja so barmherzig, wie du gewesen bist, Schurke! Wo ist Kate Polmarthen?‹

›Ich weiß es nicht, gewiss, ich weiß es nicht. Schnell, schnell, das Wasser ist schon über meinen Knien!‹

›Lügner und Bösewicht!‹, entgegnete Ralph, ohne auf seine flehenden Bitten zu achten. ›Ich habe mein Leben gewagt, um hierher zu kommen. Glaubst du, es geschah, um dich zu retten? Nein, nur um Rache zu nehmen! Nie sollst du wieder lebend von hier fortkommen. Höre mich an! Als ich ihre Flucht erfuhr, war ich einer der Ersten, der zu ihrem Haus eilte. Ihr Vater fand einen Brief von dir, worin du ihr sagtest, wohin sie gehen sollte, und wo du sie treffen würdest. Sie hat ihn in der Eile fallen lassen; aber nie sollst du sie in diesem Leben wiedersehen. Lügner und Verführer, deine letzte Stunde ist gekommen! Ich brauchte dir nur dieses Seil zuzuwerfen, und du wärest gerettet. Dein Leben ist in meiner Hand; aber hätte ich tausend Leben zu verlieren, so würde ich sie alle hingeben, um dich züchtigen zu können!‹

›Gnade, Gnade!‹, schrie Hendon von Neuem.

›Gnade?‹, wiederholte Ralph abermals. ›Ja, solche Gnade, wie sie das wilde Tier für seine Beute hat, soll dir auch zuteil werden! Du sollst in deinen Sünden sterben, Elender; und während das Wasser höher und höher steigt, magst du an sie denken, deren Seele und Körper du gemordet hast, – und an mich, dessen Frieden und Lebensglück du zu boshaftem Übermut vernichtet hast. Gnade? Nimmer!‹

Ich wünschte, die grässliche Szene vergessen zu können, welche nun folgte. Der unglückliche Hendon, den die immer höher steigenden Wogen fast mit Gewalt von dem schwachen Halt hinwegrissen, den er an einer vorspringenden Felsspitze gewonnen hatte, klammerte sich in Todesangst daran und mischte Gebete und Lästerungen untereinander, während Tregarva beim Anblick seiner Leiden ein gellendes Triumphgeschrei ausstieß. Endlich kam der letzte Moment. Eine berghohe Welle nahte und riss Hendon mit sich fort, dessen Todesschrei noch immer in meinen Ohren klingt. Einen Augenblick lang war sein bleiches Gesicht noch auf dem Schaum der Wellen sichtbar, aber im nächsten wurde er mit furchtbarer Gewalt gegen die Felsen geschleudert und dann als ein blutender und zerschmetterter Leichnam fortgespült.

Als alles vorbei war, begann Ralph die Klippen wieder emporzusteigen; allein dieses Mal war sein Fuß nicht sicher und glücklich, denn an einer gefährlichen Stelle glitt er aus. Eine Stunde lang hing er an einem Strauch, den er erfasst hatte, aber dann gaben die Wurzeln desselben unter dem Gewicht seines Körpers nach. Er stürzte in dasselbe Grab hinab, dem er sein Opfer überwiesen hatte. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Hendons Körper dagegen spülte das Wasser in einiger Entfernung an das Ufer. Die Totenschau wurde über ihn gehalten, bei der ich der einzige Zeuge war. Der Wahrspruch des Coroners lautete auf Mord gegen Tregarva. Die arme Kate und ihr Kind schlummern auch nebeneinander auf dem Kirchhof.

Können Sie sich jetzt wundern, dass ich nicht gern hier an diesem Ort allein bin? Aber dort sehe ich meinen Kameraden kommen, es ist gerade die rechte Zeit. Also gute Nacht, mein Herr!«

»Gute Nacht!«, erwiderte ich und kehrte auch sinnend und in trüber Stimmung in meine Wohnung zurück.