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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Die Bruderschaft der Weißen Väter – Teil 4

Eine Eule schrie auf einem Baum in der Nähe und scheuchte Steele aus seinen Erinnerungen. Er rührte sich unter seiner Decke aus Waldboden und hatte für einen Moment die Empfindung, diese ganze Erinnerung nur geträumt zu haben. Alles nur ein übler Traum.

Aber nein, so war es gewesen. Jeder Minute konnte er sich zurückrufen: der Container, die Zeit in einer Zelle, in der er sich langsam erholt hatte bis zu seiner Flucht.

Kein Zweifel möglich, kein Zweifel notwendig. Notwenig war jetzt etwas Schlaf und für den morgigen Tag würde sich das Notwendige finden.

 

Drei Tage später wartete Steele in einem kleinen Park in der Nähe der Piazzale Donatello.

Er war lange vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt, setzte sich auf eine gusseiserne Bank und lauschte dem entfernten Rauschen des Verkehrs. Er fühlte sich ziemlich matt. Auf die Dauer war es wohl anstrengend den heiligen Boden Italiens mit fremdem und vor allem eigenem Blut zu besprenkeln. Seine Gedanken verweilten aber nicht lange bei solchen gesundheitlichen Problemen. Vielmehr kreisten sie um einen Russen, der den schönen Spitznamen Akula trug, was Hai bedeutete und gewisse Rückschlüsse auf seinen Ruf in der Branche zuließ. Akula hatte eine Verbindung zu der Frau, dies war nach Steeles Informationen absolut gesichert. Diese Frau lief unter dem eleganten Namen Lucille Chaudieu herum. Zumindest schien dies die von ihr selbst gewählte offizielle Bezeichnung zu sein, aber Steele selbst hatte so viele Pässe mit so vielen Namen, dass er dem keine größere Bedeutung mehr beimaß.

Steele hatte in seiner eigenen Mischung aus notwendiger Brutalität und wünschenswerter Höflichkeit bald genügend Hinweise aus diversen Mitmenschen herausgeholt, um am Morgen des Tages Lucille Chaudieu aufzuspüren. Er hatte so viele Scherben hinterlassen, dass er sich beeilen musste, bis das Gerücht von dem Verfolger unweigerlich zu ihr gedrungen sein würde.

Er lauerte vor dem Hotel, in das sie in ihrer offiziellen Stewardessenuniform hineinstöckelte.

Selbst Steele musste sich eingestehen, dass sie auf den Normalmann wirken musste wie eine Doppelportion Viagra. Eine knappe Viertelstunde später bemerkte er eine Person, die den Personaleingang des Hotels benutzte und schnell die Straße herunterging. Fast zu spät erkannte Steele, dass es tatsächlich die Chaudieu war. Diesmal allerdings in verwaschenen, nicht allzu eng anliegenden Jeans, einer Lederjacke und einer Strickmütze, die ihr Haar verbarg.

 

Sie wirkte wie eine fingernägelkauende Soziologiestudentin mit lesbischen Neigungen.

Aber Steele erkannte etwas anderes. Schlagartig war ihm klar, was er bisher nur unbewusst vermutete, aber nicht in Worte fassen konnte. Jetzt, als er sah, wie sie sich bewegte, erkannte er es. Sie war die zweite Person, die an dem Überfall im Wald teilgenommen hatte. Sie hatte ihm ein Päckchen mit Verbandsmaterial zugeworfen und ihn gehen lassen. Diese neue Erkenntnis halt Steele in seinen Überlegungen nicht weiter. Im Gegenteil, sie verwirrte ihn und war bestenfalls geeignet, die Verbindung zu Akula noch wahrscheinlicher zu machen.

Nachdem sich Steele, diesmal auf äußerst diskrete Art, vergewissert hatte, dass Lucille Chaudieu ihr Hotelzimmer nur bis zum Morgen des kommenden Tages gemietet hatte, war für Steele klar, dass er ihr – oder zumindest ihrem Zimmer – einen abendlichen Besuch abstatten musste. Zu diesem Zweck hatte er sich schon ein Zimmer gemietet, das in strategisch günstiger Nähe zur Schlafstätte der Chaudieu lag.

 

»Ich schäme mich fast, Sie aus Ihren Gedanken zu reißen«, sagte Arial Famagusto zur Begrüßung. Tatsächlich hatte Steele das charakteristische Tappen des Stocks vernommen, hatte aber nicht die notwendige Folgerung Aufschauen und Blickkontakt suchen gezogen.

»Es waren keine besonders wichtigen Gedanken.«

»In einer gedankenlosen Zeit wie der unseren ist wohl jeder Gedanke von Wichtigkeit. So eine Art Aufstand des Geistes.«

Famagusto ließ sich bedächtig neben Steele nieder. Durch seine zeremonielle Art wirkte es, als würde er hinter einem Schreibtisch Platz nehmen, auf dem wichtige Dokumente zur Entscheidung warteten. Sorgfältig stelle er seinen Stock neben sich und hob dann einen Lederkoffer auf die Knie. Nachdem er sich durch einen schnellen Blick vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, ließ Famagusto die Schlösser zurückschnappen und öffnete den Koffer. Im Inneren, auf rotem Samt gebettet, lag die Waffe.

Famagusto gab den Koffer an Steele weiter. Als Steele das Gewicht des Koffers auf den Knien spürte und das seidige Glänzen der Nachmittagssonne auf dem makellosen Lauf bemerkte, durchfuhr ihn eine lange vermisste Empfindung. Es war pure Begierde, die in seinen Augen glitzerte und die auch, da war er sich sicher, Famagusto, der sich ihm zugewandt hatte, nicht entgangen sein konnte.

»Wunderschön«, sagte Jeremy Steele.

Für eine Waffe ihres schweren Kalibers wirkte sie erstaunlich elegant, fast zierlich. Bevor sich Steele eingehend mit der Mechanik befassen konnte, deutete Famagusto auf die Griffschale.

»Sie sehen das Wappen? Können Sie es lesen?«

In das schwarze Metall war mit feinen Silber- und Goldfäden das Bild eines Tieres eingelegt.

Es lag auf dem Rücken und aus seiner Herzgegend entstieg ein chimärisches Wesen mit Adlerkopf, Hahnenkamm und Löwenklauen. Steele erkannte sofort, welchen Sinn der Waffenmacher in dieses Wappen gelegt hatte. Das liegende, tote Tier war ein Ozelot – das alte Symbol der Reinheit. Und das Ungeheuer, das ihm entstieg, war ein Basilisk. Das Tier, das mit Blicken tötet.

»Der Tod der Unschuld gibt den Monstern das Leben«, sagte Steele. Seine Lippen fühlten sich trocken an.

»Ich hätte es nicht besser formulieren können? Sind Sie einverstanden?«

Als Antwort konnte Steele nur kurz nicken. Was wusste dieser Mann? War er, Jeremy Steele, zu geschwätzig gewesen? Oder stand ihm vielleicht auf der Stirn geschrieben, lesbar für jeden, welches Geschick ihn in dieses Leben getrieben hatte? Was auch immer es war, hier war der Kommentar vor seinen Augen, in Form eines unglaublich kunstvollen Wappens, das die besten Künstler der Renaissance neidisch gemacht hätte.

 

Famagusto nahm den Koffer zurück, klappte ihn zu, verschloss ihn sorgfältig und stellte ihn zwischen seine Beine.

»Es gibt noch eine Sache zu erledigen. Es tut vielleicht etwas weh, aber das sollte Sie nicht weiter schrecken.«

Er holte eine Spritze aus der Tasche und griff, nach einem weiteren prüfenden Rundblick nach Steeles Hand.

»Halten Sie den Zeigefinger bitte ruhig, damit ich den Chip richtig platzieren kann. Er ist winzig, und Sie werden ihn nach ein, zwei Tagen nicht einmal mehr bemerken. Möglicherweise ist er als dunkle Verfärbung unter der Haut zu sehen. Sie brauchen aber keine Angst zu haben, dass er sich aus der Position verschiebt. Nach kurzer Zeit wird er von Gewebe eingekapselt. Das berührt seine Funktion natürlich nicht. Und nun bitte auch den linken Zeigefinger, wir wollen ja kein Risiko eingehen.«

Steele zuckte nicht einmal mit den Lidern, als die Stahlnadel in seinen Finger geschoben wurde.

 

Nachdem er seine Operation beendet hatte und Steele mit geradezu väterlicher Fürsorge ein getränktes Tuch für die Desinfektion gereicht hatte, erhob sich Famagusto.

»Seien Sie morgen um 10 Uhr vormittags an dieser Stelle und bringen Sie einen kleinen Koffer mit den notwendigen Dingen für einen Aufenthalt von zwei bis vier Tagen mit. Wir fahren zu meinem Landhaus. Dort werde ich die letzten Verfeinerungen und Einstellungen an der Waffe vornehmen. Sie können sie dort auch einschießen. Also, bis morgen.«

Mit einer höflichen Verbeugung entfernte sich Famagusto. Für Steele war klar, dass er sich nun als würdiger Benutzer der Waffe erweisen musste. Es lag so etwas wie die letzte Prüfung vor ihm, bevor er sich des Besitzes sicher sein konnte. Bis dahin gab es aber noch etwas zu tun.

 

Steele bezog sein Hotelzimmer – er trat als älterer niederländischer Kaufmann auf und unterstrich diese Nationalität mit diversen Wattepolstern um den Leib und den betulichen Bewegungen des Wohlbeleibten, die er mit hörbarem Schnaufen unterstrich.

In seinem Zimmer wartete er auf den Einbruch der Dämmerung und beobachtete die Straße. Sein Balkon lag direkt neben dem Balkon, der zu Lucille Chaudieus Zimmer führte.

Sie hatte die Tür offengelassen. Ein kleiner Anlauf, ein Satz auf die Balkonbrüstung und ein Hechtsprung konnten ihn leicht auf den Nachbarbalkon bringen. Steele musste nur drei Meter Luft überwinden und ein gehöriges Maß an gelenktem Wahnsinn aufbringen, was ihm beides nicht allzu schwer fiel. Als er sicher war, dass sie sich Lucille Chadieu nicht in ihrem Zimmer aufhielt und dass zudem ein zufällig hochblickender Passant nicht bemerken würde, dass im zehnten Stock sich ein Mann anschickte, auf unübliche Weise die Räume einer Dame zu betreten, begann Steele mit den Vorbereitungen für den Sprung. Er lockerte die Glieder, machte einige Anläufe zur Probe und riskierte es dann. Der Sprung war zu kurz, um sich am Geländer festzuklammern. Seine Hände glitten ab, seine Fingernägel kratzten über den Beton und wurden fast abgerissen, dann fand er Halt an der Bodenplatte des Balkons. Für einen Moment baumelte Steele im Nichts, seine Beine hingen vor den Fenstern der unteren Etage.

Er schwang einige Male zur Seite, holte Schwung und warf sich dann hoch. Seine Schuhe klemmten sich zwischen Boden und Geländerunterrand. Nun war es eine Sache von Sekunden, sich am Geländer hochzuziehen, über die Brüstung zu springen und durch die Tür in das Zimmer Lucille Chaudieus zu gleiten.

 

Der Parfümduft, der in der Luft lag, machte sofort klar, dass eine Frau diesen Raum belegt hatte. Und es war ein solcher Duft, dass es jedem, der ihn spürte, deutlich wurde, dass es sich nur um eine schöne, eine sehr schöne Frau handeln konnte. Die schöne Frau hatte ihre Wäsche im gesamten Raum verteilt. Entweder war sie schlampig oder sie hatte es eilig gehabt – oder sie stand weit über solch profane Dingen wie Ordnung. Routiniert durchsuchte Steele den Raum, forschten in allen potenziellen Verstecken und fand nichts, was ihn interessierte. Ihm war klar, dass die Wahrscheinlichkeit etwas zu finden, gleich null war, einfach deswegen, weil diese Chaudieu wichtige Unterlagen nicht unbedingt in Hotelzimmern deponieren würde.

Was er suchte, waren Nebensächlichkeiten – Fahrkarten, Taxiquittungen, Fahrpläne. Nichts dergleichen war zu finden. In Steele formte sich der Verdacht, dass er im falschen Zimmer sein könnte. Er überlegte kurz, dann zog er sich in eine dunkle Ecke des Raumes zurück. Die Dame musste zum persönlichen Gespräch gebeten werden.

 

Lange musste Steele nicht warten. Dann vernahm er das Geräusch der Aufzugtüre, die sich öffnete und den Klang schneller Schritte. Die Karte wurde in den Schlitz gesteckt und die Tür sprang mit einem leichten Knarren auf. Lucille Chaudieu trug immer noch Jeans und Lederjacke. Sie wirkte müde und abwesend, fast als wäre sie schon in einen Halbschlaf gefallen.

Selbst wenn sie hellwach gewesen wäre, hätte sie kaum auf den leichten Luftzug reagiert, der das einzige Anzeichen war, das das Kommen Jeremy Steeles erahnen ließ.

Er drückte ihr eine Hand auf den Mund, mit der anderen fixierte er Chaudieus Arm. Er zerrte sie in die Zimmermitte. Inzwischen hatte sich Lucille Chadieu von ihrem Schreck erholt und trat wie wild geworden um sich. Steele verdreht ein wenig ihren Arm, gerade genug, um sie mit einem Wimmern nach vorne abknicken zu lassen. Dann packte er einen Stuhl, lehnte ihn in starker Schräglage gegen die Ecke einer Wandnische und hob die wimmernde Frau darauf.

»Es gibt jetzt zwei Varianten«, erklärte Steele in sachlichem Ton. »Variante Eins: Sie schreien und wehren sich. Dann werde ich diese Feuerwaffe gegen Sie richten und Sie töten. Das wäre nicht unbedingt im Sinne meiner Absicht oder Planung, aber Sie sollten nicht einen Augenblick daran zweifeln, dass ich es tue. Schön, nun zur Variante Zwei: Sie schreien nicht und Sie wehren sich nicht, sondern beantworten mir einige Fragen. Dann beende ich meinen Besuch in zehn Minuten und Sie werden mich nie wiedersehen. Ich werde Sie zum Abschied fesseln und knebeln müssen, aber sie können sicher sein, dass ich in kürzester Zeit der Rezeption telefonisch auf Ihre missliche Lage aufmerksam machen werde. Sie haben die freie Wahl.«

 

Steele schaute in ihre Augen. Sie hatte schöne dunkle Augen, und in ihnen funkelte jetzt so viel Wut, dass es schien, als hätte jemand die Deckel von einem Bassin genommen, in dem der pure Stoff des Hasses lagerte. Diese Erkenntnis beruhigte Steele. Wer solche Gefühle in sich trägt, lässt sich nicht wegen einer vergleichsweisen Lappalie erschießen. Vorsichtig nahm Steele die Hand vom Mund der Frau. Sie holte tief Luft, fauchte ihn dann an, aber machte keine Anstalten, durch Schreie Hilfe zu holen. Steele ging rückwärts zu einem Sessel und legte seine Waffe auf die Lehne. Der Abstand zwischen ihm und Chaudieu betrug drei oder vier Meter. Bis sie in der Lage gewesen wäre, sich aus der Schräglage des Stuhles herauszuarbeiten und zu ihm zu kommen, hatte er mehr als genügend Zeit, seine Waffe in Anschlag zu bringen. Lucille Chaudieu verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte fast wie ein ärgerlich schmollendes Kind.

»Der Herr liebt es gemütlich, ja?«

»Warum sollten wir es uns schwerer machen als nötig?«

»Warum springen Sie nicht aus dem Fenster, das wäre Ihr Beitrag zur Verbesserung des Meublements!«

Es war nicht unbedingt Steeles Art von Humor, aber eine Frau, die in so einer Situation derart patzig werden konnte, nötigte ihm unwillkürlich Respekt ab.

Lucilles Blicke fielen auf die blutigen Fingernägel von Steele. »Da hat die Maniküre aber gewaltig geschlampt«, höhnte sie.

»Nebensache. Natürlich lassen sich meine Fingernägel nicht mit den Ihren vergleichen.«

»Was passt Ihnen an meinen Fingernägeln nicht?«

»Oh, die beiden Nägel des linken kleinen Fingers und des Ringfingers erscheinen mir etwas künstlich.«

»Möchten Sie nähere Bekanntschaft machen?«

»Ich habe die Wirkung am Objekt studieren können. Zumindest bin ich jetzt sicher, dass Sie dem Mann mit Ihren Nägeln das Augenlicht geraubt.«

»Das Augenlicht geraubt! Ich habe mich verteidigt. Sonst hätten mit diese Kanaillen einiges andere geraubt und zuletzt das Leben.«

»Klingt plausibel.«

»Sie sind also der Typ, der hinter mit her ist, seit Wochen.«

»Falls Sie meinen, dass ich hinter Ihnen hergepfiffen hätte, nein, das war ich nicht …«

»Aber Sie haben einem Bekannten vorgestern die Finger gebrochen.

»Sie sollten sich Ihre Bekannten sorgfältiger aussuchen. Cocktail-Mixer in bestimmten Bars taugen nicht als Bekanntschaft. Im Übrigen habe ich ihm nicht die, sondern nur zwei Finger gebrochen. Je einmal Zeigefinger links und rechts. Und dies als Erinnerung daran, dass man nicht im Rücken von Gästen eine Knarre zieht, bloß weil die ein paar Fragen stellen.«

»Ihre Art Fragen zu stellen, habe ich inzwischen kennengelernt.«

»Seien sie sicher, Fräulein, dass sie meine Art, Fragen zu stellen noch in keinster Weise kennengelernt haben. Aber fangen wir einfach mal an. Was ist mit Akula?«

»Was soll damit sein?«

»Passen Sie auf, Gnädigste, bisher haben wir nett miteinander geplaudert. Aber beachten Sie die Spielregeln. Glauben Sie nicht, es würde mir Probleme machen, Ihnen diverse Knochen zu brechen, falls das Ihre Aussagebereitschaft steigert. Gewalt gehört zu meinem festen genetischen Programm. Wissen Sie, ich kann damit umgehen. Und da ich an die Emanzipation glaube, haben Frauen bei mir die gleichen Rechte und Pflichten.«

 

Einige Sekunden lang herrschte Stille. Durch die offene Balkontür drangen Verkehrsgeräusche. Lucille Chaudieu holte tief Luft. »Akula ist der Name eines russischen Atom-U-Bootes. Oder vielleicht auch einer U-Boot-Serie, ich weiß es nicht ge …«

»Akula ist ein Spitzname. Ich will keine Marinekunde betreib …«

»Lassen Sie mich gefälligst ausreden, wenn Sie schon was wissen wollen. Akula war der Spitzname eines Russen, der sich illegal in Italien aufhielt. Er hatte auf einem dieser Boote gearbeitet und gab sich als Atomexperte aus. Wahrscheinlich hatte er nicht allzu viel Ahnung, aber es reichte für den Hausgebrauch.«

»Für krumme Geschäfte?«

»Da denkt ja einer mit – natürlich, was sonst.«

»Was für Geschäfte genau?«

»Sehe ich aus wie der Geheimdienst?«

»Sachte, mein Fräulein, wir wollen doch immer sachlich bleiben. Also!«

»Er baute ein Labor auf.«

»Weiter!«

»Weiter ist nicht.«

»Doch. Ich will wissen, warum er mit Ihnen zusammen ein halbes Dutzend Männer einschließlich sich selbst umgelegt hat.«

 

Vor Verblüffung schwieg Lucille Chaudieu eine Weile. Sie hatte Steele nicht wiedererkannt.

»Also, Gnädigste, was war mit Akula und Pjotr?«

»Die beiden hatten sich auf dem Boot kennengelernt und hatten so eine Art Brüderschaft geschlossen. So richtig auf die harte russische Art, mit viel Gefühl und Seele und auf immer und ewig. Als sie aus der Marine entlassen wurden, kamen sie auf die schiefe Bahn. Pjotr wurde in Italien getötet, und Akula rächte ihn. Dass er sich selbst umbringen würde, war nur logisch. Wenn einer geht, muss der andere auch gehen … so hatten sie es sich versprochen.«

»Warum musste Pjotr dran glauben?«

»Er hatte versucht, einen Gegner zu betrügen, der sich nicht betrügen lässt und Material abgezweigt.«

»Für wen abgezweigt?«

»Mafia? Nehme ich mal an.«

»Und wer wollte sich nicht betrügen lassen?«

»Der Name sagt Ihnen nichts.«

»Damit kann ich leben.«

»SSI.«

»Also Francois de Montalban?«

»Die Welt ist klein.«

»In der Tat. Ungünstig für den, der sich verstecken will. Wie sind Sie mit Akula zusammengekommen?«

»Zufall. Ich schnüffelte ein wenig hinter der SSI her. Ich kenne Montalban. Ich weiß nicht genau, was der Mann will, aber er will etwas – und es ist nichts Gutes.«

»Wie genau kennen Sie Montalban?«

»Bis in die letzte Falte seines Hinterteils.«

 

Nun war es an Jeremy Steele, vor Verblüffung zu verstummen. Als er wieder sprach, kamen die Worte nur zögernd. »Sie sind – ähm – Sie haben – Sie sind …«

»Seine Geliebte, meinen Sie? Stimmt nicht ganz.«

»Was stimmt daran nicht?«

Die Aussicht, mit der Geliebten des Francois de Montalban in einem Zimmer zu sein, passte Steele so wenig ins Konzept wie eine Einladung zur Krokodilfütterung, wenn man als Häppchen auf die Welt gekommen ist.

»Beunruhigt Sie etwas?« Der Hohn in Lucille Chaudieus Stimme war unüberhörbar.

»Ruhe. Ich führe das Verhör!«, herrschte Steele sie an. Hinter der Barschheit seiner Stimme war Besorgnis spürbar.

»Also, Fräulein, was stimmt daran nicht?«

»Man müsste es in der Vergangenheitsform sagen. Ich WAR seine – Geliebte ist das falsche Wort. Montalban und Liebe ist so etwas wie Palmen in der Arktis. Ich habe mich von ihm vögeln lassen. Hat wirklich Spaß gemacht. Er ist ein Könner auf diesem Gebiet.«

»Nicht nur auf diesem!«

»Sie haben ihn also schon in Aktion erlebt? Erstaunlich, dass Sie das überlebt haben.«

»Da stimme ich zu. Absolut erstaunlich.«

»Und vermutlich von Montalban geplant.«

»Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?«

»Weil ihm keiner entwischt, den er haben will. Mit einer Ausnahme.«

»Mit zwei Ausnahmen. Und es war nicht geplant. Aber ich gebe zu, ich hatte mehr Glück als Verstand.«

»War es Glück?« Das Wort nahm in diesem Augenblick eine andere Bedeutung an, und Steele kämpfte gegen eine Flut von Erinnerungen, die ihm sagen wollten, was Glück eigentlich war.

»Kein Glück. Ich habe Zufälle genutzt, mehr nicht.«

»Vielleicht ist Glück nichts als Zufall?« Lucille warf die Haare mit einer unvergleichlichen Kopfbewegung in den Nacken.

»Vielleicht ist das Ende des Glücks auch nichts als Zufall. Ich habe keine Lust, mich auf philosophische Diskussionen einzulassen. Also, warum haben Sie mit Montalban gevögelt?«

»Sie sind vulgär, mein Herr.«

»Wenn nötig. Und wenn nötig, bin ich auch gewalttätig. Also – warum?

»Weil er reich ist, vielleicht?«

»Passen Sie auf Gnädigste, ich habe keine Lust auf Ihre neckischen Spiele. Antwort – oder ich werde ungemütlich.«

»Tut mir leid, die zehn Minuten sind um.«

 

Steele blies die Backen auf und pustete hörbar die Luft aus. Diese Frau war ein ganz besonderes Kaliber.

»Mitnichten, Fräulein. Fünf Minuten. Und ich habe die Uhr, ist das klar?« Ohne sich besonders anzustrengen, machte der Unterton seiner Stimme deutlich, dass es keine Zeit für Scherze war.

»Ich wollte etwas erfahren über Montalban«, antwortete Lucille Chaudieu sehr geflissentlich.

»Was?«

»Dieses und jenes, welche Zahnpasta er benutzt, beispielsweise.«

»WAS???«

»Das geht Sie einen verdammten … Dreck an, klar? Es interessiert Sie nicht.«

»Das entscheide immer noch ich. Ich habe die Pistole und die Munition und den Abzugsfinger. Sie haben nur eine noch recht unbeschädigte Stirn.«

»Es ging um eine Privatsache.«

»Alles im Leben ist Privatsache.« Steele stand mit einem Ruck auf, zog eine Stehlampe näher und bog den massiven Stiel so um, dass das Licht direkt auf Lucille Chaudieu fiel. Er war so schnell, dass sie keine Möglichkeit gehabt hätte, eine Unaufmerksamkeit zur Flucht zu nutzen.

»Bitte, das Licht ist unangenehm.«

»Danke für die Information, dann habe ich die Lampe richtig eingestellt. Also Privatsache?

Was für eine?« Die Lampe warf ein gnadenlos helles Licht auf Lucilles Gesicht, und Steele bemerkte, dass er an einen wunden Punkt kam, der sich hinter ihrer Kratzbürstigkeit verbarg.

»Es ging um – um jemanden, der mir viel bedeutete.«

»Wie viel?«

»Alles.«

»Mann, Frau, Kind oder Tier?«

»Um einen Mann, Sie blöder Trottel.«

»Und Montalban hat etwas damit zu tun, dass Sie ihn verloren haben, richtig?«

»Woher wollen Sie das wissen? Aber es stimmt. So war es.«

»Weiter.«

»Nichts weiter. Er war beim Militär, Montalban war sein Kommandant, und es gab irgendetwas, was ihn – ich rede nicht von Montalban – so fertig machte, dass er den Tod vorzog.«

»Was war das irgendetwas?«

»Keine Ahnung.«

»Nun gut, lassen wir das. Warum sind Sie von Montalban fort?«

»Ich bekam Angst vor ihm. Oder vielleicht hatte ich keine Lust mehr, von ihm zugeritten zu werden wie ein störrischer Gaul. Hören Sie, können wir jetzt Schluss machen? Ich werde Sie nicht anzeigen, ich werde nicht mal um Hilfe rufen, während Sie abhauen, aber ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.«

»Doch, Sie können. Absolut. Und schreien werden Sie so oder so nicht. Warum sind Sie von ihm fort?«

»Ich sagte es doch, hören Sie eigentlich nie zu? Ich hatte Angst vor ihm bekommen und außerdem war es an der Zeit, die Sache, ich meine Montalban und den SSI von außen zu betrachten.«

»Was ist der SSI?«

»Eine Organisation.«

»Das allerdings war mir schon seit Längerem bekannt.«

»Ihnen ist überhaupt nichts bekannt. Und mir auch nicht. Der SSI ist wie die Spitze eines Eisbergs, dahinter stehen ganz andere Interessen und Mächte.«

»Das klingt ja höchst bombastisch.«

»Sie sollten genug wissen, um sich nicht über den SSI lustig zu machen. Dass die ersten beiden Buchstaben an eine andere Truppe erinnern, ist übrigens durchaus gewollt. Sie lieben es. Sie spielen mit diesem Image. Wo wir waren, steht weder ein Haus noch ein Feind, so in der Art.«

»Ich hielt SSI für eine Art von besonderer Spedition?«

 

Lucille stieß ein bitteres Lachen aus. »Klar. Möbelpacker mit Knarre, was? Sie haben keine Ahnung. Ich auch nicht. Aber immer noch mehr als Sie.«

»Sehen Sie und genau das ist der Grund, warum ich es so sehr schätze, mit Ihnen plaudern zu dürfen.«

Lucille funkelte ihn wütend an. Trotzdem war sie sich jetzt sicher, dass dieser Mann ihr nichts antun würde. Zumindest dann nicht, wenn sie nach seinen Regeln spielte. »Sie fragten nach Akula. Er arbeitete mit Leuten zusammen, die Verbindungen zum SSI haben. Pjotr hielt sich nicht an die Verabredungen und zweigte Material ab. Sie legten ihn also um. Das heißt, sie bliesen ihm mit einer Pumpgun die Nüsse weg und ließen ihn liegen.

Verstehen Sie?«

»Doch ja, ich kann mir die Situation vorstellen.«

»Als Akula ihn fand, lebte Pjotr noch. Das machte Akula vollends fertig. So hat er mir das erzählt. Er wollte nur noch Rache für Pjotr.«

»Die hat er genommen. Wie haben Sie ihn kennen gelernt?«

»Wir schnüffelten an derselben Sache. Da lag es nahe, sich zusammenzutun.«

»Wer waren die Typen, die Sie im Wald umgelegt haben?«

»Leute vom SSI.«

»Quatsch. Das waren Söldner.«

»Ich sagte es doch, es waren Leute vom SSI. Wie viele Soldaten hat diese Organisation wohl verfügbar? Oder glauben Sie, die stellen nur Fensterputzer ein? Ich bin allerdings sicher, dass es nicht die eigentlichen SSI-Kämpfer waren, die hätten sich nicht so einfach kalt machen lassen.«

»Wie schön für uns alle. Was wollten Sie im Wald?«

»Weiß ich nicht genau. Ich glaube, sie hatten spitzgekriegt, dass die Konkurrenz, also diejenigen, die das Material von Pjotr bekommen hatten, dort etwas vorhatte. Sie wollten die Mafialeute abfangen, ein wenig befragen und dann umlegen.«

»Dann sind die Mafia und der SSI also Konkurrenten?«

»Blödsinn!! Der Mafia geht es nur um Geld. Dem SSI ist Geld völlig egal. Erstens hat er genug davon, zweitens verbrennen sie das Geld, wenn notwendig, in irgendwelchen Aktionen, die absolut hirnrissig sind – will sagen: scheinen.«

»Welche?«

»Meine Güte, Sie sind lästig. Ich weiß, dass Montalban mal eine Bohrung in der arabischen Wüste organisiert hat. Völlig erfolglos, aber es hatte auch keiner mit Erfolg gerechnet.«

»Aber warum dann diese Aktion?«

»Ich weiß es doch nicht, verdammt! Aber die haben was vor. Irgendwo ist der ganz große Plan, und um den zu erfüllen, setzen sie alles ein.«

»Sagt Ihnen der Name Henri Paul etwas?«

»Nein, das heißt, ich habe ihn schon gehört. Weiß aber nicht, in welchem Zusammenhang.

Was ist mit ihm?«

»Ach nichts. So, zum Abschluss, wer war die andere Ausnahme?«

»Welche andere Ausnahme?«

»Derjenige, der Montalban durch die dreckigen Finger geglitten ist.«

»Der Name sagt Ihnen sicherlich nichts.«

»Das überlassen Sie mal wieder besser mir. Und ich merke, wenn Sie lügen.«

»Ein Mann namens Tony Tanner.«

 

Die Erwähnung des Namens führte zu einer längeren Stille. Steeles Wangenmuskeln begannen zu arbeiten. »Was hat der mit all dem zu tun.«

»Nichts. Gar nichts. Er ist nur ein Opfer, und weiterhin ein Name auf einer Abschussliste. Lassen Sie ihn aus dem Spiel!«

Lucille Chaudieus Augen wurden dunkler als sie das sagte, und eine unbestimmte Art von Schwere machte sich in ihnen breit. Steele sah es und verstand. »Er ist mehr als bloß ein Opfer, seien Sie sicher, Gnädigste!«

»Montalban hat ihn gejagt. Sie haben ihn fast umgebracht. Egal was es ist, er hat mit nichts etwas zu tun, was kriminell ist. Dazu ist er nicht der Typ. Er würde nicht mal einen vergessenen Regenschirm aus einem leeren Zugabteil mitnehmen, weil er das für illegal hielte. Ich kenne ihn.«

»Ich auch.«

»So? Egal wie und woher Sie ihn kennen. Ich kenne ihn besser. Und ich sage Ihnen, er kann keiner Fliege ein Haar krümmen.«

»Diese Diskussion werde ich bei Zeiten mit ihm selbst zu Ende führen. Wo waren Sie heute?«

»Abstecher in die Toskana.«

»Warum? Ich weiß, Sie wollen lügen. Lassen Sie es, es erspart uns Zeit.«

»Montalban hat dort ein Gelände im Visier gehabt. Ich weiß, dass er versucht, an den Besitzer heranzukommen.«

»Warum?«

»Er will das Land. Wozu, das weiß ich nicht.«

»Und wie versucht er es?«

»Auf die übliche hinterhältige Art. Lässt den Besitzer in den Medien als alten Trottel darstellen, inszeniert Unfälle, was weiß ich.«

»Was ist an dem Land so besonders?«

»Nichts. Jedenfalls nichts, was mir bekannt wäre. Aber wenn der SSI es will, dann muss es etwas geben. Vielleicht hat es was mit den Kornkreisen zu tun.«

»Kornkreise?«

»Ja, diese Erscheinungen in Getreidefeldern, auf die alle New-Age-Freaks in der letzten Zeit abfahren.«

»Soso. Letzte Frage: Muss ich Sie knebeln oder versprechen Sie mir, nicht Alarm zu schlagen, wenn ich jetzt gehe? Ich habe übrigens das Zimmer nebenan.«

»Ich nehme an, Sie wollen dort nicht die Nacht verbringen?«

»Richtig. Ich hole ein paar Sachen und dann bin ich verschwunden.«

»Ich habe keine Lust auf Fesselspiele und Komplikationen. Ich will unter die Dusche. Verziehen Sie sich, ich halte den Mund. Aber vorher helfen sie mir von diesem verdammten Stuhl.«

Steele trat auf den Flur. Lucille Chaudieu lehnte gegen die Tür und drückte sie mit ihrem Gewicht zu. Steele streckte noch einmal den Arm aus, hielt die Tür für einen Moment offen.

»Sie sollten sich angewöhnen, Balkontüren zu schließen. Auch im zehnten Stock. Nicht jeder Besucher ist so freundlich wie ich.«

***

Exakt zum verabredeten Zeitpunkt schnurrte eine dunkle Stretchlimousine heran. Das Seitenfenster des Beifahrersitzes fuhr herab und Famagustos Gesicht erschien. Er winkte den etwas verdutzten Steele heran.

»Nehmen Sie bitte hinten Platz. Machen Sie es sich bequem, die Fahrt dauert eine ganze Weile. Seien Sie so freundlich und lassen Sie die Vorhänge zugezogen. Es hat seinen Sinn.«

Also kletterte Steele in den wohnzimmergroßen Rückraum, der durch eine ebenfalls verhangene Glasscheibe von den beiden Vordersitzen getrennt war. Hier lagen sich zwei weiße Lederbänke mit je drei Kontursitzen gegenüber. Zwischen ihnen war so viel Platz, dass sich selbst eine Baseballmannschaft bei ausgestreckten Beinen nicht in die Quere gekommen wäre. Steele wählte einen Sitz in Fahrtrichtung und untersuchte dann die Mittelkonsole aus edlem Bruyere. Er mischte sich einen Cocktail aus Gemüsesaft und Mineralwasser, stellte die Klimaanlage ein, legte eine CD mit Musik von Johann Sebastian Bach ein und legte sich entspannt zurück.

In der Bordbar war kein Alkohol, dafür aber ein halbes Dutzend Flaschen Tomatensaft, die alle den Aufdruck Mit blutbildendem Eisen trugen. Famagusto war ein hervorragender Gastgeber. Und er hatte eine fast unheimliche Einsicht in die Notwendigkeiten. Nach einiger Zeit schaukelten die leisen Fahrgeräusche und das gedämpfte Licht, das durch die Vorhänge drang, Steele in einen tiefen Schlaf.

 

Als er erwachte, stand der Wagen still, und der Motor war nicht mehr zu hören. Steele wartete eine Weile, stieg dann aus und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass sie sich anscheinend schon am Ziel ihrer Fahrt befanden. Seine Uhr zeigte, dass er sechs Stunden geschlafen hatte, aber das sagte noch nichts über die Länge der Fahrt oder die zurückgelegte Entfernung aus. Der Wagen stand vor einem zweistöckigen Bauernhaus. Das Erdgeschoss, gemauert aus großen, grob zurechtgehauenen Feldsteinen, ein Obergeschoss aus dunklem Holz und das breite, weit überstehende Dach mit grauen, verwitterten Holzschindeln, auf denen Wackersteine lagen, verwies eindeutig auf den Baustil einer Bergregion. Steele schaute sich um, konnte aber von der Landschaft wegen des Nebels und der tief hängenden Wolken rein gar nichts erkennen.

 

Es gelang ihm weder, über einen typischen Geruch seinen Aufenthaltsort zu identifizieren, noch gab es eindeutige Geräusche, noch gab es irgendwo eine Pflanze, die typisch für eine bestimmte Landschaft gewesen wäre. Von irgendwoher erklang das raue Krächzen einer Krähenschar, aber auch das brachte Steele nicht weiter. Er holte seinen Koffer aus dem Wagen, steckte die Flaschen mit dem Tomatensaft in seine Taschen und stieg, da er im Erdgeschoss keine Tür entdecken konnte, eine steile Holztreppe empor, die zu einem Eingang im ersten Stock führte. Noch bevor er die letzte Stufe in Angriff nehmen konnte, öffnete sich die Tür und Famagusto erschien. Er trug seine übliche elegante Kleidung, hatte allerdings darüber einen blauen Kittel gezogen, vor den er noch eine Lederschürze gebunden hatte.

 

»Es freut mich, Sie so ausgeruht zu sehen«, begrüßte ihn Famagusto.

»Wie lange steht der Wagen schon hier?«

»Oh, ich denke, wir sollten mit dem Geschenk eines erfrischenden Schlafes zufrieden sein und nicht nach den Bedingungen forschen, die ihn förderten. Um Ihnen weitere Nachfragen zu ersparen – dies ist das, was ich mein Landhaus nenne. Haben Sie die Freundlichkeit und ersparen Sie mir die Unhöflichkeit, auf Ihre Nachfragen zu Platz und Ort schweigen zu müssen. In den nächsten Tagen wird sich der Nebel nicht heben, ich kenne diese Wetterlage, daher können Sie sich auf die Arbeit konzentrieren und brauchen sich durch den Anblick einer Landschaft nicht ablenken zu lassen. Unternehmen Sie auch keine Spaziergänge. Wie Sie sich denken können, ist diese Gegend dünn besiedelt und es wäre tödlich, wenn Sie sich verlaufen würden.«

»Warum?«

»Aus diesen oder jenen Gründen. Sie könnten ertrinken, verhungern, verdursten, in einen Abgrund stürzen oder von einem wilden Tier gefressen werden. Aber was belasten wir unseren Geist mit solchem Schwarzsehen? Treten Sie ein, mein Herr. Stärken Sie sich, dann werde ich Ihnen Ihr Domizil zeigen und dann können wir auch mit der Arbeit beginnen.«

 

Das Essen war schmackhaft und rustikal. Wenn es auch kein sicherer Hinweis war, so erinnerten Steele die Gewürze in dem groben Brot an eine Mahlzeit, die er einst in Südtirol genossen hatte. Es gab keinen Fisch, dafür verschiedene Käsesorten von Rind, Ziege und Schaf, dazu würzigen Schinken und eine Unmenge Rührei. Nicht unbedingt das, was man unter typisch italienischer Küche verstand. Schließlich beschloss Steele, sich den Genuss nicht durch müßige Überlegungen zu verderben.

Er saß in einer niedrigen Stube, die mit ihrer Einrichtung das Glanzstück jedes alpenländischen Regionalmuseums sein konnte. An den Wänden hingen, wohl eher zur Dekoration, bäuerliche Werkzeuge, darunter eine große, zweihändige Holzsäge und ein hölzernes Joch. Hinter einer Zwischenwand, die den Raum in zwei Hälften dieser Person mehr als einen in der Ferne huschenden Schatten zu Gesicht. Es war Famagusto selbst, der Steele bedient und sich zwischendurch mit an den Tisch setzte und bedächtig an einem Glas Rotwein nippte.

»Es ist sicherlich noch nicht die Zeit für einen Wein«, entschuldigte sich der Waffenmacher. »Aber Prinzipien werden erst dann wirklich fruchtbar, wenn man sie von Zeit zu Zeit brechen kann.«

Steele bekam keinen Alkohol angeboten und war zufrieden, da er sich mit Milch und Tomatensaft besser bedient fühlte.

 

Nach dem Essen führte Famagusto seinen Gast wieder aus der Stube, die Treppe hinunter und über den Hof, wo nach einigen Schritten im Nebel die Umrisse eines zweistöckigen Blockhauses auftauchen. Das Innere bestand aus einem einzigen hohen Raum, in dem auf Pfosten eine zweite Ebenen eingezogen war. Ansonsten gab es nur ein abgetrenntes Badezimmer. Das alles hätte auch zu einem Fünfsternehotel gehören können.

»Richten Sie sich ein. Falls Sie einen Wunsch haben – hier ist die Klingel. Die Tür ist unverschlossen, aber ich erneuere meine Warnung vor Ausflügen. Ich werde Sie abholen, wenn wir mit der Arbeit beginnen. Bis dann.«

Es war eindeutig, dass eine Missachtung des so klar geäußerten Wunsches, sich nicht umzuschauen, den sofortigen Abbruch der Geschäftsbeziehungen zur Folge haben würde. Es gab allerdings im Moment nichts, was Steele sich weniger wünschte. So brachte er seine Kleider unter, räumte seine Toilettenartikel in das Badezimmer ein, suchte sich unter den vier Betten dasjenige aus, das ihm am besten zupass war – es handelte sich um das Bett mit Blick auf Eingang und Fenster, das direkt an einer Wand stand -, und suchte sich dann ein Buch aus der Bibliothek aus.

 

Er hatte keine Gelegenheit, sich lange an dem Kunstband über spätgotische Malerei zu erfreuen, da trat Famagusto nach lautem Klopfen ein. Die Arbeit begann.

Die Arbeit bestand zunächst im Anpassen verschiedener Pistolenfutterale, die Steele unter dem Arm, im Nacken, am Gürtel und an der Wade befestigen konnte. Obwohl er darauf brannte, endlich einen Schuss aus seiner Waffe abgeben zu können, ertrug Steele die endlosen Anproben mit stoischer Gelassenheit. Selbst wenn er selbst schon mit dem Sitz vollkommen zufrieden war, hatte Famagusto noch Änderungen, die er für absolut notwendig hielt. Er verschwand dann jedes Mal für eine Weile, und Steele war sich bald sicher, dass im Erdgeschoss des Haupthauses eine Werkstatt war. Schließlich hatte Steele zwar noch keine Waffe, dafür aber vier wunderschön gefertigte Holster aus festem Pferdeleder, in denen die Initialen J und HS eingeprägt waren.

 

Am nächsten Tag trottete Steele hinter Famagusto her, der ihn einen gewundenen, mit Steinplatten belegten Pfad zu einem Werkzeugschuppen führte. Der Schuppen entpuppte sich als Treppenhaus, von dem aus eine Wendeltreppe einige Meter in die Tiefe führte. Famagusto drückte einige Schalter, Neonröhren begannen zu summen, flackerten, leuchteten mit einem Piepsen auf und vertrieben die Dunkelheit aus einem langen Stollen.

»Nun gut«, sagte Famagusto, »Sie werden sofort erkannt haben, dass es sich hier um den Teil einer militärischen Anlage aus dem ersten Weltkrieg handelt. Nehmen Sie es zur Kenntnis und verzichten Sie auf Schlussfolgerungen. Jetzt ist es mein Schießstand. Wenn nötig bis auf siebenhundert Meter – wer kann sich schon eines solches Besitzes rühmen?«

 

Nachdem Famagusto an einem Schaltpult Platz genommen hatte und verschiedene Scheinwerfer auf eine Zielscheibe gerichtet hatte, brachte er einen unscheinbaren Karton zum Vorschein und holte Steeles Pistole hervor. Ihr matter Glanz auf dunkleren und helleren Metallteilen, geschwungenen Hebeln, fein gearbeiteten Kühlrippen und vertieft eingelegten Anzeigen, die wie kleine Augen wirkten, faszinierte Steele vom ersten Augenblick an.

»Beginnen wir mit einer eher unüblichen Entfernung von vierzig Metern. Sie werden feststellen, dass die Waffe in ihrer normalen Ausführung dort ihre Grenze erreicht. Mit Zusatzlauf, Kammervergrößerung und Anschlagkolben können Sie die Reichweite natürlich wesentlich steigern. Aber wir beginnen mit dem Einfachen. Bitte, bedienen Sie sich, Sie sehen das Ziel.«

Mit klopfendem Herzen legte Steele seine rechte Hand um den Griff des Meisterwerkes.

Die Waffe war schwer und dennoch viel leichter als erwartet. Der Griff schien sich in Steeles Hand zu schmiegen, der Abzugbügel drängte sich fast wie ein zutrauliches Haustier an den Zeigefinger. Der Griff hatte unten eine Verbreiterung, deren Sinn Steele zuerst nicht verstand und fast für ein noch nicht abgeschliffenes Stück Metall hielt, bis er erkannte, dass es die Auflage für die haltende linke Hand war, wenn er die übliche Schießposition einnahm.

»Die grüne Leuchtdiode zeigt an, dass die Waffe Sie erkannt hat und bereit ist. Die zweite Diode zeigt die Munitionsmenge an. Drücken Sie mit dem Daumen den Hebel in die vordere Position, dann steht die Waffe auf Einzelfeuer. Sie haben einen gewissen Widerstand zu überwinden, das ist als zusätzliche Sicherung gedacht.«

Ein Moralist, dachte Steele. Einer, der Waffen baut und nicht will, dass Sie unüberlegt eingesetzt werden.

Dann zielte er auf das kleine schwarze Feld in der Mitte der Scheibe und zog durch.

Der Schuss löste sich mit einem satten, tiefen Knall, der wie präzise ausgestanzt wirkte und anders war als alles, was Steele bisher gehört hatte. Trotz des gewaltigen Kalibers gab es keinen Rückschlag, dafür fuhr der Schlitten weit zurück und nahm Steele für einige Zehntelsekunden den Blick auf das Ziel.

»Guter Schuss«, lobte Famagusto. »Ich hatte noch nie die Gelegenheit, bei dem ersten Schuss ein solches Trefferergebnis zu sehen.«

»Ich muss die Waffe erst kennen lernen und die Waffe mich«, sagte Steele. Es war bescheiden gemeint.

 

Wenn Famagusto von Arbeit gesprochen hatte, die ihnen bevorstand, dann hatte er es auch so gemeint. Der Fortschritt bei ihrer Arbeit war in hunderstel Teilen von Millimetern oder in Tausendstel von Gramm zu messen, in jenen winzigen Mengen Metall, die Famagusto abschliff, um eine Perfektion zu erreichen, die nur noch ihm selbst verständlich war.

Jeremy Steele war schon nach einer halben Stunde der Meinung, eine perfekte Waffe in der Hand zu halten, die beste, die ihm je unter die Augen gekommen war. Aber Famagusto gab keine Ruhe, trieb ihn weiter, forderte seine Meinung und verschwand dann regelmäßig in seiner Werkstatt, um eine winzige Veränderung vorzunehmen und von Steele die Probe zu verlangen. Es schien, als sei Steele nichts als ein Vermittler zwischen dem Meister und seinem Werk, ein Bindeglied, das nicht wirklich dazugehörte.

 

Einige Tage vergingen mit Üben, Nacharbeiten, kurzen Imbissen und immer neuen Übungen.

Langwierig und lästig war diese Aufgabe, wie das zeitraubende Schleifen einer edlen Klinge. Dann jedoch entdeckte Steele, dass er sich mit jedem Schuss, den er abgab, mit der Waffe vertrauter fühlte. Es war nicht die verminderte Streuung in der Angabe einer Fünfer-Serie oder der minimal reduzierte Widerstand des Abzugbügels. Es war etwas anderes, das Steele weder genau benennen noch überhaupt bewusst fassen konnte. Die Waffe wuchs durch die Kunst Famagustos in Steeles Hand hinein, bis er schließlich eine Sicherheit erlangt hatte, die er bisher weder bei sich noch bei den besten anderen Schützen für möglich gehalten hatte.

Die Waffe war ein Teil seines Ichs geworden, sie war nichts als der materialisierte Ausdruck seines Willens zu treffen.

Und Steele traf, unter allen Umständen, aus allen Lagen. Schließlich vergaß er, dass er treffen wollte. Er tat es einfach. Aber jedes Mal, wenn er diese traumwandlerische Sicherheit genoss, erweiterte Famagusto die Tests.

Schalldämpfer, Reduzierlauf, Kammererweiterung, Laufverlängerung, Zielfernrohr, Laserzielvorrichtung, Anschlagkolben, verschiedene Munitionsarten. Und dann das Ganze noch einmal mit der linken Hand. Jedes Mal begann das tastende Suchen nach der besten Lösung aufs Neue, jedes Mal wurde Steele zu höchster Konzentration und langweiligem Warten gezwungen. Schließlich führte ihn Famagusto vor das Haus.

»Die letzte Prüfung«, erklärte er knapp und hielt eine daumennagelgroße Münze hoch.

Das Geldstück wurde an einen Harztropfen am Stützbalken der Außentreppe befestigt. Dann schob Famagusto seinen Gast mit sanfter Gewalt Meter um Meter zurück, bis Steele das Ziel kaum noch erkennen konnte.

»Sie haben zehn Sekunden für fünf Schuss und einen Treffer. Dann ist es Ihre Waffe«, sagte Famagusto, und es klang, als werde er ein geliebtes Kind mit einem Fremden gehen lassen, ohne die Hoffnung, es jemals wiederzusehen.

Steele setzte zehn Treffer in fünf Sekunden und hörte dann auf, weil das Ziel völlig zerhackt war. Während Famagusto mit Interesse die sich überschneidenden Kugellöcher betrachtete, zwischen denen noch Reste der Münze erkennbar waren, senkte Steele langsam die Waffe. Er hatte nicht gezielt. Das Ziel war nicht mehr erkennbar gewesen. Er hatte nur den Willen gehabt zu treffen, und die Waffe hatte es für ihn besorgt.

 

Zum Abschied überreichte Steele dem Waffenbauer einen unterschriebenen Blankoscheck. Famagusto nahm das Papier mit einer leichten Verbeugung in Empfang und steckte es in seine Jackentasche. Die Bewegung ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass kein Betrag der Welt ausreichen würde, um Famagusto für die Meisterschaft eines langen Lebens, die sich in dieser Pistole konzentrierte, angemessen zu entschädigen.

»Zwei Dinge noch«, sagte Famagusto. »Ihre Waffe hat einen lebenden Lauf. Hier, in diesem Kästchen sind zwei Wismutkugeln. Wenn Sie einen Schuss mit einer dieser Kugeln abfeuern, und das machen Sie bitte so, dass Sie die Kugeln unbeschädigt wieder auffangen und weiterverwenden können. Auf diese Weise werden sich die Züge des Laufes etwas verändern.

Das bedeutet, dass es nicht mehr möglich sein wird, anhand von Laufmarkierungen einer Kugel Ihre Waffe zu identifizieren. Wir sind uns beide im Klaren, dass es sich um eine Möglichkeit handelt, die die absolute Ausnahme bilden soll. Schon alleine deswegen, weil zu häufiger Gebrauch den Lauf ruinieren würde.

Und nun noch ein persönliches Wort. Ich bin alt. Zumindest behaupten das die Leute, die mein Geburtsdatum kennen und daraus rein mathematisch-biologische Schlüsse ziehen. Diese Leute haben zwar Unrecht, aber dennoch wird dies die letzte Waffe sein, die von meiner Hand erschaffen wurde. Und da ich, wie Sie inzwischen gelernt haben werden, einen Sinn für Symbolik habe, bereitet es mir ein gewisses Vergnügen, Ihnen zu sagen, das diese Waffe die Nummer – Sie finden sie übrigens unten am Lauf eingeprägt – 666 hat.«

Fortsetzung folgt …