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Varney, der Vampir – Kapitel 20

Thomas Preskett Prest
Varney, der Vampir
oder: Das Blutfest

Ursprünglich als penny dreadful von 1845 bis 1847 veröffentlicht, als es zum ersten Mal in Buchform erschien, ist Varney, der Vampir ein Vorläufer von Vampirgeschichten wie Dracula, die es stark beeinflusst hat.

Kapitel 20

Ein schwerer Fehler. Das schreckliche Gespräch im Gemach. Der Angriff des Vampirs

Die Schritte, die Flora nach dem Ende der Geschichte, die sie gelesen hatte, auf ihre Wohnung zukommen hörte, kamen schnell den Korridor entlang.

»Es ist Henry, der zurückgekehrt ist, um mich zu einem Gespräch mit Charlesʼ Onkel zu führen«, sagte sie. »Ich frage mich, was für ein Mann er ist. Er sollte Charles in mancher Hinsicht ähneln; und wenn er das tut, werde ich ihm allein deshalb meine Zuneigung schenken.«

Ein Klopfen ertönte an der Zimmertür.

Flora war nun nicht mehr so erschrocken, wie sie es gewesen war, als Henry ihr das Manuskript gebracht hatte. Aufgrund einer seltsamen Reaktion ihres Nervensystems fühlte sie sich sicher und war entschlossen, allem zu trotzen. Aber dann war sie sich ganz gewiss, dass es Henry war, bevor das Klopfen sie überrascht hatte.

»Komm herein«, sagte sie mit fröhlicher Stimme. »Komm herein.«

Die Tür öffnete sich mit erstaunlicher Schnelligkeit – eine Gestalt trat in den Raum, schloss sie dann ebenso schnell wieder und stellte sich davor. Flora wollte schreien, aber ihre Stimme verweigerte ihren Dienst. En wirrer Strudel von Empfindungen ging durch ihren Kopf – sie zitterte und eine eisige Kälte überkam sie. Es war Sir Francis Varney, der Vampir!

Er hatte seine große, hagere Gestalt zu voller Größe aufgerichtet und die Arme auf der Brust verschränkt. Ein abscheuliches Lächeln lag auf seinem fahlen Antlitz und seine Stimme war tief und düster, als er sagte: »Flora Bannerworth, vernimm, was ich dir zu sagen habe, und höre es ruhig an. Du brauchst nichts zu befürchten. Schlage Alarm – schreie oder rufe um Hilfe, und bei der Hölle unter uns, dann bist du verloren!«

Diese Worte klangen so todesähnlich, kalt und leidenschaftslos, als wären sie mechanisch gesprochen und kämen nicht von menschlichen Lippen.

Flora hörte sie und verstand sie doch kaum. Sie trat langsam zurück, bis sie einen Stuhl erreichte, an dem sie sich festhielt. Der einzige Teil der Worte von Varney, der ihr wirklich zu Ohren kam, war der, dass es schreckliche Folgen haben würde, wenn sie um Hilfe riefe. Aber nicht wegen dieser Worte schlug sie wirklich keinen Alarm, sondern weil sie dazu völlig unfähig war.

»Antworte mir«, sagte Varney. » Versprich mir, dass du dir anhören wirst, was ich dir zu sagen habe. Indem du das versprichst, verpflichtest du dich zu nichts Bösem, und du wirst etwas hören, das dir viel Frieden geben wird.«

Vergeblich versuchte sie zu sprechen; ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Laut hervor.

»Du hast Angst«, sagte Varney, »und ich weiß nicht, warum. Ich bin nicht gekommen, um dir etwas anzutun, obwohl du mir etwas angetan hast. Ich bin gekommen, um dich aus dem seelischen Korsett zu befreien, unter dem du derzeit leidest.«

Es gab eine Pause von einigen Augenblicken, und dann gelang es Flora schwach zu sagen: »Hilfe! Hilfe! Oh, hilf mir, gütiger Himmel!«

Varney machte eine Geste der Ungeduld, als er sagte: »Der Himmel kümmert sich nicht um besondere Angelegenheiten. Flora Bannerworth, wenn du so viel Verstand hast, wie dein Adel und deine Schönheit die Welt vermuten lassen, wirst du mir zuhören.«

»Ich … ich höre«, sagte Flora, während sie, den Stuhl mit sich ziehend, den Abstand zwischen sich und dem anderen vergrößerte.

»Gut so. Du bist jetzt gefasster.«

Mit einem Schaudern blickte sie auf Varneys Gesicht. Es konnte kein Irrtum sein. Es war dasselbe, das sie mit den seltsamen, glasigen Augen in jener schrecklichen Sturmnacht angestarrt hatte, als sie von dem Vampir heimgesucht worden war. Und Varney erwiderte diesen Blick ohne zu zögern. Sein Gesicht verzerrte sich nun auf abscheuliche und seltsame Weise, als er sagte: »Du bist wunderschön. Der geschickteste Bildhauer könnte wohl ein seltenes Kunstwerk aus diesen sanft gerundeten Gliedern modellieren, die sicherlich geschaffen wurden, um den Betrachter zu betören. Deine Haut gleicht dem weißen Schnee – was für ein hübsches Gesicht und was für eine bezaubernde Gestalt.«

Sie sprach nicht, aber ein Gedanke kam ihr in den Sinn, der ihr sofort die Wangen färbte – sie wusste, dass sie beim ersten Besuch des Vampirs in Ohnmacht gefallen war, und nun pries er mit einer abscheulichen Ehrfurcht die Schönheiten, über die er in einem solchen Moment seine dämonischen Blicke hätte werfen können.

»Du verstehst mich«, sagte er. »Nun, lassen wir das beiseite. Ich bin noch etwas mit der Menschheit verbunden.«

»Sag, was du vorhast«, keuchte Flora, »oder was auch immer geschieht, ich schreie um Hilfe zu denen, die nicht zögern werden, sie mir zu gewähren.«

»Ich weiß es.«

»Du weißt, dass ich schreien werde?«

»Nein, du wirst mich anhören. Ich weiß, dass sie nicht zögern werden, dir zu helfen, aber du wirst nicht nach ihnen rufen; ich werde dir keine Gelegenheit dazu geben.«

»Sprich weiter … sprich weiter.«

»Du siehst, dass ich nicht versuche, mich dir zu nähern; meine Mission ist eine des Friedens.«

»Frieden von dir! Schreckliches Wesen, wenn du wirklich das bist, was meine erschütterte Fantasie jetzt noch scheut, dich zu benennen, wäre dann nicht selbst für dich die absolute Vernichtung ein Segen?«

»Frieden, Frieden. Ich bin nicht hierhergekommen, um über ein solches Thema zu sprechen. Ich muss mich kurz fassen, Flora Bannerworth, denn die Zeit drängt. Ich hasse dich nicht. Warum sollte ich auch? Du bist jung und du bist schön, du trägst einen Namen, der einen Teil meiner Hochachtung verdienen sollte, und das tut er auch.«

»Es gibt ein Porträt«, sagte Flora, »in diesem Haus.«

»Nicht mehr … nicht mehr. Ich weiß, was du sagen willst.«

»Es gehört dir.«

»Das Haus und alles, was darin ist, begehre ich«, sagte er mit Unbehagen. »Das soll genügen. Ich habe mich mit deinem Bruder gestritten – ich habe mich mit einem gestritten, der gerade behauptet, dich zu lieben.«

»Charles Holland liebt mich wirklich.«

»Es steht mir nicht an, diesen Punkt mit dir zu diskutieren. Ich habe die Möglichkeit, mehr über die Geheimnisse des menschlichen Herzens zu wissen als gewöhnliche Menschen. Ich sage dir, Flora Bannerworth, dass derjenige, der zu dir von Liebe spricht, dich nur mit der vergänglichen Vorstellung eines Jungen liebt. Es gibt einen, der tief in seinem Herzen eine Leidenschaft verbirgt, der nie zu dir von Liebe gesprochen hat und der dich dennoch mit einer Liebe liebt, die die kurzlebige Fantasie dieses Jungen Holland bei Weitem übertrifft, so wie der mächtige Ozean den ruhigsten See, der sich jemals in der Sommersonne im Müßiggang gesonnt hat.«

Die Art und Weise, wie Varney nun vorging, hatte eine wunderbare Faszination. Seine Stimme klang wie die Musik selbst. Seine Worte flossen über seine Zunge, jedes einzelne sanft und akzentuiert, mit dem ganzen Charme der Beredsamkeit.

Trotz ihres zitternden Entsetzens vor diesem Mann, trotz ihrer ängstlichen Überzeugung von dem, was er wirklich war, verspürte Flora ein unwiderstehliches Verlangen, ihn weiterreden zu hören. Ja, auch trotz des undankbaren Themas für ihr Herz, das er zum Gegenstand seiner Rede gewählt hatte, fühlte sie, wie sich ihre Furcht vor ihm allmählich auflöste. Als er nun eine Pause machte, sagte sie: »Du irrst dich sehr. Auf die Treue und Aufrichtigkeit von Charles Holland würde ich mein Leben verwetten.«

»Kein Zweifel, kein Zweifel.«

»Hast du nun gesagt, was du mir mitteilen wolltest?«

»Nein, nein. Ich sage dir, dass ich diesen Ort begehre, ich würde ihn kaufen, aber da ich mich mit deinen schlecht gelaunten Brüdern gestritten habe, werden sie sich nicht mehr mit mir unterhalten.«

»Und sie sollten sich auch diesem verwehren.«

»Wie dem auch sei, werte Dame, ich wende mich an dich, damit du mein Vermittler wirst. In den Schatten der Zukunft kann ich viele Ereignisse sehen, die kommen werden.«

»In der Tat.«

»Es ist so. Mit einiger Weisheit aus der Vergangenheit und aus Quellen, die ich dir nicht nennen möchte, weiß ich, dass ich dir zwar viel Leid zugefügt habe, dir aber noch viel mehr ersparen kann. Dein Bruder oder dein Liebhaber werden mich herausfordern.«

»Oh, nein, nein.«

»Ich sage, das wird geschehen, und ich kann beide töten. Meine Geschicklichkeit wie auch meine Kraft sind übermenschlich.«

»Gnade! Gnade!«, keuchte Flora.

»Ich werde einen der beiden oder beide unter einer Bedingung verschonen.«

»Was für eine furchtbare Bedingung?«

»Es ist keine bedrohliche Bedingung. Deine Ängste gehen weit über diese Tatsache hinaus. Alles, was ich von dir wünsche, Mädchen, ist, dass du deine herrischen Brüder dazu bringst, mir das Haus zu verkaufen oder zu verpachten.«

»Ist das alles?«

»Das ist es. Mehr verlange ich nicht, und im Gegenzug verspreche ich dir nicht nur, dass ich nicht mit ihnen streiten werde, sondern auch, dass du mich nie wieder sehen wirst. Sei beruhigt, Mädchen, du wirst von mir unbehelligt bleiben.«

»Oh Gott, das wäre in der Tat eine Zusicherung, nach der es sich zu streben lohnt«, sagte Flora.

»Du kannst sie haben. Aber …«

»Oh, ich wusste … mein Herz sagte mir, dass noch etwas Schreckliches kommen könnte.«

»Du irrst dich wieder. Ich bitte dich nur darum, dieses Treffen geheim zu halten.«

»Nein, nein, nein … das kann ich nicht.«

»Nein, was ist daran so schwierig?«

»Ich will nicht; ich habe keine Geheimnisse vor denen, die ich liebe.«

»In der Tat, du wirst bald die Zweckmäßigkeit einiger weniger finden; aber wenn du es nicht willst, kann ich nicht länger darauf drängen. Tu, was deine unberechenbare weibliche Natur dir eingibt.«

In diesen Worten und in der Art, wie sie ausgesprochen wurden, lag ein gewisser, wenn auch sehr schwacher Ton der Verärgerung.

Während er sprach, bewegte er sich von der Tür zum Fenster, das in den Vorgarten führte. Flora wich so weit wie möglich von ihm zurück, und einige Minuten lang betrachteten sie einander schweigend.

»Junges Blut«, sagte Varney, »fließt in deinen Adern.«

Sie erschauderte vor Schreck.

»Denke an die Bedingung, die ich dir gestellt habe. Ich begehre Bannerworth Hall.«

»Ich … ich habe es vernommen.«

»Und ich muss es haben. Ich werde es haben, auch wenn mein Weg dorthin durch ein Meer von Blut führt. Hast du mich verstanden, Mädchen? Erzähle, was zwischen uns vorgefallen ist oder nicht, wie du willst. Hüte dich vor mir, wenn du dich nicht an die Bedingung hältst, die ich gestellt habe.«

»Der Himmel weiß, dass dieser Ort für uns alle täglich hässlicher wird«, sagte Flora.

»In der Tat!«

»Das solltest du eigentlich wissen. Es ist kein Opfer, jetzt darauf zu bestehen. Ich werde meine Brüder dazu auffordern.«

»Danke – tausend Dank. Du wirst es nicht bereuen, Varney zum Freund gemacht zu haben …«

»Der Vampir!«, sagte Flora.

Er kam einen Schritt auf sie zu, und sie stieß unwillkürlich einen Schreckensschrei aus.

Im nächsten Augenblick umklammerte seine Hand ihre Taille mit der Kraft eines eisernen Schraubstocks. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Wange fluten. Ihre Sinne schwanden, und sie spürte, wie sie zusammensank. Sie sammelte all ihren Atem und all ihre Kräfte in einem durchdringenden Schrei, und dann fiel sie zu Boden. Plötzlich krachte zerbrochenes Glas, und dann war alles still.