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Nick Carter – Der Raubüberfall im Grand Central Depot – Kapitel 2

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Der Raubüberfall im Grand Central Depot
Ein Detektivroman

Auf der Spur der Räuber

»Gewiss, der Mann ist mir bekannt«, erklärte der Sergeant, »er heißt Conlin und will von Gewerbe Rohrleger sein.« Er wendete sich an den Arrestanten. »Wie viele Jahre haben Sie schon keinen Tag lang mehr gearbeitet, sondern nur gebummelt, was?«

»Meine Sache«, erklärte Conlin patzig. »Doch ich will wissen, warum man mich festhält!«

Der Sergeant würdigte ihn keiner Antwort. »Allerdings, Mr. Carter«, bemerkte er, »der Mann da ist einer der Schlimmsten im ganzen Distrikt. Er lungert das ganze Jahr in den Saloons an der 3rd Avenue, nahe der 42th Street, herum und ist schon unzählige Male wegen ungebührlichen Betragens verhaftet worden … Ich sage es ihm ins Gesicht, dass wir ihn in Verdacht haben, einer Bande von Straßenräubern, welche die Umgegend unsicher macht, anzugehören. Bisher hat der schlaue Bursche immer eine Hintertür zum Entschlüpfen gefunden. Hoffentlich haben Sie ihn nun fest beim Wickel, was, Mr. Carter?«

»Das tut mir leid«, entgegnete dieser achselzuckend, »ich kann keine Klage gegen ihn erheben – die Sache ist einfach genug. Ich verfolgte einen Burschen, der einen eben mit dem Chicago-Expresszug eingetroffenen Fremden beraubt hat. Bei der Hetzjagd kam Conlin hier zum Vorschein und nahm den geraubten Gegenstand von dem weiter Fliehenden in Empfang, doch nur, um die Beute unmittelbar darauf an einen Helfershelfer, der mit fünf anderen auf seine Signalpfiffe hin aus einem Saloon an der 3rd Avenue herausgekommen war, auszuliefern. Der Bursche entkam natürlich.«

»Um was handelte es sich?«, erkundigte sich der Sergeant.

»Das will ich Ihnen später sagen«, erklärte Nick, »ich wollte nur wissen, wer dieser Mann ist, um ihn später wiedererkennen zu können … Eine Anklage wider ihn erhebe ich nicht.«

»Großartig«, erboste sich nun der Strolch, »da ist man Bruder und ein freier Mann … So eine Gewalttat gibt es nicht einmal in Russland … Einen von der Straße weg verhaften. Doch ich will es euch schon heißmachen.«

»Still … oder ich lasse Sie einsperren!«, unterbrach ihn der Sergeant scharf. »Sie haben es gerade noch nötig, sich als die gekränkte Unschuld aufzuspielen … Nun, das nächste Mal kommen Sie nicht so leichten Kaufes davon – und nun packen Sie sich, aber etwas plötzlich!«

Das schien dem dunklen Ehrenmann auch das Geratene zu sein, denn ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog er ab.

»Well, Mr. Carter«, meinte der Sergeant, als die vierschrötige Gestalt verschwunden war, »vor einer knappen halben Stunde war Ihr Gehilfe Chick hier und fragte nach Ihnen … Er will Sie im Waldorf Astoria-Hotel wegen der Dokumentengeschichte erwarten.«

»Schönen Dank … Das ist gerade unsere Geschichte, denn dem Fremden wurde auf dem Bahnhof, kaum dass er den Zug verlassen hatte, eine Aktentasche mit wichtigen Beweispapieren, die eine Hauptrolle in irgendwelchem großen Rechtsgeschäft spielen, entrissen … Ich sah es und machte mich an die Verfolgung – das andere wissen Sie bereits.« Damit nahm er Abschied und begab sich schnell zu dem nur wenige Minuten entfernt gelegenen Waldorf Astoria-Hotel.

In dessen geräumiger Lobby – wie die mit Sitzgelegenheiten und Verkaufsständen ausgestattete Vorhalle genannt wird – traf er mit dem schon ungeduldig wartenden Chick zusammen.

»Nette Geschichte, Nick«, empfing ihn sein Gehilfe. »Der Teufel ist los!«

»Wieso … warum?«, wollte der Detektiv wissen.

»Die Hälfte aller bekannten hiesigen Rechtsanwälte sitzen oben bei unserem Fremden aus Chicago und lamentieren wie die betrübten Lohgerber über den Raub der wichtigen Dokumente. Die Prozessgegner sollen dies auf dem Gewissen haben, erklären sie.«

»Stimmt«, erklärte Nick, »jener braunbärtige Bursche entriss unserem Mann eine lederne Aktentasche oder dergleichen … und darum stürmte ich auch hinter ihm her.«

»Du hast ihn aber unterwegs verloren, eh?«, fragte Chick gespannt zurück.

»Den Mann nicht, wohl aber die Aktentasche mit den Dokumenten«, erklärte der Detektiv, indem er schnell das Vorgefallene berichtete. »Wer ist der Bestohlene?«, fragte er dann.

»Ein berühmter Advokat aus Chicago. Mr. Bristol, so heißt der Mann, will dich so rasch wie möglich sehen und sprechen. Mr. Hoate ist auch oben und erklärte, an dem Verlust einer Million Dollar sei weniger gelegen als an dem der Dokumente.«

»Das lohnt sich«, bemerkte Nick. »Nun begreife ich auch, warum der Braunbart derart sich ins Zeug legte – wo es sich um Millionen handelt, kann man schon den Hals riskieren.« Er lachte kurz auf.

Unter Chicks Führung begaben sie sich zu einem der oberen Konferenzzimmer des berühmten Riesenhotels, in welchem schon ein halbes Dutzend der berühmtesten New Yorker Rechtsanwälte ungeduldig auf das Erscheinen des großen Detektivs wartete. Mr. Hoate, mit welchem Nick persönlich bekannt war, übernahm die Vorstellung. »Well«, meinte er dann mit einem ironischen Lächeln, »diesmal haben wir nicht unser gewohntes Glück gehabt, Mr. Carter – eh? Die von uns geplante Überwachung missglückte – was?«

»Daran sind Ihre mangelhaften Instruktionen schuld«, entgegnete Nick kühl. »Hätten Sie mir klipp und klar auseinandergesetzt, dass es sich darum handelte, Mr. Bristol zu beschatten, um ihn wichtige Dokumente ungefährdet hierher zum Hotel bringen zu lassen, so würde ich selbst oder einer meiner Gehilfen ihm einige hundert Meilen weit entgegengefahren sein, und dann wäre es zu keinem Raub gekommen. So aber sagten Sie mir nur, es handelte sich darum, einen Mann, dessen Fotografie Sie mir zeigten, ohne sein Vorwissen zu überwachen und zuzusehen, ob er auch ohne Zwischenfall das Waldorf Astoria-Hotel hier erreichte … Ich konnte also auch nicht entfernt mit der Möglichkeit eines Raubüberfalles rechnen.«

»Gewiss nicht … doch das taten wir alle nicht«, begütigte Mr. Hoate. »Die Sache ist die: Die Aktentasche enthielt Dokumente, deren Besitz das Recht verbrieft, eine neue und höchst rentable Eisenbahnlinie zu bauen. Es handelt sich dabei um mindestens sechs Millionen Dollar.«

»Umso weniger begreife ich, Mr. Hoate, dass Sie mir so ungenügende Instruktionen gaben«, erklärte Nick gereizt. »Nach den mir gegebenen Verhaltensmaßregeln konnte ich Mr. Bristol ebenso gut für einen durchgegangenen Bankkassierer halten, von dessen Verhaftung Abstand genommen werden sollte, weil sie ihn in einer persönlichen Unterredung zur Herausgabe seines Raubes veranlassen zu können hofften.«

Die Anwesenden lachten, mit Ausnahme des Anwalts aus Chicago, der sich gereizt an Hoate wendete und wissen wollte, was diese ohne sein Vorwissen angeordnete Überwachung eigentlich zu bedeuten habe. »Das sieht ja beinahe so aus, als misstrauten Sie mir!«, ereiferte sich der hagere, schmächtige Rechtsgelehrte, der wie ein fleischgewordener Gesetzesparagraf aussah – merkwürdigerweise musste Nick Carter dabei an den berühmten Paragraf 11 denken, der da lautet: »Lass dich nicht erwischen!«

»Aber meine Herren«, nahm ein anderer bedeutender Rechtsanwalt das Wort, »lassen Sie uns nicht durch solche Nebensächlichkeiten von dem abkommen, was wichtig ist und uns alle beschäftigt und in Sorge hält.«

»Nun, Sie müssen zugeben, Kollege, dass diese Überwachung merkwürdig ist!«, versetzte der gallige Mr. Bristol. »Ich frage nochmals, was sollte damit bezweckt werden?«

»Well, ich will offen sein«, sagte Mr. Hoate. »Ich traute der Gegenpartei nicht, sondern dachte, sie würde vielleicht doch noch Kapitalien aufbringen können, welche unsere Mittel übersteigen und sich dann mit Ihnen in Verbindung zu setzen versuchen, Kollege Bristol.«

Über das verschlagene Fuchsgesicht des Letzteren ging ein spöttisches Lächeln. »Well, Mr. Hoate – in einem solchen Fall würde mich auch die Überwachung dieses berühmten Detektivs hier«, damit wies er auf Nick, »nicht davon abgehalten haben, das Interesse meiner Partei zu wahren, denn natürlich verkaufen wir die Dokumente an den höchsten Zahler … Doch ich weiß zufällig genau, dass die Gegenpartei höchstens denselben Betrag anzubieten hätte, und da wir handelseinig geworden sind, so …«

»Wären wir ja einig«, fiel Hoate verbindlich ein. »Leider fehlt nun das Wichtigste, eben die Papiere, und die Frage ist: Wie bekommen wir sie zurück, um zum Abschluss zu gelangen?«

»Das sieht schwerer aus, als es vielleicht ist«, warf Nick ein, der ein schweigsamer, doch aufmerksamer Beobachter des kleinen Zwischenfalls gewesen und zu der Ansicht gelangt war, dass Hoate ganz andere und für den Advokaten aus Chicago entschieden viel weniger schmeichelhafte Gründe gehabt hatte, ihn, den Detektiv, mit Bristols Überwachung zu beauftragen. »Ich sah den Mann, welcher Mr. Bristols lederne Aktentasche an sich riss.«

»Sie sahen den Mann?«, staunten alle Anwälte, und der Chicagoer Advokat nicht am wenigsten.

»Ich sah ihn nicht nur, sondern verfolgte ihn auch bis zum Fuße der 42th Street«, erklärte nun Nick Carter, indem er zugleich den interessiert aufhorchenden Herren sein eben erst erlebtes Abenteuer berichtete. »Es liegt offenbar ein Komplott vor, diese Dokumente beiseite zu schaffen«, schloss Nick. »Da ich von den geworbenen Helfershelfern wenigstens jetzt einen, den von mir verhafteten und wieder freigelassenen William Conlin kenne, so habe ich, falls Nachforschungen angestellt werden sollen, sofort die richtige Handhabe für den Beginn.«

»Natürlich müssen wir unverzüglich alles Mögliche aufbieten, um die Dokumente wieder herbeizuschaffen«, entgegnete Hoate, doch mit einem Seufzer setzte er hinzu: »Ich fürchte nur, sie sind längst in Händen der Gegenpartei und damit zerstört oder für uns verloren.«

»Ja, um was handelt es sich eigentlich?«, fragte der Detektiv nun ungeduldig. »Soll ich Ihnen zu helfen versuchen, so muss ich vor allen Dingen klar sehen, denn im Dunkeln herumzutappen und aufs Geratewohl zu experimentieren, ist nicht meine Sache.«

»Selbstverständlich, Mr. Carter, sollen Sie alles erfahren … Wie Sie die Herren da sehen, sind sie sämtlich Anwälte – vier davon, darunter ich, sind die Bevollmächtigten von Großkapitalisten, welche von einer anderen finanziellen Vereinigung den Freibrief für eine Eisenbahnlinie, welche auf kürzestem Weg die östlichen und westlichen Bahnsysteme miteinander verbinden soll und dazu bestimmt erscheint, den Durchgangsverkehr vom Atlantik zum Pazifik in ganz neue Bahnen zu lenken, erwogen haben. Der Vertreter dieser Finanzleute, welche die Berechtigung zum Bahnbau sowie den dazu nötigen Grund und Boden einschließlich aller Rechte und Befugnisse erworben haben, ist Mr. Bristol. Der Sitz dieser Gesellschaft befindet sich in Chicago. Sie ist durch andere Riesenunternehmen derart gebunden und mit ihren Betriebsmitteln festgelegt, dass sie in absehbarer Zeit nicht an den Bahnbau gehen, geschweige denn ihn innerhalb der gesetzlich bedungenen Frist vollenden kann.«

»Ich verstehe«, warf Nick Carter ein. »Diese Gesellschaft hatte darum ein Interesse, die aus ihrem Freibrief stammenden Rechte so hoch wie möglich zu verkaufen. Da sich nun zwei annähernd gleich mächtige Vereinigungen von Eisenbahngesellschaften in den Vereinigten Staaten befinden, so liegt es auf der Hand, dass die Korporation in Chicago sich mit beiden Trusts in Verbindung gesetzt haben wird, um ihre Rechte dem höchsten Bieter zu übertragen.«

»Sehr klar ausgedrückt und vollständig zutreffend«, stimmte Mr. Hoate bei. »Die von meinen Kollegen und mir vertretene Trustvereinigung machte das höchste Angebot, nämlich sechs Millionen Dollar. Einen derartigen Betrag aufzubringen, ist die Konkurrenz außerstande; auf der anderen Seite aber wird die neue Bahnlinie nach deren Vollendung eben der Konkurrenz die Lebensader unterbinden. Es liegt also in ihrem Interesse, den auf heute festgesetzten Kauf nicht zustande kommen zu lassen.«

»Eine Frage«, warf Nick ein. »Sind diese Dokumente denn unersetzlich?«

»Gewiss, wenigstens zum größten Teil«, erklärte Bristol. »Das hängt mit unseren verwickelten Rechtsverhältnissen zusammen. Freibriefe mussten von nicht weniger als sieben Bundesstaaten ausgestellt werden. Sie waren zum Teil sehr schwer, ja, ich kann es ruhig sagen, meistens nur durch Bestechung der betreffenden Gesetzgeber zu erlangen. Der Verlust jenes Freibriefes zieht – wie die Verhältnisse liegen – den Verlust der in ihm gewährten Rechte nach sich. All diese Dokumente befanden sich in meiner Aktentasche, und ich kam hierher, um sie abzuliefern und dafür einen Scheck in Höhe von 5.500.000 Dollar zu erheben; eine halbe Million wurde bereits als Anzahlung geleistet.«

»Well, Ihre Vermutung geht dahin, dass nun die Gegenpartei den Diebstahl der Freibriefe und deren Vernichtung veranlasst habe«, versetzte Nick kopfschüttelnd. »Mit Verlaub, meine Herren, das erscheint mir widersinnig. Die Konkurrenz hat, wie Sie selbst sagen, diese Freibriefe nötig, durch deren Zerstörung würde sie sich ins eigene Fleisch schneiden – auf der anderen Seite aber kann sie, ohne sofort zur Verantwortung gezogen zu werden, niemals Gebrauch von den gestohlenen Freibriefen machen. Was für Nutzen also hätte sie von einem solch unerhörten Verbrechen? Es muss entschieden noch eine dritte Partei vorhanden sein, welche ein ungleich höheres Interesse an der Zerstörung der Freibriefe hat – also etwa eine Seefahrtsgenossenschaft, deren Dampfer jetzt den Gütertransport zwischen dem Atlantik und dem Pazifik besorgen und die in dem Augenblick, wo die neue Durchgangsbahnlinie mit ihren niedrigeren Tarifsätzen vollendet ist, völlig brachgelegt sein würde.«

»Unsinn!«, warf Mr. Bristol ein.

»Wieso?«, bemerkte Hoate. »Im Gegenteil, der Hinweis Mr. Carters erscheint mir sehr scharfsinnig zu sein – wie ich Ihnen sagen kann«, wendete er sich an den Detektiv, »hat Mr. Bristol in der Tat kurze Zeit in Verhandlung mit einer derartigen Aktienreederei gestanden. Diese wollte die Freibriefe nur erwerben, um sie vernichten zu können, schreckte aber vor der Höhe der Forderung, welche ihr gesamtes Aktienkapital um das Dreifache überragt, zurück.«

»Vergessen Sie nur nicht«, warf der Chicagoer Anwalt pikiert ein, »dass die Direktoren der Gesellschaft sämtlich hochgeachtete Leute sind.«

»Im Geschäft gilt keine Moral, am wenigsten im amerikanischen«, bemerkte Mr. Hoate achselzuckend. »Das beweist gerade der uns heute beschäftigende Fall. Ich glaube, Sie sind vollständig im Recht, Mr. Carter«, wendete er sich an diesen. »Die Dokumente wurden im Auftrag der Company gestohlen, deren geschäftlicher Ruin durch das Zustandekommen der Bahnlinie bedingt wird.«

»Ich fürchte, Sie sind voreingenommen«, bemerkte Bristol spitz. »Jedenfalls möchte ich in unser aller Interesse wünschen, dass Mr. Carter unbeeinflusst an die Lösung der ihm gestellten schwierigen Aufgabe herantritt … Die Hauptsache ist schließlich nicht, herauszufinden, wer hinter dem Anschlag steckt, sondern diesen zu vereiteln – will sagen, die Dokumente wieder zurückzubekommen … Und ich bin gern bereit, Mr. Carter mit Geld und Rat an die Hand zu gehen.«

»Meine Dienste sind Mr. Hoate, mit welchem ich schon seit Jahren in Verbindung stehe, gewidmet«, erklärte der Detektiv entschieden. »Noch weniger würde ich eine Vertretung übernehmen, die mich etwa in Gegensatz mit den von Mr. Hoate wahrgenommenen Interessen bringen könnte.«

Ein nur dem Detektiv bemerkbares vieldeutiges Lächeln umspielte die Lippen Hoates’, als dieser nun erklärte: »Mr. Bristols und meine Interessen gehen Hand in Hand.« Dann lachte er laut. »Ich denke, Mr. Bristol, wir überlassen Mr. Carter alles Weitere, denn wenn wir auch noch so klug reden und raten, schließlich folgt er doch nur seinem eigenen Kopf … und daran tut er klug.«

Unter dem Gelächter der übrigen Anwälte, in welches auch Mr. Bristol mit süßsaurer Miene einstimmte, wendete sich der berühmte Advokat an den Detektiv. »Nicht wahr, Sie sind erkannt, Freund Carter?«, scherzte er. »Was Sie an Informationen weiter brauchen, wie die Namen der den verschiedenen Gesellschaften angehörigen Beamten und dergleichen, sehen Sie wohl in meinem Büro nach … und nun sagen Sie, wann werden wir wohl die Tasche mit den Dokumenten wiedersehen?«

»Oho«, rief Nick protestierend. »Das ist keine Sache, die man im Handumdrehen erledigt …«

»Nein, nein, gewiss nicht … Es wird im günstigsten Fall Wochen beanspruchen …«

»Well, es ist müßig, darüber Betrachtungen anzustellen«, unterbrach ihn Nick. »Ich habe so eine Ahnung, als ständen uns in dieser Sache ganz interessante Überraschungen bevor.«

»Ja, diese Ahnung habe ich auch«, versetzte Mr. Hoate, indem er dabei dem Detektiv verstohlen zublinzelte, als wollte er sagen: »Alter Freund, ich weiß es wohl, du und ich sind auf derselben Fährte … und Kollege Bristol scheint mir ein ganz gewürfelter Fuchs zu sein, der sich die Tasche mit Vorbedacht hat stehlen lassen – er wird schon wissen, warum … und hoffentlich weißt du es auch bald!«

Nick empfahl sich kurz, und einmütig anerkennendes Murmeln ging hinter dem sich Entfernenden von den Lippen der Anwälte. »Ein sehr, sehr fähiger, außerordentlich geschickter Mann!«, meinte der Anwalt aus Chicago, indem er nachdenklich vor sich hin nickte.

»Das hat schon mancher zu seinem Schaden herausgefunden«, platzte Mr. Hoate heraus, um gleich darauf freundschaftlich den Chicagoer Kollegen beim Arm zu nehmen und ihn zum Supper unten in einem der eleganten Speisesäle des größten Hotels der Welt einzuladen, wo man für zwanzig Dollar schon ganz leidlich zu essen bekommt und auch satt wird, wenn man nicht besonders großen Hunger hat.

»Nun?«, fragte Chick erwartungsvoll, als der Meister sich ihm wieder beigesellte.

»Well«, antwortete Nick, indem er mit dem anderen langsam die 34the Street in östlicher Richtung verfolgte. »Trügt mich nicht alles, so liegt ein tief angelegter Halunkenstreich vor. Dieser Mr. Bristol hat sich seine Aktentasche absichtlich stehlen lassen.«

»Ah!«, machte Chick. »Das ist originell. Steht das fest, Nick?«

»Nein, es ist nur meine Vermutung …«

»Nick, deine Vermutungen pflegen für die dadurch Verdächtigten in der Regel fatal zu wirken!«, meinte Chick lachend. »Man wird Mr. Bristol wahrscheinlich beschatten müssen, eh?«

»Gewiss, das wäre so eine Aufgabe für Ten Itchi«, entgegnete der Detektiv nickend. »Wahrscheinlich ist es lediglich ein Ruheposten, denn ich halte diesen Rechtsverdreher für viel zu gewürfelt, um sich eine Blöße zu geben. Ich wette, er hält sich wie ein Fuchs im Bau. Ich denke mir, man hat ihn durch eine große Summe, die womöglich bereits in seinen Händen ist, bestochen … Er hat sich die Tasche stehlen lassen, und sein Interesse am Fall ist darum erloschen … Ungleich wichtiger ist es, den Braunbart und dessen Gehilfen aufzuspüren, denn diese stehen mit dem Auftraggeber in Verbindung.«

»Hm, ja«, brummte Chick nachdenklich. »Hörtest du, wie der Braunbart im Grand Central Depot auf eine Frage seines Kumpans mit dem falschen Backenbart antwortete: ›Ja, unser Mann ist im Zug, denn Hank hat es mir von Albany aus telegrafiert‹?«

»Zuverlässig«, bemerkte der Detektiv, »das hat mich auch schon zum Nachdenken veranlasst, und ich weiß schon, was deine Frage bezweckt … Warum musste der Anwalt hier im Bahnhof bestohlen werden, war er mit dem Raub einverstanden?«

»Das nicht allein«, warf Chick nachdenklich ein, »warum wurde ein solch großer Apparat aufgeboten … Mindestens an die zehn Mann, wenn nicht noch mehr … Wollte sich dieser Mr. Bristol bestehlen lassen, so konnte dies weit einfacher und gefahrloser bewerkstelligt werden!«

»Gewiss, das leuchtet mir auch ein«, versetzte Nick bedächtig. »Man könnte zwar einwerfen, dass die Gegenpartei, welche den Anwalt aus Chicago bestochen hatte, sichergehen wollte … Man traut einem Verräter nicht.«

»Mit Recht nicht!«, unterbrach ihn Chick. »Es wäre ja auch möglich, dass vorher eine gewaltsame Beraubung geplant war und die Bestechung des Anwalts erst in letzter Stunde geschah.«

»Lauter Möglichkeiten, deren Aufzählung uns aber nicht wieder in den Besitz der Aktenmappe und ihres kostbaren Inhaltes bringt; doch holla, was haben wir da«, unterbrach er sich, indem er seinen Gehilfen beim Arm packte und diesen mit sich nach einer schützenden Tornische zog.

»Der Braunbart!«, flüsterte Chick, indem er mit den Augen der angedeuteten Richtung folgte. Sie waren plaudernd die 2nd Avenue hinaufgeschritten und bis an die 40th Street gekommen. Hier nun trat eben aus dem von der Straße aus durch eine Privattreppe zugänglichem Büro eines Arztes ein stark humpelnder und sich an einem Stock fortbewegender Mann, dem das Gehen große Pein zu verursachen schien. Ein Blick belehrte die Detektive, dass es wirklich der Mann mit dem braunen Vollbart war; dieser freilich war verschwunden, und statt seiner zierte nur noch der übliche kurze Yankeeschnurrbart die Oberlippe des sich auf der äußersten Seite der Bürgersteigs Haltenden, der augenscheinlich vermeiden wollte, in den Lichtbereich der Schaufenster zu gelangen.

»Es ist unser Mann, wenn er auch eine neue Verkleidung angelegt hat, oder vielmehr, wenn er auch seine Maske abgelegt hat«, bemerkte Nick, »denn er scheint mir unverkleidet zu sein. Er hinkt stark, der tollkühne Sprung ist ihm übel bekommen.«

»Wollen wir ihn verhaften?«, raunte sein Gefährte.

Nick packte ihn vorwurfsvoll beim Arm. »Aber Chick«, sagte er eindringlich. »Den Kerl verhaften – na, das wäre ein netter Narrenstreich … Ja, heute Nachmittag, als er die Aktenmappe bei sich hatte, da hätte es sich gelohnt … Jetzt aber würden wir ihm höchstens zu ein paar Jahren Zuchthaus verhelfen, doch die Dokumente blieben nur umso sicherer verschwunden … Auf die Schliche müssen wir ihm kommen, beschattet muss er von dir werden, Chick, dich kennt er schwerlich, darum gehe ihm nach und sieh zu, wohin er sich begibt.«

Sie waren dem langsam Voranhumpelnden, der keine Ahnung davon hatte, dass er verfolgt wurde, bis in die 42th Street gefolgt. Dort verschwand er in einem der zahlreichen kleinen Hotels, die in ihrer großen Mehrzahl übel verrufene Spelunken sind, welche dem Laster gefälligen Unterschlupf bieten. Fast auf dem Fuße folgte Chick dem Hinkenden nach. Dessen ganzes Gebaren ließ darauf schließen, dass er in dem Hotel wohnte, denn er setzte sich in einen bequemen Schaukelstuhl und unterhielt sich freundschaftlich mit dem Wirt. Dieser gab Chick auf dessen klug und unverfänglich gestellte Fragen ganz unbefangen Namen und Stand des Fremden, der im Hotel für ständig wohnte, Andrew Staples hieß, ein Buchmacher oder herabgekommener Turfman zu sein schien und seiner Angabe nach aus Chicago kam. Chick blieb noch eine Weile im Saloon und hörte, anscheinend ohne darauf zu achten, wie Staples einigen Bekannten, die von der Tagesarbeit heimkehrten, wortreich berichtete, wie er am Spätnachmittag falsch von einer nicht anhaltenden Straßencar abgesprungen und böse zu Fall gekommen sei. Der Fußknöchel sei verletzt, und der Arzt habe erklärt, das sei eine langwierige Geschichte, und die Heilung würde mindestens eine Woche, wenn nicht noch länger, in Anspruch nehmen.

»Well«, meinte der Detektiv, als sich Chick draußen mit ihm wiedervereinigt und ihm Bericht erstattet hatte, »der Bursche fühlt sich im Hotel sicher und kann dieses wegen seines verstauchten Fußes vorläufig kaum verlassen … Wir können ihn also erreichen, sobald wir ihn brauchen. Vorläufig wollen wir zu dem Stationshaus gehen, denn ich möchte von dem Capitain gern näheren Aufschluss über diesen William Conlin und seine Genossen erhalten.«

Der Polizeigewaltige befand sich in seinem Dienstzimmer und war dem berühmten Detektiv gern gefällig.

»Well«, meinte er, »dieser Conlin ist ein Nichtstuer und Bummler, der sich natürlich den Lebensunterhalt durch allerlei schiefe Praktiken verschaffen muss. Sowohl er als auch die übrigen Mitglieder seiner sogenannten Gang sind Gelegenheitsdiebe, die sich unter Umständen auch mit einer schwierigeren Arbeit befassen, lohnt diese sich. Ihr Versammlungsort ist der Saloon an der Ecke der 42th Straße und der 2nd Avenue, und der Platz ist so harmlos wie seine Besucher … Richtig schwere Jungens, wie wir deren in New York leider nur allzu viele haben, sind weder Conlin noch dessen Kumpane.«

»Immerhin wäre es mir angenehm, deren Bekanntschaft zu machen … und zu diesem Behuf, mein lieber Capitain«, erklärte Nick gelassen, »wäre es mir lieb, wenn Sie mich und meinen Gehilfen nachher verhaften lassen wollten.«

»Nun wird’s Tag!«, erwiderte der Polizeikapitän. »Nick Carter verhaften lassen!«

»Natürlich nur scheinbar«, bemerkte der Detektiv. »Wir werden uns mit Ihrer Erlaubnis in Ihrem Zimmer ein wenig zurechtmachen, sodass uns die Loafers nicht erkennen. Bald, nachdem wir die Eckwirtschaft betreten, schicken Sie zwei der Bezirksdetektive nach, die uns verhaften, aber nach einigem Hin und Her unter der Vorgabe, sich in unseren Personen geirrt zu haben, wieder freigeben sollen.«

»Aber wozu das?«, entgegnete der Kapitän erstaunt.

»Well, das ist so ein freundlicher Einführungstrick meines Meisters«, fiel Chick lachend ein. »Auf diese Weise trauen uns die Brüder eher, denn sie halten uns für ihresgleichen.«

»Famoser Gedanke!«, meinte nun auch der Polizeigewaltige schmunzelnd. »Abgemacht, meine Herren, in einer halben Stunde werden Sie ohne Gnade und Barmherzigkeit verhaftet!«

Als die beiden bald darauf den ihnen von dem Polizeicaptain bezeichneten Saloon betraten, fanden sie ihn gut besetzt.

In einer Ecke erspähte Nick den am Spätnachmittag von ihm festgenommenen William Conlin. Da er und Chick sich in vorzüglichster Weise verkleidet hatten, konnten sie es ohne Weiteres wagen, sich in die unmittelbare Nähe des Burschen zu begeben. Sie ließen sich am nächsten Tisch nieder, kümmerten sich aber gar nicht um ihn, sondern schwatzten in einer heimlichen Weise miteinander, die im Verein mit ihren scheuen, misstrauischen Blicken darauf hinzudeuten schien, dass sie irgendwo etwas ausgefressen hatten, was die Polizei beschäftigte.

Richtig! Es dauerte noch keine Viertelstunde, da traten auch schon die Bezirksdetektive in den Saloon ein; das sind Leute, welche in ihrem Bezirk bekannt sind wie junge Hunde. Auch diesmal erregte ihr Erscheinen im Saloon unter dessen mehr oder minder mit schlechten Gewissen behafteten Stammkunden unliebsames Aufsehen. Auch Conlin verfärbte sich ersichtlich, und er atmete erst befreit auf, als die Detektive, nachdem sie argwöhnisch jedweden im Saloon betrachtet hatten, sich plötzlich barsch an Nick und dessen Gehilfen wendeten.

»Nein, Mister, Sie bellen den falschen Baum an«, knurrte Nick, als einer der Beamten ihn als Burke Corrigan ansprach. »Auf so einen Namen höre ich nicht … Das ist ein Irrtum.«

»Ich glaube, die Namen sind bei Euch so wohlfeil wie Brombeeren im Wald«, entschied der Detektiv. »Jedenfalls kommt Ihr beide mit zum Stationshaus.«

»Warum denn?«, wollte Nick wissen. »Wir sitzen hier ganz mollig.«

»Fielt Ihr heute Morgen um zwei Uhr nicht zwei Männer an der Ecke der 42. Straße und Lexington-Avenue an?«, fragte der eine Detektiv streng.

»Gott soll mich bewahren, wie macht man denn das eigentlich?«, erwiderte Chick unter der schallenden Heiterkeit der sich um den Tisch sammelnden Menge.

»Meine Alte erlaubt mir nur bis 12 Uhr nachts auszubleiben«, rief Nick entrüstet.

»Well«, sagte einer der Detektivs, während der Saloon von beifälligem Lachen dröhnte, »Eure Alte werdet Ihr wohl in geraumer Zeit nicht wieder zu Gesicht bekommen, nun voran, verstanden?«

Damit packte er auch schon Nick am Arm, der andere fasste Chick unsanft an, und beide schoben ihre Kollegen, die im Ernstfall mit ihnen Fangball gespielt haben würden, vor sich her zu der Straße, gefolgt von einer ganzen Anzahl der Zechbrüder, und unter diesen auch, wie Nick befriedigt wahrnahm, Conlin.

Auf der Straße erfolgten nochmalige Auseinandersetzungen zwischen den Detektivs und ihren Gefangenen. Die an der Saloontür Lauernden konnten natürlich nicht hören, was da vorging, doch ein schallendes Gelächter ging durch ihre Reihen, als sie wahrnahmen, dass die Bezirksdetektivs endlich ohne ihre Arrestanten abgezogen und diese unschlüssig zum Saloon zurückkehrten.

»Well«, empfing sie der unter der Tür stehengebliebene Conlin, »es war nahe daran, Boys, eh?«

»Verd… nahe!«, meinte Nick. »Wir machten den Eseln Schaumschlag vor – wir wussten selber, dass sie nur auf den Busch klopften, sie können uns ja nichts beweisen«, meinte Nick höhnisch.

»Aber ausgefressen habt ihr es, eh?«, erkundigte sich Conlin angelegentlich.

Chick warf ihm einen bösen Blick zu. »So fragt man Kinder aus!«, brummte er. »Du bist wohl so ein verd… Schnüffler von der Station, was?«

Das erschien Conlin als großer Witz, denn er lachte aus vollem Hals. »Nein, Mister«, erklärte er, mit dem beiden im Saloon an die Bar herantretend. »Mich kriegten sie heute Abend auch schon beim Wickel, nicht die kleinen Kläffer, wohl aber der Oberschnüffler, der Nick Carter …«

»Dem möchte ich einmal auf den Rücken sehen können!«, knurrte Nick bedeutsam.

»Wird dir nie gelingen, Pard«, fiel Chick augenzwinkernd ein; natürlich hatte er recht, denn kein Mensch kann sich auf den eigenen Rücken schauen.

»Könnt ihn auch nicht leiden, den Spürhund, he?«, bemerkte Conlin, indem er eine Runde bestellte.

»Hol ihn der Teufel!«, knurrte Nick. »Er hat mir drei Jahre Sommerhotel am Fluss herauf eingebracht … Ich wollte wohl, ich könnte ihm mal so unter vier Augen begegnen.«

Conlin bestellte schon wieder eine neue Runde.

»Was war es denn?«, wollte er wissen.

Nick stieß einen lästerlichen Fluch aus. »Hört einmal, Kamerad, du bist sehr neugierig, was gehen dich meine Geschäftsgeheimnisse an, he? Du bist ein Schnüffler, der bist du!«

Doch Conlin wollte sich von Neuem halbtot lachen.

»Pard, du bist all right, aber ich bin es auch!«, versicherte er. »Denke nicht daran, Pard … frage die Boys hier im Saloon, wer ich bin.«

Sie hatten sich inzwischen an den vorhin von Conlin eingenommenen hintersten Tisch im Lokal gesetzt, und der Bummler wisperte nun vertraulich auf die neuen Bekannte ein. »Wie ich Euch sagte, Boys, mich hatte der Carter erst heute Abend beim Kanthaken … War eine putzige Geschichte. Da ist einem Advokaten aus Chicago in dem Augenblick, wo er hier im Grand Central Depot eintraf, eine Aktentasche aus der Hand gerissen worden.«

»Eine Geldtasche willst du wohl sagen«, verbesserte Chick einfallend.

»Nein, Pard«, widersprach Conlin, »es waren nur Dokumente drinnen, aber die waren für einen Kenner Geld wert.«

»Ah so«, brummte Nick gelangweilt, »das ist nichts für uns … Mein Freund und ich knacken Geldschränke …gelegentlich auch Schädel. Aber Bargeld muss dabei immer herausspringen.«

Conlin horchte augenscheinlich interessiert auf.

»Well, dann seid ihr also doch richtig zünftig!«, erklärte er. »Unsereiner taugt nicht dazu, ich habe den Schneid nicht … doch lasst euch erzählen«, wisperte er vertraulich weiter. »Der Carter sah den Raub im Bahnhof mit an, und er setzte dem Mann nach …«

»Natürlich«, fiel Chick geringschätzig ein, »und dieser Mann warst du, und er packte dich.«

»Blödsinn!«, erklärte Conlin mit einem überlegenen Lächeln. »Dann säße ich doch gewiss nicht hier … Nein, der Mann war ein anderer … Well, das tut nichts zur Sache«, brach er zur großen Enttäuschung der Detektivs ab, die schon halb und halb gehofft hatten, der Redselige werde ihnen aus freien Stücken den Namen des so dringlich von ihnen gesuchten Braunbarts verraten. »Jedenfalls steckte er mir die Mappe zu, und nun hatte ich den Teufel, den Carter, auf den Hacken … War kein Vergnügen, Pards, kann’s euch sagen!«

»Kann es mir denken!«, fiel Chick lachend ein. »Doch du hast den Dummkopf überlistet?«

»Well, es spielte sich gerade hier vor der Wirtschaft ab«, berichtete Conlin weiter, nachdem er seinem Whiskeyglas wieder auf den Grund geschaut und den Barkeeper herbeigewinkt hatte, um die Gläser wiederum füllen zu lassen. »Nichts da«, wehrte er einen Einspruch Nicks ab, »ich habe genug Geld in der Tasche, um euch die Gurgel salben zu können«, versicherte er prahlerisch.

»Ja, aber wir sind abgebrannt«, knurrte Nick, »ich saufe nicht gern auf fremde Kosten, kann ich es nicht wettmachen … das ist es!«

»Wer sagt, dass du es nicht wettmachen kannst, Pard?«, gab Conlin zurück. »Hört mich nur weiter an … Mag sein, ehe Ihr zu Bett geht, habt Ihr Dollarscheine genug in der Tasche.«

»Hört nur«, fuhr Conlin fort, der, wie den Detektiven natürlich längst klar geworden war, mit seiner Freigiebigkeit eine besondere Absicht verfolgte. »Wir haben da so eine kleine Verrichtung … Es ist eben keiner von den Boys da, sie sind alle unterwegs. Well, ich sage es offen heraus, Mordskerle sind wir nicht. Bei uns spielt es mehr in die Politik … Bei Wahlen und so, da stimmen wir für andere Leute … sechsmal und mehr an verschiedenen Orten, es zahlt sich aus, aber es ist nicht immer Wahltag, und da lässt man inzwischen mitgehen, was sich gerade bietet.« Er lachte verschmitzt und trank den neuen Freunden zu. »All right, also, Boys, ich reiße mit der Ledertasche vor dem Spurhund aus … und pfeife und pfeife« – dabei ließ er leise das am frühen Abend von dem Detektiv schon am Zentralbahnhof gehörte Signal ertönen – »und zum Glück steckten die Boys hier drinnen … sie flitzten heraus, umringten mich … ich strecke einem von ihnen die Tasche zu … die Boys sausen davon, wie auseinandergeplatzt, ich renne noch einen Block weiter und drehe mich dann gelassen nach Carter um. Well, ich sage euch, Pards, so ein dummes Gesicht, wie der Spürhund geschnitten hat, gibt es gar nicht mehr; es war zum Schreien. Natürlich nahm er mich fest – doch was half es, er musste mich wieder laufen lassen, und ich wurde grob …«

»Well, du scheinst mir ein heller Junge zu sein«, erwiderte Nick, anscheinend ein Gähnen verhaltend. »Du wirst dafür deine Taschen mit Dollarscheinen vollgepfropft haben?«

»Soll noch kommen«, wisperte Conlin. »Doch – sagt, Pards, ich kann euch doch trauen?«

»Kunststück«, antwortete Chick, »wer uns was anvertraut, kriegt es nie wieder, geschweige andere, die es nichts angeht!«

Beifällig klopfte ihm Conlin auf die Schulter.

»Will euch was sagen, Pards«, flüsterte er dann von Neuem. »Vertrauen gegen Vertrauen … Wart ihr es heute Nacht oben an der Lexington Avenue, eh? War ein verd… sauberes Stück Arbeit – und elegant, alle Achtung. Ich habe mir sagen lassen, hätte der Kerl nicht wie ein Zahnbrecher geschrien, ihr wärt nun ein paar tausend Dollar schwer, so viel hat er bei sich gehabt.«

Innerlich war der Detektiv so vergnügt, dass er am liebsten den Schurken umarmt hätte, denn natürlich begriff er längst, dass Conlin Miene machte, sie für denselben Handel, in dessen Entwirrung sie begriffen, anzuwerben, doch äußerlich behielt er die gleichgültige, misstrauisch ablehnende Miene bei. »Gib dir keine Mühe, Pard«, knurrte er. »Die Schnüffler von vorhin mussten uns sausen lassen … Sie sollen uns nicht hintenherum zu fassen kriegen, das heißt«, setzte er hinzu, als fürchte er, schon zu viel verraten zu haben, »wir waren es nicht.«

Conlin krähte vor Vergnügen. »Pards, Ihr scheint mir gerade die richtige Hausnummer zu sein«, bemerkte er händereibend. »Schade, dass ich euch nicht schon lange kannte …«

»Wir sind von der Westseite«, warf Chick ein. »Hast du schon von den Black Cats gehört?«

»Allerdings, eine verd… zähe Sippe von der 10th Avenue«, rief Conlin hastig, »doch Carter hat sie gesprengt, so hörte ich, und ihr, Pards …«

»Well, wir lieben eine Luftveränderung und wollen uns mal New York von der Ostseite aus betrachten, das ist alles, was ich zu sagen habe«, bemerkte Nick mit vieldeutigem Grinsen.

»All right, ihr schwatzt wenig, aber wisst zu handeln«, fiel Conlin verständnisinnig ein. »Eh, Pards, wie wäre es, wollt ihr einen Hunderter oder auch doppelt so viel machen?«

»Nun hör aber auf!«, entrüstete sich Chick. »Ich weiß kaum mehr, wie so ein Ding aussieht.«

»Sollst es bald wieder wissen, werden wir einig«, meinte der andere. »Ich wüsste schon was für Euch zu tun – seht, Boys«, fuhr er vertraulich fort, »der Hauptmacher ist ein Sportsmann aus Chicago, ein gewürfelter Bruder … Er war es, der die Ledertasche gestaucht hat … Unten an der 1st Avenue hat er von einem Hausdach springen müssen, nur um dem Carter zu entgehen … Nun hat er sich den Fuß verstaucht und liegt gleich um die Ecke in einer Kaschemme vor Anker.«

»Was kümmert uns das alles!«, brummte Nick unwirsch. »Wir müssen noch Schlafgeld machen, Pard.«

»Darum sorgt nicht, das findet sich«, fuhr Conlin fort, beide vertraulich beim Arm fassend. »Ich sagte Euch doch, dass ich einem von den Boys die Ledertasche gab … Well, der hat es so mit dem Laufen zu tun bekommen, dass er immer noch läuft … und die Tasche mit ihm.«

Nick ließ ein verständnisvolles Pfeifen ertönen. »Aha, damit ist dem Hauptmacher schlecht gedient … Wie heißt er gleich?«

»Staples«, rückte Conlin mit dem Namen heraus, ohne sich dessen bewusst zu werden. »Der geht nun mit auf Grundeis. Er soll die Tasche abliefern und kann es doch nicht …«

»Kunststück, wenn Staples damit durchgegangen ist«, warf Chick ein.

»Staples?«, fragte Conlin gedehnt. »Wer spricht von ihm … Staples ging nicht durch, sondern Danny Martin … das heißt«, fuhr er fort, seine Unvorsichtigkeit gewahrend, »den Namen habe ich eigentlich nicht sagen wollen … Ich kann Euch doch vertrauen, Pards …«

»Nun, was liegt uns daran!«, knurrte Nick. »Er wird von eurer Bande sein.«

Conlin nicke. »Ich meine, er war dabei, denn nun treibt er falsche Spiel mit uns … Will euch was sagen … Pards … Der Loafer will auf eigene Rechnung räubern, das ist es. Die anderen fünf waren schon hier, als ich von dem Stationshaus zurückkam … Seitdem sind beinahe fünf Stunden verflossen, und Danny ist immer noch unterwegs.«

»Mit der Tasche, steht zu vermuten!«, konstatierte Chick und lachte kurz auf.

»Selbstverständlich«, erboste sich Conlin, mit der Faust auf den Tisch schlagend, dass die Gläser tanzten. »Ohne Tasche kein Geld, versteht ihr nun? Was in ihr ist, das weiß ich nicht, doch ich denke mir, es ist ein Kapitalbrocken, sonst wäre Staples nicht derart aus dem Häuschen.«

»Well, Pard, warum wendest du dich da nicht an Nick Carter?«, platzte Chick heraus.

»An Nick Carter?«, fragte Conlin gedehnt und sah ihn verständnislos an.

»Nun ja, es ist doch Detektivarbeit, und dafür ist der Spürhund der rechte Mann.«

Conlin lachte dröhnend. »Spaßvogel«, knurrte er. »Doch im Ernst, Pard, wir sitzen in der Tinte und kriegen keinen roten Cent zu sehen, schaffen wir nicht die Tasche herbei … und zwar rasch, ehe es zu spät ist … Ich habe so eine Ahnung, als triebe Danny falsches Spiel.«

»Aber wie kann er das?«, fragte Nick dazwischen. »Ich denke, Staples ist der Hauptmacher.«

»Gewiss, doch auch er handelt nur im Auftrag … Das zielt höher hinauf, als unsereiner sich es träumen lässt«, entgegnete Conlin. »Was ich brauche, sind zwei Kerle wie ihr, die den Danny zahm machen … Im Guten oder Schlimmen, das gilt gleich, wird nur die Tasche herbeigeschafft …«

»Mit ihrem Inhalt natürlich«, meinte Chick darauf.

»Natürlich«, bestätigte Conlin ernsthaft. »Wie wäre es nun, macht ihr mit, eh?«

»Kerl, du machst mich dumm im Kopf!«, brauste Nick auf. »Wie können wir euch helfen? Wir kennen doch euren Danny nicht … Und überhaupt sind wir anständige Leute.«

»Das sind wir«, bestätigte Chick mit einem Lächeln, welches das Gegenteil verhieß.

»Unsinn!«, unterbrach sie Conlin. »Ich will nur wissen, ob ihr Schneid genug habt, einem Burschen, der es mit zwei starken Männern aufnimmt, die Tasche abzunehmen, zeigt man euch den Mann und seinen Schlupfwinkel.«

»Well, ich fürchte mich nicht vor dem Teufel«, erklärte Nick nun, »und mein Pard auch nicht.«

»Dann sind wir uns also einig«, erklärte Conlin, sich erhebend. »Bleibt hier sitzen. Ich laufe nur um die Ecke und will mal auf den Busch klopfen. Ist der Hauptmacher damit einverstanden, so führte ich euch zu ihm … Trinkt eins auf meine Rechnung inzwischen, ich bin gleich zurück!«

Die beiden Detektive mussten an sich halten, um ihre freudige Erregung hinter gleichgültigen Mienen zu verbergen.

»Well«, meinte Chick endlich gedämpft, als Bill Conlin sich entfernt hatte. »Einen besseren Streich hätten wir nicht machen können …«

»Es ist mir beinahe zu viel Glück!«, entgegnete der Detektiv unter unmerklichem Kopfschütteln. »Dieser Conlin ist das reine Mondkalb … Hätte man es mit lauter solch entgegenkommenden Leuten zu tun, so wäre unser Beruf weiter nicht aufregend.«

»Wir gehen natürlich mit ihm, war?«, erkundigte sich Chick. »Die Sache ist entschieden originell … Nun bekommen wir womöglich noch von den Burschen, denen wir die Tasche abjagen sollen, für deren Herbeischaffung eine angemessene Belohnung.«

»Well, wenn die Sache hält, was sie verspricht, dann ist es die leichteste Aufgabe, die mir jemals gestellt worden ist, und sie hätte auch von den Herren Bezirksdetektiven durchgeführt werden können – doch ich weiß nicht, mir ist merkwürdig unsicher zumute … gerade so, als ob wir vor einem gehörigen Reinfall ständen – und sowas schlägt auf die Nerven«, bemerkte Nick mit unmutigem Auflachen. »Jedenfalls genügst du vollkommen, Chick, um diesem Mr. Staples auf die Bude zu rücken. Ich halte es für besser, Patsy und Ten Itchi auf die betreffenden Fährten zu schicken.«

Damit erhob er sich und ging, indem er es seines Vetters Gewandtheit überließ, dem vertrauensseligen Conlin gegenüber seine Entfernung glaubhaft zu entschuldigen.