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Kriminalakte 11 – Die unschuldige Serienmörderin

Die unschuldige Serienmörderin

Dies ist keine Kriminalakte im eigentlichen Sinn, sondern eher das Protokoll eines der größten Justizskandale des 21. Jahrhunderts. Ein unglaubliches Drama, das sich vor nicht einmal zwanzig Jahren in den Niederlanden, also praktisch in unserer unmittelbarer Nachbarschaft, abgespielt hat.

Lucia de Berk wurde am 22. September 1961 in Den Haag geboren und arbeitete ab 1997 in verschiedenen Krankenhäusern in der Stadt, als sie Ende September 2001 – für sie völlig unverständlich – von der Polizei verhaftet und des Mordes angeklagt wurde.

Alles begann an jenem schicksalhaften 4. September 2001, als frühmorgens im Juliana-Kinderkrankenhaus in Den Haag der sechs Monate alte Säugling Amber verstarb. Das Kind litt an einer Vielzahl von Missbildungen an Lunge, Herz, Hirn und Verdauungssystem und war in der Nacht in Anwesenheit von Lucia de Berk und einer weiteren Krankenschwester kollabiert. Sämtliche Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos und unmittelbar nach dem Todesfall wurde von einem der beteiligten Ärzte ein natürlicher Tod bescheinigt.

Am folgenden Tag jedoch erschien ein Kollege de Berks bei ihren Vorgesetzten und teilte ihnen seinen Verdacht mit, dass es während der Dienstzeiten de Berks in der Vergangenheit bereits zu ungewöhnlich vielen Todesfällen oder Wiederbelebungen gekommen sei. Sofort kam der Verdacht auf, dass es sich beim Tod von Amber um einen unnatürlichen Todesfall handeln könnte, und die Klinik änderte die Todesursache von natürlicher Tod auf unbekannt.

Am 5. September wurde eine Untersuchung von Ambers Tod aufgenommen und erste Befragungen von Mitarbeitern und Kollegen von Lucia de Berk durchgeführt, nachdem man diese mit einem sofortigen Hausverbot belegt hatte.

In einem unmittelbar darauffolgenden arbeitsrechtlichen Verfahren bescheinigten jedoch vierzehn Pfleger und Ärzte des Juliana-Kinderkrankenhauses Lucia, dass sie eine gute und angenehme Kollegin sei. Außerdem wurde eine interne Beurteilung vom August 2001 vorgelegt, wonach sie als sachkundig und zuverlässig galt und gut bewertet wurde. Das Arbeitsgericht erlegte dem Krankenhaus für den Fall von Lucias Unschuld eine Pflicht zur Zahlung von 100.000 Gulden auf.

Das war der Beginn einer Hexenjagd ohnegleichen, bei der jedes Wort, jedes Verhalten, ja sogar die Berücksichtigung mathematischer Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu ihrer Schuld so gedreht wurde, dass sie am Ende als mehrfache Serienmörderin angeklagt und als Todesengel von Den Haag gebrandmarkt wurde.

 

*

 

Am 11. September 2001 fand eine Pressekonferenz statt, die von einem regionalen Hörfunksender übertragen wurde. Dabei teilte der Leiter des Krankenhauses mit, dass eine Krankenschwester an mehreren verdächtigen Todesfällen und Wiederbelebungsversuchen im Juliana-Kinderkrankenhaus beteiligt war. Er versicherte den Angehörigen der Verstorbenen dabei publikumswirksam seine tiefe Anteilnahme.

Am 17. September 2001 stellte das Krankenhaus Strafanzeige bei der Polizei.

Bei deren Überprüfung der Unterlagen des Krankenhauses stellte diese fest, dass es im Zeitraum zwischen dem 1. September 2000 und dem 4. September 2001 neun Todesfälle und Reanimationen gegeben hatte, die entweder als überraschend oder nicht erklärbar angesehen wurden. In allen Fällen hatte Lucia de Berk Dienst.

Daraufhin weitete die Polizei ihre Nachforschungen auch auf zwei weitere Krankenhäuser in den Den Haager Stadtteilen Leyenburg und Vogelwijk und dem Gefängniskrankenhaus in Scheveningen aus, in denen Lucia seit 1997 gearbeitet hatte. Dabei wurden weitere 30 Todesfälle und besondere Vorkommnisse zum Gegenstand der Ermittlungen gegen Lucia. Polizei und Öffentlichkeit sahen in Lucia nun endgültig eine Serienmörderin. So groß und plakativ die Statements der Ermittlungsbehörden und Mitteilungen der Presse anfangs waren, so klein und kaum wahrnehmbar waren die anschließenden Berichte darüber, dass bei der Mehrzahl dieser Vorfälle binnen kürzester Zeit klar war, dass es sich dabei um natürliche Todesfälle handelte und beim Rest gar keine forensischen Untersuchungen durchgeführt wurden.

Eigentlich hätte man Lucia in all diesen Fällen öffentlich für unschuldig erklären müssen.

Eigentlich …

Das Juliana Kinderkrankenhaus präsentierte stattdessen eine abstruse Wahrscheinlichkeitsrechnungen eines Statistikers, wonach eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 7 Milliarden bestand, dass Lucia de Berk tatsächlich nur zufällig bei den verdächtigen Todesfällen und Reanimationen anwesend war. Aufgrund dieser Statistik leitete die Polizei ein Ermittlungsverfahren ein. Lucia de Berk verweigerte daraufhin auf Anraten ihres Rechtsanwaltes jede weitere Aussage.

Danach glitten die weiteren Ermittlungen endgültig ins Abstruse ab.

Auf der Suche nach weiteren Belegen für Lucias Schuld krempelte man nicht nur ihr Leben komplett um, sondern auch das ihrer Familie. Dabei stießen übereifrige Beamte auf Zeitungsartikel und kanadische Polizeiberichte, wonach Anfang der 1970er Jahre, als die Familie de Berk noch in Kanada lebte, ihr Haus niederbrannte. Obwohl in den Polizeiprotokollen unzweifelhaft zu lesen war, dass es sich bei der Brandursache um einen Kurzschluss, also einen technischen Defekt gehandelt hatte und Lucia zu diesem Zeitpunkt gar nicht zuhause war, wurde Lucia im Zuge der weiteren Ermittlungen der niederländischen Staatsanwaltschaft jetzt nicht nur als Mörderin, sondern auch als Brandstifterin verdächtigt. Daraufhin reiste eine Abordnung der niederländischen Polizei nach Kanada, um dort nach weiteren Beweisen zu suchen, die Lucias Schuld bestätigen sollten.

Dabei stießen sie auf den bekannten amerikanischen Kriminalpsychologen und Fallanalytiker Alan Brantley, der zuletzt in der Behavioral Analysis Unit des FBI tätig war.

Allerdings war dessen Ruhm inzwischen verblasst und deshalb sah er in dem Fall Lucia de Berk die große Chance, sich wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu rücken. Er behauptete, dass dieser Brand genau in das Profil einer Serienmörderin wie Lucia passte.

Dazu erfuhren die niederländische Ermittler, dass die kanadische Polizei nach dem Brand bei einer Hausdurchsuchung Lucias Tagebücher sowie mehrere handgeschriebene Texte gefunden hatte, die sich als von Lucia verfasste Kriminalstorys entpuppten. Nach der Befragung von Verwandten und Bekannten stellte sich jedoch schnell heraus, dass Lucia und ihr Bruder richtiggehende Bücherwürmer waren und besonders gern die Werke von Stephen King lasen. Die Teenager versuchten selbst solche Geschichten zu erfinden und niederzuschreiben, um eines Tages mindestens genauso berühmt zu werden wie Stephen King. Daraufhin stellte die kanadische Polizei ihre Ermittlungen ein und legten den Fall zu den Akten.

Nicht so die niederländische Staatsanwaltschaft.

Da in einer der Geschichten der Mord an einer Prostituierten beschrieben wurde, erklärte diese die Schreibversuche des pubertierenden Teenagers posthum zu Mordtexten und verhaftete Lucia am 13. Dezember 2001 noch am Sterbebett ihres Großvaters.

 

*

 

Lucia de Berk wurde daraufhin ins Koepelgevangenis, eine Untersuchungshaftanstalt für Frauen in Breda, überführt. In der Rechtbank von Den Haag, einem Gericht der ersten Instanz, wurde sie daraufhin wegen dreizehn Morden und fünf Mordversuchen in den vier Krankenhäusern, in denen sie seit 1997 gearbeitet hatte, angeklagt. Als es am 24. März 2003 dann zur Verhandlung kam, bestand die Anklage seltsamerweise nur noch aus vier Morden, drei Mordversuchen und plötzlich auch aus Falschaussagen und Urkundenfälschungen im Zusammenhang mit einer angeblich verfälschten Dokumentation über die Verabreichung gewisser Medikamente. Das Gericht stützte sich dabei maßgeblich auf eine neue wahrscheinlichkeitstheoretische Berechnung eines Statistikers, der zufolge jetzt die Wahrscheinlichkeit, dass Lucia nur zufällig bei einer derart großen Anzahl von Todesfällen und Wiederbelebungsversuchen anwesend war, nicht mehr auf eins zu sieben Milliarden bezifferte, sondern »nur« noch auf 1 zu 342 Millionen.

Das Gericht verlangte eine lebenslange Haftstrafe, die eine vorzeitige Haftentlassung grundlegend ausschloss. Lucia legte daraufhin Berufung ein und so wurde ihr Fall schließlich dem Gerechtshof in Den Haag übergeben, der nach über einem Jahr zu folgendem Urteil kam:

»Im Namen des Volkes verurteilt der Gerechtshof von Den Haag heuer am 18. Juni 2004 Lucia de Berk wegen erwiesenen sieben Morden und drei Mordversuchen in drei Krankenhäusern zu lebenslanger Haft und zusätzlicher Terbeschikkingstellig.«

Terbeschikkingstellig, kurz tbs genannt, ist eine im niederländischen Strafrecht vorgesehene Maßnahme, die auf psychisch kranke Straftäter ausgerichtet ist und in etwa mit dem Maßregelvollzug in Deutschland zu vergleichen ist. Die Kombination von lebenslanger Haft und zusätzlicher tbs war mehr als ungewöhnlich, bedeutete doch letztere, dass eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft in späteren Jahren angedacht war, während erstere Maßnahme eine frühzeitige Haftentlassung kategorisch ausschloss.

Entscheidend für dieses Urteil war das Gutachten eines Rechtsmediziners, in dem er behauptete, dass dem ersten Opfer von Lucia eine nicht therapeutische Dosis des Wirkstoffs Digoxin zugeführt wurde. Das Gericht nahm diesen vermeintlichen Mord auch zur Grundlage für den Schuldspruch in den anderen Fällen.

Lucia legte gegen das Urteil beim Hohe Rat der Niederlande eine Kassationsbeschwerde ein. Es dauerte jedoch bis zum 14. März 2006, bis dieser einen Beschluss fasste.

Allerdings war das Urteil für Lucia ein Schlag in Gesicht.

Der Hohe Rat bestätigte zwar, dass die Verurteilung einer lebenslangen Freiheitsstrafe bei gleichzeitiger Verhängung von tbs, das erzwungene therapeutische Maßnahmen beinhaltet, rechtswidrig ist, bestätigte aber das Urteil als solches. Er forderte den Gerechtshof in Amsterdam lediglich dazu auf, das Strafmaß neu festzusetzen.

Wenige Tage nach diesem Beschluss erlitt Lucia einen Herzinfarkt und wurde daraufhin in die Krankenabteilung des Gefängnisses von Scheveningen verlegt.

Am 13. Juni 2006 bestätigte der Gerechtshof von Amsterdam das Urteil zur lebenslangen Haft von Lucia de Berk. Damit war das Strafverfahren endgültig abgeschlossen. Lucia musste den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen.

 

*

 

Doch es gab Licht am Ende des Tunnels für Lucia.

2005 wurde nach krassen Fehlurteilen in zwei Mordfällen die Commissie evaluatie afgesloten strafzaken kurz CEAS genannt, gegründet, deren Aufgabe es war, abgeschlossene Strafverfahren mit strittigem Ausgang zu überprüfen. Die Kommission bestand aus Juristen und Kriminalisten und einem dreiköpfigen Eingangsausschuss, der über die Aufnahme von solchen Fällen entschied, eine Untersuchung durchführte und an die Generalstaatsanwaltschaft eine Empfehlung formulierte.

Der Wissenschaftstheoretiker Ton Derksen und seine Geschwister, die Ärztin Mette de Noo und der Soziologe Bram Derksen waren auf Lucias Fall aufmerksam geworden und kamen schließlich zu dem Schluss, dass Lucia de Berk das Opfer eines Justizirrtums war. Nach und nach bestätigte eine steigende Zahl von Wissenschaftlern ihre Thesen und kamen zu dem Ergebnis, dass die im Strafverfahren gegen de Berk herangezogenen Methoden keinerlei wissenschaftlichen Standards genügten. Die Begründung bestand aus drei unumstößlichen Fakten.

  1. Die beiden Lucia de Berk vorgeblich durch toxikologische Gutachten nachgewiesenen Morde konnten genauso gut natürliche Todesfälle sein, denn in einem Fall erfolgte die Untersuchung mit völlig ungeeigneten Methoden und im anderen Fall waren während der angeblichen Verabreichung des Giftes zwei Ärzte zugegen.
  2. Die statistischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen beruhten auf völlig falschen Vorgaben. Es war völlig falsch, die Wahrscheinlichkeit für die zufällige Anwesenheit Lucias bei den Todesfällen in den drei Kliniken getrennt zu ermitteln und dann durch die simple Multiplikation der drei Ereignisse die Wahrscheinlichkeit für die zufällige Präsenz bei allen anderen Fällen zu bestimmen.
  3. Die erste Anklage gegen de Berk betraf dreizehn Todesfälle, von denen bei vielen ein von de Berk begangener Mord schon allein deshalb ausgeschlossen war, weil sie zum Todeszeitpunkt gar keinen Dienst hatte. Zudem wurde in allen dreizehn Fällen zunächst eine natürliche Todesursache bestätigt.

Ton Derksen wandte sich im August 2006 an Ybo Buruma, den damaligen Vorsitzenden der CEAS. Er konnte nämlich auch beweisen, dass den rechtsmedizinischen Sachverständigen im Prozess gegen Lucia nicht alle notwendigen Informationen vorgelegen hatten, was insbesondere das entlastende toxikologische Gutachten eines Labors in Straßburg betraf, welches vom Nederlands Forensisch Instituut zwei Jahre lang einfach nicht weitergeleitet wurde. Das Gutachten wurde erst bei der Verhandlung vor dem Gerechtshof in Amsterdam im Juni 2006 vorgelegt und konnte aufgrund der bereits abgeschlossenen Beweisaufnahme nicht mehr berücksichtigt werden. Die Staatsanwaltschaft hatte nämlich bis dahin behauptet, das dieses Gutachten keinerlei neue Erkenntnisse beinhaltete.

Am 29. Oktober 2007 veröffentlichte die CEAS ihren Untersuchungsbericht mit der dringenden Empfehlung zur Wiederaufnahme des Prozesses wegen schwerwiegender Verfahrensfehler.

Am 2. April 2008 verfügte der Staatssekretär für Justiz eine zunächst dreimonatige Aussetzung der Haftstrafe de Berks, die er in einem Schreiben an den Vorsitzenden der zweiten Kammer der Generalstaaten damit begründete, dass nach der Durchsicht des Berichts der CEAS erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verurteilung bestehen.

Am 7. Oktober 2008 beschloss der Hohe Rat der Niederlande die Wiederaufnahme des Verfahrens.

Am 14. März 2010 endete das Strafverfahren gegen Lucia de Berk aufgrund der erdrückenden Beweislage mit einem Freispruch.

Am 12. November 2010 wurde bekannt, dass sich Lucia de Berk mit der Staatsanwalt auf eine Entschädigung in nicht genannter Höhe für die sechseinhalb Jahre zu Unrecht erlittene Haft geeinigt hatte. Haga Ziekenhuis, der Rechtsnachfolger des Juliana Kinderkrankenhauses zahlte ihr eine Entschädigung in Höhe von 45.000 Euro.

Der damalige Justizminister sagte in einer ersten Reaktion:

»Das Unrecht, das man Lucia de Berk angetan hat, ist nicht wiedergutzumachen, auch nicht mit Geld.«

Später richtete er ein Entschuldigungsschreiben an Lucia, in dem er die Ereignisse als grauenerregend bezeichnete.

Lucias Geschichte wurde verfilmt und gelangte als niederländischer Beitrag in der Kategorie Bester ausländischer Film bei der 87. Oscarverleihung bis in die Vorauswahl.

Lucia de Berk führt heute dank den Entschädigungen und den Tantiemen aus dem Film und einem Buch, das über sie geschrieben wurde, zwar ein recht sorgenfreies Leben, aber eines wird sie bis über den Tod hinaus nie verwinden.

Sämtliche Verantwortliche, die dafür gesorgt hatten, dass man sie ungerechtfertigt als Brandstifterin und Serienmörderin gebrandmarkt und verurteilt hat, wurden weder arbeitsrechtlich noch strafrechtlich in irgendeiner Weise belangt. Weder die verantwortlichen Personen im Krankenhaus, die Ermittler und Sachverständigen noch die Richter und Staatsanwälte, die sie verurteilt hatten.

Sie alle sind freie Menschen und gehen ihren Berufen weiterhin nach, als wäre nie etwas geschehen.

»Ich vergebe nie«, sagte Lucia später, wenn sie sich wieder an das vor Hass verzerrte Gesicht jener Richterin erinnerte, die sie mit sichtlichem Genuss für immer hinter Gittern geschickt hatte.

Quellenhinweis:

(gsch)

Eine Antwort auf Kriminalakte 11 – Die unschuldige Serienmörderin

  • Paule sagt:

    Die Verantwortlichen kriegste nur an die Kandarre, indem sie jemand anzeigt.
    Bei einer Anzeige muss die Staatsgewalt handeln, automatisch passiert da nichts.