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Slatermans Westernkurier 03/2022

Auf ein Wort, Stranger, kennst du noch Nellie, die Heilige der Goldgräber?

Sie war eine der berühmtesten Frauen des Wilden Westens. Man nannte sie den Engel der Frontier, Engel von Tombstone, die Heilige der Alaska Pioniere und auch Angel of Mercy und die Heilige vom Cassiar.

All diese bewundernden Beinamen erhielt sie aber nicht ob ihres aufregenden Lebens, sondern weil ihre Suche nach Abenteuer und Reichtum stets von einem starken, barmherzigen Mitgefühl begleitet wurde, dass sie keinen Menschen in Not vorbeigehen ließ.

Ihr Ruf brauste wie Donnerhall von Mexiko bis hoch nach Alaska.

Die Leser dieser Zeilen werden jetzt wahrscheinlich das Bild einer heroischen, riesenhaften und bibelfesten Amazone vor Augen haben, die allein schon aufgrund ihres Äußeren geradezu dafür prädestiniert war, es mit all dem Unbill der Pionierzeit aufzunehmen.

Aber weit gefehlt, Nellie Cashman war in Wirklichkeit nur wenig mehr als 1,50 Meter groß und gertenschlank. Mit ihren zarten, weiblichen Gesichtszügen, den großen, schwarzen Augen und ihrem dunklen Haar, das wie poliertes Ebenholz glänzte, war sie eine ausgesprochene Schönheit.

Michael Cunningham, ihr Neffe, in späteren Jahren in Bisbee, Arizona, ein angesehener Bankier, sagte einmal über sie und das völlig zu Recht:

»Wenn sie in meinem Büro wäre und Sie würden hereinkommen und sie kennenlernen und mit ihr sprechen, ohne zu wissen, wer sie ist, würden Sie nie auf den Gedanken kommen, dass sie Nellie Cashman ist.«

 

*

 

Ellen »Nellie« Cashman wurde am 25. August 1845 in dem kleinen irischen Städtchen Midleton im County Cork geboren. Manche Quellen geben ihr Geburtsjahr mit 1844 an, aber inzwischen gilt es als gesichert, dass sie die Ellen Cashman war, die 1845 geboren und am 15. Oktober desselben Jahres dort getauft wurde.

Als ihr Vater Patrick Cashman starb, war sie gerade einmal fünf Jahre alt. Kurz darauf wanderte ihre Mutter Frances Cashman, eine geborene Cronin, zusammen mit ihr und ihrer Schwester Fannie nach Amerika aus. Sie ließen sich schließlich in Boston nieder, worauf Nellie trotz ihres Alters schon bald in einem örtlichen Hotel als Botenjunge oder Page arbeitete, um ihre Mutter finanziell zu unterstützen. Sie bekam diesen Job allerdings nur deshalb, weil der bevorstehende Bürgerkrieg die Zahl der arbeits- und wehrfähigen Männer drastisch verringerte hatte.

Von ihrem Fleiß und ihrem Engagement angetan riet ihr ein gewisser General Hiram Ulysses Grant, der des Öfteren in dem Hotel verkehrte, angesichts der Kriegsgefahr im Osten und deren Folgen ihre Zukunft besser im Westen zu suchen.

Im Jahr 1869, bald nach der Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn, reisten Nellie und ihre Schwester nach San Francisco. Dort heiratete Fannie einen gewissen Cunningham und gründete mit ihm eine Familie, aus der insgesamt fünf Kinder hervorgingen. In San Francisco kam dann auch Nellies Gabe für Menschen zu sorgen und sie zu versorgen immer mehr zum Tragen. Der Ausgangspunkt ihres späteren, legendären Ruhms war dann Nevada, wo sie in den Silberminencamps von Virginia City, Comstock und Pioche Station machte und Schnellimbissbuden betrieb und die Minenarbeiter und Prospektoren mit Essen versorgte. In ihrem Miner’s Boarding House in Pioche verköstigte sie um 1872 täglich bis zu 200 Männer. Viele davon, wenn sie kein Glück bei der Suche nach dem Silber hatten und mittellos und abgebrannt waren, auch kostenlos.

Nellie, schon immer ein von Wanderlust getriebener unsteter Geist, brach ihre Zelte schon bald in Nevada wieder ab und machte sich als Prospektorin ins nördliche British Columbia auf, wo sie sich 1874 dem Strom der Menschen in die Cassiar Mountains zu den neuentdeckten Goldfeldern um Dease Lake anschloss. Eine abgelegene Gegend, in der eine unbarmherzige Natur mit ihren Schnee- und Eismassen und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt jeden Winter unzählige Opfer forderte.

Die Goldfunde erwiesen sich ergiebig, sodass Nellie durch Prospektieren und den Betrieb eines Gasthauses für Goldgräber rasch ein beträchtliches Vermögen anhäufte und sich als vermögende Frau bereits im Herbst desselben Jahres wieder auf den Rückweg in die Zivilisation nach Victoria in British Columbia aufmachte. Als sie dort angekommen war, aber hörte, dass viele der Männer am Dease Lake lebensgefährlich an Skorbut erkrankt waren, traf Nellie umgehend Vorbereitungen, um mit einer Hilfsexpedition zurückzukehren.

Sie heuerte sechs Männer zu ihrer Begleitung an, erwarb von ihrem Geld mehr als 700 Kilo Proviant, darunter viel Zitronensaft zur Bekämpfung des Skorbuts, und brach wieder nach Norden auf. Als der Armeekommandant, der für das Gebiet um die Cassiar Mountains zuständig war, davon hörte, schickte er ihr eine Abteilung Soldaten hinterher, um sie zu retten. In seinen Augen konnte eine Frau, die mitten im Winter in diese Berge aufbrach, nur verrückt sein.

Doch als die Soldaten die vermeintlich Todgeweihte eingeholt hatten, campierte diese mit ihren Begleitern am Stickeen River, bereitete in aller Gemütsruhe über einem Holzfeuer das Abendessen zu und summte dabei eine fröhliche Melodie. Die Soldaten nahmen ihre Einladung zu einer heißen Tasse Tee dankend an und kehrten danach ohne sie zu ihrem Stützpunkt zurück.

Nellie und ihre Gruppe setzten anderntags ihre strapaziöse Reise nach Dease Lake fort. 77 Tage lang kämpften sie sich mit Schneeschuhen und Schlitten durch die tiefverschneite Landschaft, und als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten, waren dort bereits 75 der 200 Männer aus dem Camp dem Skorbut schon so gut wie erlegen.

Doch mit ihrem Zitronensaft und den mitgebrachten Lebensmitteln schaffte es Nellie, nach und nach alle Männer gesund zu pflegen. Dafür verlangte sie nicht einmal einen Cent. Für diese Taten erhielt sie von den Goldgräbern den Beinamen »Engel vom Cassiar«.

 

*

 

Um 1880 lockten sie die Silberfunde in Arizona nach Tombstone.

Doch diesmal verzichtete sie auf das Prospektieren und nahm stattdessen eine Stelle als Krankenschwester in einem Hospital im Cochise County an, was sie aber nicht davon abhielt, gleichzeitig zusammen mit einem Partner namens Joseph Pascholy das Hotel und Restaurant Russ House zu eröffnen, wo schon bald, wie es hieß, das beste Essen der ganzen Stadt serviert wurde.

Das Etablissement gibt es übrigens noch heute und ist unter dem Namen The Nellie Cashmann Restaurant bekannt.

Aber das war noch längst nicht alles. Nellie Cashman führte nebenher noch Sammlungen für den Bau der Katholischen Kirche Sacred Heart durch und organisierte zusätzlich Wohltätigkeitsveranstaltungen für in Not geratene Goldsucher, wie beispielsweise für jenen Pechvogel, der beim Schürfen in einen Minenschacht gestürzt war und sich beide Beine gebrochen hatte. Schon bald wurde Nellie ebenso ein Wahrzeichen von Tombstone wie der O.K. Corral oder das Bird Cage Theater, dem nobelsten Puff in ganz Arizona, in dem auch Wyatt Earp und Doc Holliday des Öfteren zu Gast waren.

1881 starb der Mann ihrer Schwester Fannie, worauf Nellie für sie und ihre fünf Kinder den Umzug nach Tucson, Arizona managte. Als Fannie 1884 an Tuberkulose starb, nahm Nellie die Kinder ihrer Schwester in ihre Obhut.

In ihrer Zeit in Tombstone bewies die kleine, zerbrechlich wirkende Frau, dass sie ihren Mann nicht nur als Gastronom stand, oder als Hotelier, Goldsucher und Unternehmer oder Krankenschwester, sondern dass sie auch eine eigene Meinung hatte, was für eine Frau in dieser Zeit nicht gerade selbstverständlich war, und auch durchaus den Mut besaß, ihre Überzeugungen in der von Männern beherrschten Welt des Westens durchzusetzen.

Ein Beispiel hierzu war das Bisbee Massaker.

Bisbee war zu diesem Zeitpunkt ein kleines Nest, wenige Meilen westlich von Tombstone gelegen. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Ort keine Bank besaß und deshalb die Gehälter der nahe gelegenen Copper Queen Mine am 10ten eines jeden Monats zur Auszahlung in den Tresor des Castaneda Mercantile Gemischtwarenladens gebracht wurden.

Dabei handelte es sich stets um eine Summe von etwas mehr als 7000 Dollar, was einem heutigen Wert von knapp 190.000 US-Dollar entsprach. Am 8. Dezember 1883 versuchte John Heith, ein stadtbekannter Krimineller, zusammen mit fünf anderen Gesetzeslosen diese Summe zu erbeuten. Doch der Überfall ging schief, auch, weil die Lohngelder längst ausgezahlt waren. Die Banditen schossen sich mit beispielloser Brutalität den Weg frei. Als sie Bisbee verließen, blieben vier Tote, darunter eine hochschwangere Frau, und zwei Schwerverletzte zurück. Die Banditen hatten zwar trotz allem etwa 2500 Dollar, eine goldene Uhr und etwas Schmuck erbeutet, aber Deputy Sheriff Stewart Hunt gelang es zusammen mit einem Aufgebot aufgebrachter Bürger, sie binnen weniger Tage nach ihrer Tat zu stellen.

Die Verbrecher wurden nach Tucson gebracht, wo sie von der Grand Jury unter dem Vorsitz von Richter Daniel Pinney am 18. Februar 1884 zum Tod durch Erhängen verurteilt wurden.

Wie alle anderen Menschen des Cochise County verurteilte auch Nellie Cashman dieses Verbrechen zutiefst. Ihren Moralvorstellungen nach war es jedoch ebenso verwerflich, dass ein Zimmermann auf seinem Grundstück, von dem man aus freien Blick auf den Galgen hatte, eine Tribüne baute und Eintrittskarten zu dem grausamen Schauspiel an Höchstbietende verkaufte. Nellies Meinung nach hatten selbst verurteilte Verbrecher das Recht, in Würde und nicht wie zur Schau gestellte Tiere zu sterben. Sie trommelte einige Goldsucher zusammen, mit denen sie in der Nacht vor der Hinrichtung die Tribüne abbaute, und organisierte danach einen Boykott gegen den Zimmermann, der daraufhin kurz danach die Stadt verließ.

Obwohl Nellie wusste, dass die Goldgräber rückhaltlos hinter ihr standen und viele sogar bereit waren, für sie zu sterben, scheute sie sich nicht, sich auch gegen sie zu stellen, wenn sie der Meinung war, dass die Goldgräber im Unrecht waren. So zum Beispiel, als sie während eines Streiks gegen die Central Mining Company erfuhr, dass ein paar Hitzköpfe E. B. Gage, den Haupteigner der Mine, entführen und ermorden wollten.

Um das geplante Verbrechen zu verhindern, fuhr Nellie in der fraglichen Nacht zu dem im Süden der Stadt gelegenen Haus von Gage und lud ihn zu einer Spazierfahrt ein. Äußerlich ruhig und gelassen fuhren die beiden durch die Straßen von Tombstone und weiter nach Benson, wo Nellie dann Gage unversehrt in den Zug nach Tucson setzte.

Von Stund an zählte Gage zu Nellies einflussreichem Freundeskreis, zu dem auch ein angehender Senator gehörte, der mit ihr einst in Arizona nach Gold und Silber gesucht hatte, ebenso wie ein Oberrichter aus British Columbia, den sie als jungen Anwalt am Dease Lake kennengelernt hatte, und der Ölmillionär Edward Doheny, der in jungen Jahren als Tellerwäscher in einem von Nellie Cashmans Gasthäusern gearbeitet hatte.

Das Geld floss nur so in Nellies Geschäfte, aber das Goldgräberfieber und die Abenteuerlust waren stärker und so zog sie nach einer kurzen Episode auf der mexikanischen Halbinsel Baja California, wo sie auf der Suche nach dem gelben Metall in der Wüste fast verdurstet wäre, 1898 mit der Flut Tausender Goldverrückter zum Klondike.

 

*

 

Als eine der Wenigen, welche die Überquerung des Chilkoot Passes überlebten, kampierte sie danach mit ihren Freunden so lange am Lake Laberge in Kanada, bis das Eis des Yukon zu schmelzen begann. Dazu muss man wissen, das zwischen 1897 und 1899 insgesamt einhunderttausend Goldgräber versuchten, über diesen Pass zu kommen und dabei weit mehr als die Hälfte von ihnen ums Leben kam.

Als das Eis dann geschmolzen war, bauten Nellie und ihre Begleiter Boote und fuhren über die Stromschnellen hinunter nach Dawson City.

Kaum in der Stadt angekommen, eröffnete sie eine Schnellimbissbude und einen Lebensmittelladen. Wie immer hatte sie auch in Dawson ein offenes Herz für jeden, der pleite, hungrig oder auf der Suche nach bezahlbarer Ausrüstung war. In Dawson wurden nämlich zum Teil Preise verlangt, die mehr als fünfhundert Prozent über denen lagen, die im Rest der USA handelsüblich waren. Schnell wurde ihr Lebensmittelladen als »Der Zufluchtsort der Goldsucher« bekannt. Dort hielt sie Platz zum Lesen und Schreiben bereit, verteilte Zigarren und des Öfteren auch kostenlos Lebensmittel.

Die Goldgräber waren ihr dafür mehr als dankbar. Es heißt, dass sie Nellie so hoch einschätzten, dass ihr Eintritt in einen Saloon oder ein Tanzlokal für jeden anwesenden Mann das Zeichen war, sich zu erheben und den Hut vom Kopf zu nehmen.

In Dawson hatte Nellie auch ihren größten Erfolg als Goldsucherin. Sie steckte einen Claim ab, der ihr schlussendlich mehr als einhunderttausend Dollar einbrachte.

Für den Rest ihres Lebens machte Nellie den Norden dann zu ihrer Heimat. Ihre Wege führten sie dabei nach Klondike, Fairbanks und Nolan Creek im Yukon Koyukuk County von Alaska. Letztendlich blieb sie schließlich in Koyukuk hängen.

1924 erkrankte sie an einer Lungenentzündung, worauf sie Freunde in das Krankenhaus der Schwestern von St. Anne brachten, jenem Krankenhaus, das sie einundfünfzig Jahre zuvor mit ihrem Vermögen und ihren Spendenaktionen aufgebaut hatte.

Dort starb sie am 5. Januar 1925 und wurde anschließend auf dem Ross Bay Cemetery in Victoria, British Columbia beigesetzt.

Doch die Menschen vergaßen sie nie.

1959 bis 1960 wurde Nellie Cashman als fiktiver Charakter in der von ABC ausgestrahlten Westernserie Wyatt Earp greift ein und in der späteren Serie Death Valley Days dem Publikum wieder in Erinnerung gebracht.

Am 18. Oktober 1994 wurde sie als Teil der Serie Legends of Amerika auf einer Briefmarke der Vereinigten Staaten abgebildet. Am 15. März 2006 wurde sie posthum in die Alaska Mining Hall of Fame aufgenommen und 2007 in das National Cowgirl Museum and Hall of Fame in Fort Worth, Texas. Im Juni 2014 wurde Nellie zu Ehren in der Nähe ihres Geburtshauses in Midleton, Cork County, Irland, ein Denkmal errichtet.

Eine wahrhaft große Frau.

Quellenhinweis:

  • Die Frauen von Juan Swallow Reiter, erschienen in der Time Life Buchreihe Der Wilde Westen. Aus dem Englischen übertragen von Ursula Maria Mössner, Redaktionsleitung der deutschen Ausgabe Hans Heinrich Wellmann
  • www.legendsofamerica.com
  • www.miningfoundationsw.org