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Der Detektiv – Die entführte Gräfin – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 21
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die entführte Gräfin

Teil 2

»Lieber Alter«, sagte Harst draußen auf der Straße zu mir, »dies Fräulein Tiedzen war ein Hauptgewinn. Was meinst du, wollen wir nicht auch mal die Andersen gegenüber besuchen? Man kann nie voraussehen, ob nicht auch die Modistin an der Polizeischeu leidet und ähnlich wie die Papageienmama die Hauptsachen bisher verschwiegen hat. Zunächst wollen wir aber ein kleines Experiment anstellen.«

Wir waren inzwischen an die Kreuzung der Danmarksgade mit dem zum Hauptbahnhof führenden Gammel Kongevej gelangt. Harst rief ein Auto herbei und befahl dem Chauffeur, den Häuserblock Vodroffsvej, Danmarksgade, Gammel Kongevej einmal in gewöhnlichem Tempo zu umfahren. Er zog dann seine Uhr hervor und kontrollierte, wie lange wir dazu brauchten. Als wir an derselben Stelle angelangt waren, von der wir das Auto benutzt hatten, sagte er: »Es stimmt! Genau vier Minuten!«

Wir stiegen wieder aus. Der Chauffeur erhielt einen Fünf-Kronen-Schein, grinste über die verrückten englischen Maate und fuhr davon.

»Denselben Weg, den wir soeben in vier Minuten zurückgelegt haben, hat damals auch der gräfliche Chauffeur benutzt«, meinte Harst gut gelaunt. »Ich wette, es ist an jenem Vormittag regnerisches Wetter gewesen. Sonst hätte die Gräfin nicht den geschlossenen Kraftwagen gewählt. Ihr Gatte wird fraglos noch ein offenes Auto besitzen.«

Was Harst mit demselben Weg in vier Minuten andeuten wollte, war mir sofort klar.

Wir gingen auf das Haus der Modistin Andersen zu. »Der gräfliche Chauffeur gehört mit zu den Entführern«, sagte ich sehr sicheren Tones. »Es ist das gräfliche Auto gewesen, das die Dame davontrug. Nur der Chauffeur hatte gewechselt.«

»Hm!«, machte Harst gedehnt. »Das kann nicht ganz stimmen. Lassen wir jetzt aber alle diese Erörterungen, die vorläufig zwecklos sind. Ah, da ist schon Danmarksgade 72. Das Haus der Tiedzen hat Nr. 14. Merken wir uns das.«

Fräulein Thora Andersen wohnte im 2. Stock des neuen, modernen Gebäudes. Sie ließ uns selbst ein und führte uns in einen kleinen Salon mit geschmackvoller Einrichtung.

Harst erklärte der hageren, großen Dame, die die Würde einer Oberhofmeisterin mit der geschmeidigen Liebenswürdigkeit einer Ersten Modistin in sich vereinte, er habe Fräulein Andersens Atelier vielfach rühmen gehört. Er sei Steuermann und wünsche seiner Braut ein recht hübsches, seidenes Kleid mitzubringen.

Fräulein Andersen bewies Geschäftstüchtigkeit. Sie ließ uns offenbar die ältesten Ladenhüter vorlegen und Harst kaufte eine Robe für 300 Kronen, obwohl doch kein Mensch voraussagen konnte, ob sie der Braut auch passen würde. Die Andersen hielt uns nun fraglos für recht biedere Burschen.

Harst bezahlte, meinte dabei mit einem pfiffigen Grinsen: »Fräulein Andersen, ehrlich: Das Verschwinden der Baronin Söderholm ist für Sie eine feine Reklame. Ich habe nämlich auf diese Weise nur aus den Zeitungen von Ihrem Atelier erfahren und dachte: Na, wo eine Baronin arbeiten lässt, da …

»Gräfin … Gräfin!«, verbesserte Fräulein Andersen stolz. »Sie haben also von der Entführung gelesen. Nun, dann wird es einiges Interesse für Sie haben: Die junge Gräfin ist heute Vormittag elf Uhr, also vor zwei Stunden, wohlbehalten zu ihrem Gatten zurückgekehrt. Der Herr Graf hat mir dies vorhin in seiner Freude telefonisch mitgeteilt.«

Ich war starr. Also zurückgekehrt – freigelassen! Das hätte ich nicht erwartet.

»Na, kein Wunder!«, meinte Harst. »Für eine Million! Das ist doch ein schönes Stück Geld. Dafür kriegt man schon einen 5000-Tonnen-Dampfer! Da scheinen Sie mit dem gräflichen Paar sehr gut bekannt zu sein, Fräulein Andersen.«

»Oh, ich habe für die Gräfin schon gearbeitet, als sie noch Fräulein Stripley hieß.«

»Der Vater muss bis zum Hals im Gold stecken!«, brummte Harst neidisch.

»Allerdings. Aber er trennt sich auch schwer davon. Wenigstens hat man so allerlei von dem Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter dieser Heirat wegen läuten gehört. Das ist nun alles beigelegt. Herr Stripley muss ja eingesehen haben, wie sehr der Graf seine junge Gattin liebt. Wirklich herzerquickend war es, wenn die beiden hier mal bei mir waren! Nein, solche Liebe …! Ach, wie im Roman!«

»Wo hatten die schlauen Schufte die Gräfin denn eigentlich versteckt? Hat der Graf darüber was zu Ihnen am Telefon geäußert, Fräulein Andersen? Wohl irgendwo im Keller, nicht wahr? Und ein Kerl hat wohl stets mit gezücktem Messer Wache gehalten? So habe ich es mal in einer feinen Geschichte gelesen.«

»Der Herr Graf hat mir erzählt, seine Gattin habe vor ihrer Freilassung schwören müssen, nichts hierüber zu verraten, nichts, nicht mal ihrem Mann. Und den Eid muss sie ja nun halten. Der Graf meinte, es sei jammerschade, dass man den Halunken jetzt wohl niemals mehr ihre Millionenbeute abjagen könne. Anderseits freute er sich, dass seine Gattin so gesund und frisch ihm wieder zurückgegeben sei. Die Herrschaften sind jetzt hier in der Stadt bei Herrn Stripley. Ich habe schon einen Strauß Rosen hingeschickt.«

Die 300-Kronen-Robe war inzwischen in einen Karton verpackt worden. Wir verabschiedeten uns. Und zehn Minuten darauf schenkte Harst den Karton nebst Inhalt einer blassen Blumenverkäuferin am Hauptbahnhof, der er noch ihre schönsten Rosen abnahm.

Harst spielte seit dem Besuch bei der Andersen den Schweigsamen. Wozu er den Strauß Rosen für 80 Kronen erstanden hatte, wurde mir erst klar, als uns ein Auto zu dem ältesten Viertel Kopenhagens und vor das Kaupmanna-Haus brachte.

Wir läuteten an der Haustür. Ein Diener, ein Inder in heimischer Tracht, öffnete. Gleich darauf standen wir in einem riesigen, durch elektrische Ampeln hell erleuchteten Flur, der wie ein Raritätenkabinett aussah. Man merkte: Adam Stripley war in Indien, China, Japan und Australien gewesen. Das reine Völkermuseum.

Harst erklärte nun dem indischen Diener, wir beide seien eine Abordnung der im Hafen liegenden Brigg Chancellor und wollten die Lady Söderholm zu ihrer Befreiung beglückwünschen.

Der Inder verneigte sich und verschwand, kehrte aber bald zurück, führte uns die gewundene, reich geschnitzte Treppe empor durch eigenartig und prunkvoll ausgestattete Räume in eine große Glasveranda, wo Herr Stripley und das Ehepaar an einer reich gedeckten Mittagstafel saßen.

Ich will Einzelheiten fortlassen. Harst betete seinen Glückwunsch stockend und sehr verlegen tuend herunter: »Wir auf dem Chancellor haben nämlich so zwei Parteien, Herr Graf«, erklärte er, auf seinem Rohrsessel hin und her rutschend. »Wir haben gegeneinander gewettet. Sie verstehen, Herr Graf: Die eine Partei meinte, die Lady würde trotz der Million nicht freigelassen werden. Die andere meinte: die Million genügt! Na, und als nun einer von uns vorhin die Nachricht mit an Bord brachte, dass die Lady hier bei Master Stripley sei, na, Sie wissen nun, wie es gemeint ist, Herr Graf.«

Graf Christian Söderholm war ein schlanker Mann mit etwas weichlichem, hübschem Gesicht; Aristokrat vom Scheitel bis zur Zehe. Die Gräfin eine blonde Venus mit dunklen Glutaugen, Grübchen in den Wangen und einem reizend liebenswürdigen Lächeln. Sie sah prächtig frisch aus. Ihre Augen strahlten, Ihre Wangen zeigten eine Farbe, um die sie jede Frau glühend beneidet hätte.

Adam Stripley wieder war klein, mager, bartlos und hatte einen wahren Charakterkopf. Nur seine Augen waren seltsam unstet, irrten beständig hin und her. Wir erhielten ein Glas Wein, mussten mit den Herrschaften anstoßen.

Stripley meinte gallig: »100.000 Kronen zahle ich noch heute dem, der mir diese Halunken greifen hilft. Diese Schufte, meiner Tochter noch einen Eid abzunehmen! Ich hatte gehofft, Tessa würde uns einen Wink geben können, wo diese Erpresserbrut zu suchen sei. Verdammt, auch damit ist es nichts! Die Million schmerzt mich nicht. Nur der Gedanke, dass man Adam Stripley so viel Geld abgegaunert hat, ist mir unerträglich, mir abgegaunert – noch ist nicht das letzte Wort in dieser Sache gesprochen! Jetzt, wo Tessa wieder da ist, soll die Brut mich kennenlernen!«

Der Graf saß neben seiner Frau und streichelte deren Hände. Sie schauten sich sehr oft so glücklich an, dass es einem ganz warm ums Herz wurde.

Nach fünf Minuten schoben wir dann wieder ab, bekamen jeder noch ein Dutzend Zigarren mit Leibbinden mit und außerdem von dem Grafen 200 Kronen für die Besatzung des Chancellor zu Freigrog.

Wir stampften die Treppe hinab. Der Graf begleitete uns höflich bis an die Haustür, fragte, wann wir den Hafen wieder verließen, und lud uns für den Abend in sein Schloss ein, als er hörte, wir gingen erst am nächsten Vormittag unter Segel.

Harst machte verschiedene Kratzfüße und versprach, wir würden uns um sieben Uhr im Schloss einfinden.

Als wir dann das Kaupmanna-Haus hundert Schritte hinter uns hatten, blieb Harst stehen und steckte sich umständlich eine der Zigarren an, sogar so umständlich, dass ich sofort ahnte, er wolle nur irgendetwas beobachten.

»Was gibt es denn?«, meinte ich. »Diese Streichholzverschwendung sagt mir, dass …«

»… dass du dich nicht etwa umsehen wirst, mein Alter! Sonst verdirbst du uns vielleicht alles!«

Ich stand mit dem Rücken zu Stripleys uraltem Hause hin. Harst paffte nun wie ein Schornstein, rieb noch ein Streichholz an und hielt es an meine Zigarre, die längst brannte.

»Hm«, brummte er dann, »sollte ich mich so verrechnet haben? Es kommt niemand. Und das Gesicht ließ doch mit Bestimmtheit darauf schließen, dass …« Er schwieg, fuhr sogleich fort: »Ein tadelloses Kraut diese Zigarre!«

»Wessen Gesicht?«, fragte ich gereizt. »Deubel noch eins, Harald, spann mich nicht wieder auf die Folter! Diese verdammte Art, mich mit halben Andeutungen abzuspeisen ist …«

»… geradezu verletzend! Das hast du mir schon x-mal vorgehalten, guter Max! Nun, ich meinte das braune Gesicht!«

»Also den Inder. Was ist mit dem?«

»Inder? Na ja, ganz interessant. Man freut sich über jeden Inder. Es war doch schön, dieses Jahr in Indien, weiß Gott! Nun, auch hier kann es sehr schön werden. Übrigens: Du hättest bei Stripley noch mehr den blöden Maat spielen sollen. Als du in deinem Patent-Englisch zu Stripley sagtest, du seist einer Wettsieger, da fixierte ich Graf Christian sehr scharf. Ich fürchte, er hat Argwohn geschöpft. Seine Einladung dürfte wohl auch nur den Zweck haben, uns näher auf den Zahn zu fühlen, schätze ich! Wenn er so schlau ist, sich zu erkundigen, ob hier eine Brigg Chancellor ankert, sind wir schon die Hereingefallenen! Eigentlich glaubte ich, er würde uns entweder selbst nachschleichen oder den Inder hinter uns  her schicken. Bisher hat jedoch niemand das Kaupmanna-Haus verlassen. Wir können nun also weitergehen und in unser bescheidenes Quartier zurückkehren. Ich möchte nur noch die hiesige Filiale der Auskunftei Schimmelpfeng besuchen. Sie wird wohl durchgehende Arbeitszeit haben und noch offen sein. He, Auto – halt!«

Dann fuhren wir davon zu Schimmelpfeng. Ich musste unten im Auto sitzen bleiben. »Pass genau auf, ob uns irgendjemand auf den Fersen ist«, hatte Harst mir zugeflüstert. »Wir wollen unseres Konkurrenten Warnung nicht in den Wind schlagen.«

Harst kehrte nach einer Viertelstunde zurück. Ich beruhigte ihn. »Keine Seele kümmert sich um unser Auto. Was wolltest du denn nun bei Schimmelpfeng?«

»Fragen, ob Stripley wirklich so enorm reich ist. Er ist neunfacher Millionär. Wenigstens versteuert er so viel. Mithin besitzt er das Doppelte.«

Wir fuhren dann zu der deutschen Hafenkneipe Zur Stadt Lübeck, wo wir im sogenannten Logierhaus ein Erdgeschosszimmer bewohnten, dessen Fenster kaum 1 ½ Meter über dem Spiegel eines Seitenkanals des Frederiksholms lagen.

Unser Mittagessen nahmen wir in unserem Zimmer ein. Harst war zunächst wieder sehr einsilbig, taute aber langsam auf.

»Wenn nicht alles trügt«, sagte er dann ganz unvermittelt, »kann ich dir die Erpresser sehr bald zeigen. Vielleicht noch in der folgenden Nacht.«

Kein Wunder, dass ich ihn daraufhin etwas ungläubig anstarrte.

»Das ist ja sehr schnell gegangen!«, meinte ich zweifelnd.

»Weil die ganze Sache, wenn man erst das Motiv bloßgelegt hat, ein Kinderspiel ist.«

»Na, dann hätte ich doch wohl auch dieses Kinderspiel bewältigen müssen«, erklärte ich achselzuckend. »Es wird wohl nur dir so einfach erscheinen. Ich muss nämlich gestehen: Jetzt, wo du noch das braune Gesicht, den indischen Diener, mit eingebracht hast, ist mir die Sache dunkler denn je. Ich hatte eben den gräflichen Chauffeur in Verdacht. Sollte der sich nun in dem Inder einen Verbündeten gedungen haben? Stripley sagte doch, sein Diener sei bereits acht Jahre bei ihm und eine Perle. Und wo ist die Überleitung zu Palperlon?«

Harst lachte mich plötzlich vergnügt an.

»Freund Palperlon scheidet hier aus, mein Alter! Tatsache! Wir haben ihm Unrecht getan. Hier hat er seine Hand nicht mit im Spiel. Es sind einheimische Kräfte, die diesen Geniestreich vorbereitet und recht fein durchgeführt haben. Ich betone: recht fein! Nicht: sehr fein! Sie haben Fehler gemacht. Den Offiziellen sind diese Fehler entgangen, entgehen ihnen noch. Denn der Hauptfehler dauert an, lässt sich nicht so leicht verhüllen oder überpinseln oder retuschieren, ganz, wie du es nennen willst.«

»Was heißt das nun wieder? Fehler dauert an? Überpinseln …?«

Harst blätterte in einem Fremdenführer von Kopenhagen, sah plötzlich nach der Uhr.

»Du, wenn wir uns beeilen, erreichen wir noch den Dampfer nach Malmö. Fix also!«

Wir kamen in letzter Sekunde an die Anlegestelle. Der Dampfer hatte das Fallreep eingeholt.

Um vier Uhr waren wir auf schwedischem Boden in Malmö, dem bekannten Eisenbahnkreuzungspunkt. Hier war es ein Leichtes, das Hotel zu finden, in dem die verschleierte Frau und der Herr damals auf Nr. 11 und 12 gewohnt hatten. Harst erklärte den Hotelportiers, wir seien deutsche Privatdetektive, die nach einem Defraudanten suchten. Zwanzig-Kronen-Scheine taten das ihre, die Leute gesprächig zu machen.

Um fünf Uhr konnten wir bereits wieder nach Kopenhagen zurück. Wir wussten nun, dass die Dame, die auf Nr. 11 genächtigt hatte, ihr Gesicht sehr sorgfältig vor jedermann verhüllt und dass ihr Begleiter einen blonden Künstlerbart besessen hatte, dazu eine goldene Brille. Die Dame hatte einen langen seidenen Mantel getragen, schottisch gemustert.

Kaum waren wir in Kopenhagen, als Harst die nächste Postanstalt aufsuchte. Ich stand neben ihm, als er folgende Depesche ausschrieb:

Marinemaler Armin Hölger, Warnemünde
Erwarte dich morgen Abend 9 Uhr bei mir. Bitte keine Zwischennachricht. Gruß Christian.