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Adventskalender 2021 – 15. Türchen

Das Königskind
Aus: Deutsche Märchen von Karl Simrock, Stuttgart, 1864

Einem Soldaten träumte, er sollte seinen Abschied nehmen, so würde er sein Glück machen. Da ging er zu seinem Haupt­mann und begehrte seinen Abschied. Der redete ihm aber zu, noch zu bleiben, versprach, ihn avancieren zu lassen und machte ihn auch gleich zum Gefreiten. Der Soldat ließ sich bereden; in der Nacht träumte ihm aber wieder, er sollte seinen Abschied begehren, sonst könnte er sein Glück nicht finden. Er gingt also wieder zum Hauptmann und drang auf seinen Abschied. Der Hauptmann sagte aber, er solle doch ja bleiben, er könne es noch bis zum General bringen, und machte ihn auch gleich zum Korporal. Noch einmal ließ er sich beschwatzen. Als ihm aber in der Nacht wieder träumte, er müsse seinen Abschied nehmen, weil er sonst sein Glück nicht finden könne, ging er zum dritten Mal zum Hauptmann, bestand auf seinem Abschied und kriegte ihn auch nun wirklich. Alsbald begab er sich auf die Wanderschaft und kam in eine Hauptstadt, wo alles mit schwarzen Tüchern behangen war. Da ging er in ein Wirtshaus und fragte, was die schwarzen Tücher bedeuteten, die von allen Häusern hingen.

Da sagte der Wirt, des Königs Tochter sei schon vor der Geburt verwünscht gewesen; als sie aber zur Welt gekommen sei, habe sie gleich zu sprechen angefangen und dem König gesagt, sie müsse binnen dreier Tage sterben. Alsdann solle er sie vor dem Hochaltar begraben lassen und jede Nacht eine Schildwacht dahin schicken; auch ein gebratenes Kalb mit einem Fässchen Wein auf einen Tisch stellen lassen. Das sei auch geschehen; aber jeden Morgen sei der Schildwacht das Genick gebrochen gewesen. Darum wolle nun niemand mehr da Schildwacht stehen, obwohl der König habe ausrufen lassen, wer sein Kind erlöse, solle sie zur Gemahlin haben und nach seinem Tod das Königreich erben.

Der Soldat sagte, so sollte er dem König melden, ein Korporal erbiete sich, heute Nacht den Posten zu beziehen.

Der Wirt sah ihn mit großen Augen an und sagte, dann müsste er aber viel Courage haben. Ja, die hätte er auch, er sollte nur gleich mit ihm zum König geben.

Da brachte ihn der Wirt zum König. Der freute sich sehr, gabt ihm Tschako, Gewehr und Patronentasche und bestimmte ihm die Zeit, wann er in die Kirche kommen müsse.

Als nun die Stunde schlagen sollte, wurde ihm doch ein wenig graulich; er ging also ins Wirtshaus, sich erst Mut anzutrinken. Da warnte ihn der Wirt noch einmal, er käme gewiss ums Leben, so gewiss wie alle anderen vor ihm. Endlich kriegte er solche Angst, dass er sich kurz entschloss und mit der ganzen Montur durchging.

Als er aber vors Tor kam, hörte er hinter sich eine Stimme rufen: »Johann, Johann, wo willst du denn hin? Das ist der Weg nicht auf den Posten. Wenn du hingehst, kannst du dein Glück nicht finden.«

Holla, dachte er, hängt das so zusammen, so willst du doch lieber hingehen. Er wendete also wieder um und ging bis dicht vor die Kirche. Da rief ihm dieselbe Stimme noch zu, er sollte vor dem Altar nur fleißig auf und ab patrouillieren, dreiviertel vor zwölf aber sein Gewehr absetzen, Patronentasche, Säbel und Tschako darauf hängen und dann auf die Kanzel sitzen gehen. Alsdann werde mit dem Schlag zwölf der Sarg heraufsteigen, der Deckel sich auftun und das Königskind herauskommen und ihn suchen. Wenn er sich aber ruhig halte, finde es ihn nicht. Das tat der Korporal, patrouillierte fleißig vor dem Hochaltar auf und ab, setzte um dreiviertel vor zwölf sein Gewehr ab, hängte Patronentasche, Säbel und Tschako darüber und ging auf die Kanzel sitzen.

Da fuhr mit dem Schlag zwölf der Sarg empor, der Deckel schlug zurück, das Kind kam heraus, sah sich um und sagte: »Mein Vater hat mir heute die Schild­wacht geschickt, aber weder das gebratene Kalb noch das Fässchen Wein; auch weiß ich nicht, wo die Schildwacht geblieben ist. Schildwacht, melde dich!«

Dem

orporal rieselte es kalt den Leib herab, doch hielt er sich ruhig und gab keinen Laut von sich. Nun schwebte das Kind mitten durch die Kirche zur Orgel und fing an zu spielen und spielte fast eine Stunde. Da schwebte es wieder durch die Kirche zurück, sah den Soldaten auf der Kanzel und rief: »Schildwacht! Schildwacht! Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich habe jetzt nicht mehr Zeit, sonst sollte es dir übel bekommen!«

Da legte es sich mit dem Schlag ein Uhr wieder in den Sarg und der Sarg schloss sich und fuhr hinab.

Nun war die Luft rein, der Korporal kam von der Kanzel herunter und patrouillierte wieder fleißig vor dem Hochaltar auf und nieder.

Am Morgen kam der König mit vier schwarzen Rappen gefahren und stieß den Schlüssel in die Kirchentür.

Der Korporal rief: »Wer da?«

»Gut Freund!«, sagte der König. »Bist du noch am Leben? Ei! Das freut mich! Du kannst mein Kind noch erlösen.»

Da musste er sich zum König in den Wagen setzen und mit ihm zum Schloss fahren, wo er ganz köstlich bewirtet wurde. Danach sagte der König, nun dürfe er spazieren geben oder reiten nach seinem Belieben; am Abend müsste er aber wieder in die Kirche auf Posten.

Als nun die Stunde kam, war es ihm noch nicht recht heimlich. Er ging also wieder ins Wirtshaus, sich guten Mut anzutrinken.

Da sagte der Wirt, ein­mal sei es ihm geglückt; darauf solle er sich aber nicht verlassen , sonst werde er zuletzt doch noch daran glauben müssen, so gut wie die anderen alle.

Darüber fasste ihn wieder die Angst, dass er abermals mit Sack und Pack ausriss, nun aber mit Fleiß einen anderen Weg nahm, um der Stimme auszuweichen.

Aber kaum war er vor dem Tor, so hört er sich wieder beim Namen rufen: »Wo willst du hin, Johann? Hier ist nicht der Weg auf Posten. Wenn du nicht hingehst, kannst du dein Glück nicht finden. Gib Acht, ich will dir auch sagen, was du tun musst, damit dir kein Leid geschieht. Verbirg dich, wenn die Glocke aushebt, zwölf zu schlagen, hinter den heiligen Johannes auf dem Hochaltar; da kann dich das Kind nicht gewahr werden.«

Da kehrte der Korporal wieder um und ging in die Kirche, wo er fleißig vor dem Hochaltar auf und ab patrouillierte und es in allen Stücken hielt wie gestern; nur dass er diesmal auf den Hochaltar hinter den heiligen Johannes sitzen ging.

Mit dem Schlag zwölf fuhr der Sarg empor und tat sich auf, das Kind kam heraus, sah sich um und sagte dann: »Mein Vater hat mir heute zwar die Schildwacht geschickt, aber weder das gebratene Kalb noch das Fässchen Wein; ich weiß auch nicht, wo die Schildwacht steht. Schildwacht, melde dich!«

Aber die Schildwacht hielt sich still und gab keinen Laut von sich. Da schwebte das Kind durch die Kirche zur Orgel, fing zu spielen an und spielte fast eine Stunde. Dann schwebte es von der Orgel zurück zur Kanzel und blies die Kanzel an, dass sie niederstürzte und in tausend Stücke auseinanderbrach. Wie es aber zu dem Hochaltar kommt, sieht es die Schildwacht hinter dem heiligen Johannes sitzen und rief: »Schildwacht! Schildwacht! Warum hast du dich nicht gemeldet? Bliebe mir noch ein Augenblick Zeit, so sollte es dir schlecht gehen. Jetzt muss ich wieder in meinen Sarg!«

Als nun der Deckel zuschlug und der Sarg hinabfuhr, stieg der Korporal wieder hinter dem heiligen Johannes her vom Hochaltar herunter und patrouillierte auf und ab bis an den hellen Morgen. Da kam der König mit sechs schwarzen Rappen gefahren und nahm den Korporal freundlich in seinen Wagen. Der sagte ihm, das Kind aber nun schon zum zweiten Mal den Tisch mit dem gebratenen Kalb und dem Fässchen Wein vermisst; warum er die nicht in die Kirche stellen lasse.

»Ja«, sagte der König, »das habe es auch gleich nach der Geburt schon verordnet; weil es aber immer nichts davon angerührt habe, sei es zuletzt in Vergessenheit geraten. Morgen aber sollte es an nichts fehlen, er möchte sich nur zeitig einstellen.« Da ging der Korporal am Abend wieder ins Wirtshaus, sich frischen Mut anzutrinken, denn damit war es wieder nicht ganz in Reinen.

Der Wirt machte ihm aber diesmal so Bange vor dem Halsumdrehen, dass er zum dritten Mal mit Sack und Pack ausriss und wieder zu einem dritten Tor hinausrannte; da, meinte er, würde er wohl der Stimme nicht begegnen.

Kaum war er aber im Freien, so hörte er sie schon rufen: »Heda, Kamerad, willst du denn durchaus deinem Glück aus dem Wege laufen? Morgen kannst du schon Hochzeit halten und König werden, wenn du nur diesmal noch aushältst. Ich will dir auch sagen, was du zu tun hast. Verbirg dich nur, ehe es zwölf schlägt, in dem Beichtstuhl; bevor aber das Kind von der Orgel kommt, lege dich in seinen Sarg. So kann dir nichts zu Leide geschehen.«

Da ging der Korporal getrost in die Kirche, patrouillierte bis dreiviertel auf zwölf vor dem Hochaltar auf und ab, hängte dann Patronentasche, Säbel und Tschako an sein Gewehr und versteckte sich hinter dem Beichtstuhl.

Schlag zwölf fuhr der Sarg empor und sprang auf, das Kind kam heraus, sah sich um und rief: »Heute hat mir mein Vater nicht bloß die Schildwacht geschickt, auch den Tisch mit dem gebratenen Kalb und dem Fässchen Wein; die Schildwacht sehe ich aber wieder nicht. Schildwacht, melde dich!«

Aber die Schildwacht hielt sich still und gab keinen Laut von sich.

Da setzte sich das Kind an den Tisch und aß auf einem Sitz das ganze gebratene Kalb auf und trank auch das Fässchen Wein aus. Dann schwebte es durch die Kirche zu der Orgel und spielte; aber nur wenige Laute, sodass der Korporal kaum Zeit hatte, von dem Beichtstuhl zum Hochaltar zu geben, wo er sich in den offenen Sarg legte. Da schwebte das Kind schon wieder zurück durch die Kirche und blies den tönernen heiligen Johannes an, dass er vom Hochaltar fiel und in tausend Stücke zerbrach. Als es aber an den Sarg kam, sah es die Schildwacht da liegen und rief: »Schildwacht, steh auf, das ist mein Platz!«

Aber die Schildwacht rührte sich nicht. Eben schlug es eins, da legte das Kind sich über den Soldaten in den Sarg. Es war aber eiskalt und so schwer wie Blei. Der Deckel schlug zu und der Sarg fuhr hinab und das Kind blieb auf dem Korporal liegen, bis es seine natürliche Wärme und Schwere wieder gewann. Denn es fing zu wachsen an, und je größer es wuchs, je leichter wurde es und je mehr verlor sich die Kälte.

Endlich war es eine blühende Jungfrau von zwanzig Jahren geworden. Da fuhr der Sarg empor, der Deckel schlug zurück und die schöne Jungfrau sprang heraus, bot der Schildwacht die Hand und sprach: »Schildwacht, steh auf, du hast mich erlöst und sollst nun mein Gemahl werden.«

Damit zog sie ihn zu sich empor und bot ihm den Mund zum Kuss.

Hatte er da nicht sein Glück gemacht? Inzwischen war es auch Morgen geworden; da kam der König mit acht schwarzen Rappen gefahren und wie er seine Tochter erlöst fand, schickte er den Kutscher mit dem Wagen zurück und befahl, acht weiße Schimmel vorzuspannen. Dann ließ er den Korporal mit der jungen Königin einsteigen, setzte sich dazu und fuhr zum Schloss. Da wurde nun ein großes Gastmahl gerüstet und in der Stadt ausgerufen, die Königstochter sei erlöst, und der sie erlöst habe, solle sie zum Altar führen und des Königs Nachfolger werden. Da war großer Jubel, die schwarzen Tücher wurden mit roten vertauscht und alles Volk drängte sich in die Kirche, der Trauung beizuwohnen. Darauf wurde die Hochzeit mit so großen Freuden begangen, dass wenig daran gefehlt hätte, wenn ich nur auch dabei gewesen wäre.