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Carrier, der Erzteufel – Teil 1

Carrier, der Erzteufel, in eine Menschenhaut eingenäht, der in wenigen Monaten in der französischen Stadt Nantes mehr als fünfzehntausend Menschen von jedem Alter und Geschlecht erwürgen, ersäufen, erschießen, martern und guillotinieren ließ, ein blutdürstiges Ungeheuer und höllischer Mordbrenner
Zur Warnung vor blutigen Revolutionen
Von Dr. F. W. Pikant (Friedrich Wilhelm Bruckbräu)
Verlag der J. Lutzenbergerschen Buchhandlung, Altötting, 1860

Eine schreckliche Neuigkeit

»Was ist denn heute los in unserer von Gott verlassenen Stadt Nantes, dass die Leute auf allen Straßen wie unsinnig hin und her rennen, Bürger Brial?«, fragte die Austernkrämerin Frau Vidot, die vor ihrer Haustür stand, einen eilig des Weges kommenden Mann.

Der Mann sah sie voll Verwunderung mit großen Augen an und erwiderte: »Du weißt also die neueste Neuigkeit noch nicht, Frau Vidot?«

»Nein!«

»Da musst du ja keine Augen und keine Ohren haben und so dumm sein wie eine von deinen Austern!«

»Bürger Brial, das ist grob!«

»Und doch muss es so sein, wie ich gesagt habe.«

»Wieso?«

»Glaubst du denn, dass die Leute da nur zur Unterhaltung oder um sich eine Bewegung zu machen, so hin und her rennen?«

»Nein, das glaube ich nicht, aber eben weil ich nicht weiß, warum sie dies tun, so möchte ich es von dir erfahren, Bürger Brial.«

»Das nächste beste Kind hätte es dir sagen kön­nen, was uns bevorsteht. Es ist durch einen Trompeter vom Regiment in allen Straßen und Winkeln heute früh um sechs Uhr ausgeblasen worden. Lieber wäre mir es, wenn der ganzen republikanischen Mörderbande hier das Lebenslicht ausgeblasen würde, was ohne Zweifel uns selbst bald passieren wird.«

»Ja, lieber Bürger Brial, jetzt habe ich von dir noch immer keine rechte Antwort auf meine Frage.«

»Lagst du denn auf den Ohren, Bürgerin Vidot, als der Trompeter die schreckliche Neuigkeit ausrief?«

»Auf den Ohren liegen? Bei meinem Geschäft? Sonst nichts? Das ginge mir auch noch ab! Da dürfte ich gleich betteln gehen. Ich war hinten im Hofraum, um die Austernkörbchen aufzuschichten. Ich hörte schon trompeten, dachte mir aber, dass Husaren vorbeireiten.«

»Ja so.«

»Du nickst mir zu, als ob du fortgehen wolltest, Bürger Brial, lassest mich mit langer Nase gehen, und ich weiß so viel, wie zuvor.«

»Laut darf ich dir die furchtbare Neuigkeit nicht sagen, denn hier in Nantes haben jetzt auch die Steine auf den Straßen Ohren; sag ich es dir ins Ohr und es bemerkt dies einer von den republikanischen Halunken, Dieben, Räubern, Mördern und Mordbrennern, so zeigt er uns an und wir werden beide geköpft.«

»So geh in meinen Laden herein!«

»Gut, aber aus Vorsicht nicht hier durch die Tür, sondern ums Haus herum und von hinten durch den Hofraum.«

»Einverstanden.«

»Ist im Hofraum kein Taubenkobel?«

»Nein, warum?«

»Weil ein Spion oder Verräter darin stehen könnte.«

»Oho!«

»Ja, ja, ich weiß Beispiele, dass in Häusern vorn­ehmer Leute, welche dem Blutgesindel verdächtig waren, die Spione bei Nacht von den Dächern durch den Rauchfang in die wälschen Kamine herabrutschten, um die Gespräche zu belauschen.«

»Was doch der Teufel diesen Spitzbuben alles einspeit! Aber komm doch herein, sonst erfahre ich die Neuigkeit gar nicht!«

»Wirst sie allemal früh genug hören, Bürgerin Vidot. Ich werde gleich bei dir sein.« Er nahm den bezeichneten Weg in den Laden.

»Da bin ich!«

»Nimm Platz im Sorgenstuhl meines Mannes.«

»Wenn jeder von Sorgen Gequälte einen Sorgenstuhl hätte, so gäbe es bald keine anderen Stühle mehr.«

»Sehr richtig! Mir geht es gerade so, und viel­leicht wird es mir bald noch schlechter gehen, wenn die Neuigkeit, die ich von dir zu hören hoffe, Bürger Brial, eine schlechte ist.«

»Das ist sie auch, Bürgerin Vidot, das ist sie auch, und zwar die allerschlechteste, die aufzutrei­ben ist, – morgen kommt Carrier nach Nantes!«

»Herr Gott, das ist eine schreckliche Neuigkeit!«, rief Frau Vidot erbleichend und zitternd aus und hielt sich am Tisch fest, um nicht umzufallen.

»Sprich nicht so laut von Gott, Bürgerin  sonst kostet es dir den Kopf!«

»Warum denn?«

»Weißt du denn nicht, dass der Nationalkonvent in Paris unseren Herrgott abgeschafft hat?«

»Nein, das ist das erste Wort, das ich davon höre. Wie machte man denn dies?«

»Ja nun, sie haben es verkündigt, und damit genug! Wer sagt, dass er noch an einen Gott glaubt, der wird guillotiniert, was so viel ist wie geköpft.«

»Was hat man denn jetzt statt des abgeschafften Gottes?«

»Die Göttin der Vernunft, ein ordinäres, aber bildschönes Weibsbild, das zur Verehrung auf den Altar gestellt wurde.«

»Das ist ja ein Karnevalsstück! Sind sie denn toll geworden, die da oben in Paris? In dem Na­tionalkonvent müssen ja lauter Narren und Wahnsinnige stecken?«

Mir kommt es auch so vor; wahrscheinlich baden sie sich deswegen im Blut der Unschuldigen, um kuriert zu werden.«

»Was will den Carrier hier in Nantes?«

»Aufräumen, Frau Vidot, bloß aufräumen.«

»Wie soll ich dies verstehen?«

»Nun ja, er will in allen Gefängnissen, die ganz überfüllt sind, wie du weißt, durch Mord aller Art aufräumen, damit wieder Platz für neue Opfer gemacht wird.«

»Da haben wir ja Schreckliches hier zu erwarten?«

»Gewiss; es kann auch uns treffen. So oft ich morgens aufstehe, greife ich immer gleichnach mei­nem Hals, ob ich ihn noch habe. Das ist ein recht trauriges Leben!« »Ich wollte, ich wäre weit weg von hier, von mir aus, wo der Pfeffer wächst; ich ließe gern mein Haus und alle meine Austern im Stich.«

Möchte ich auch, aber es geht nicht; die ganze Stadt ist von den Soldaten der großen Mörderbande umzingelt; da kann niemand durchkommen, nicht einmal ein Vogel, wenn er nicht so hoch fliegt, dass ihn keine Kugel mehr erreichen kann.«

»Wenn es so steht, darf ich mich schon auf mei­nen Tod gefasst machen.«

»Ich auch, Frau. Du weißt, dass ich mit getra­genen und wieder auf den Glanz hergerichteten Klei­dern handle. Gestern kam der Bürger Goullin zu mir, gebürtig von hier, Schreiber beim Wohlfahrts­ausschuss in unserer Stadt, und kaufte sich einen Herbstanzug. Kaufte, ja kaufte, sagte ich, aber ohne zu bezahlen.«

»Du hast doch die Bezahlung nicht verlangt?«

»Das ließ ich bleiben, sonst wäre bald mein Kopf verlangt worden. Als er fragte: ›Was bin ich schuldig?‹, antwortete ich: ›Nichts, Bürger Goullin, und wenn ich dir wieder dienen kann, so komm nur zu mir und verkehre mich nicht als deinen Lieferan­ten!‹ Darüber sehr erfreut, wie mir schien, wurde er zutraulich und erzählte mir, dass der Tribunalrat, Bürger Lamberty, gestern ein sehr großes Verzeichnis von Einwohnern von Nantes angefertigt habe, die zur Einkerkerung in die Gefängnisse, sobald diese durch den Tod der Verhafteten geräumt sein würden und dann zur Hinrichtung bestimmt seien. Nach seiner bestimmten Versicherung, da er dieses Verzeichnis selbst abgeschrieben habe, stehe mein Name nicht darin, und er werde, wenn dort je von mir die Rede sei, nicht vergessen, mich als einen würdigen und eifrigen Republikaner und großen Verehrer von Carrier und Lamberty zu bezeichnen und sich meiner kräftigst anzunehmen.«

»Da hast du mehr gewonnen als durch die Bezahlung der Kleider.«

»Jawohl! Aber ich verlasse mich nicht allzu viel auf diese Sicherheit. Verliert Goullin seinen Posten mit oder ohne Kopf, so springt die Katze auf die alten Füße. Apropos, Bürgerin Vidot, wenn du Geld, Schuck- ober andere Wertsachen hast, so vergrabe sie an einem sicheren Ort! Es kann eine all­gemeine Plünderung geschehen, vielleicht vor dem Niederbrennen der Stadt Nantes, wozu Carrier schon große Lust gezeigt haben soll.«

»Ist schon geschehen, Bürger Brial, ist schon geschehen, damit, wenn ich ums Leben komme, auch die Spitzbuben nichts davon bekommen sollen.«

»Recht so! Ich bin schon oft bei dir vorbeigegangen, ohne einen Mann in deinem Laden zu sehen. Bist du eine Witwe?«

»Nein, mein Mann ist seit kurzer Zeit Pächter einer Austernhandlung in Paris, wo ihn niemand kennt und wo er sicherer zu sein glaubt als hier. Kinder haben wir nicht. Er macht dort sehr gute Geschäfte. Ich sollte mit ihm richten, will aber mein Haus hier nicht verlassen, denn der Wohl­fahrtsausschuss könnte Verdacht schöpfen, nachspüren und meinen Mann und mich um einen Kopf kürzer machen.« »Sehr richtig! Doch jetzt ist es Zeit, dass ich gehe. Ich will noch ein Restaurant besuchen.«

»Ah, verzeih, Bürger Brial, dass ich im Eifer des Gespräches ganz darauf vergessen habe, dir Er­frischungen zu reichen! Alter Cognac und frische delikate Austern stehen dir zu Diensten; auch guten roten Wein habe ich im Keller. Wähle, was dir beliebt!« »Ich danke; ich muss jetzt fort! Da fällt mir noch etwas ein!«

»Was?«

»Mir fällt ein, dass ich dich vor 12 Jahren liebte und heiraten wollte, aber deine Eltern gaben es nicht zu. Da habe ich lange Zeit einen schweren Kummer im Herzen getragen.«

»Du hättest beharrlicher sein sollen, nicht gleich so verzagt, dein Wunsch wäre dann doch noch erfüllt worden. Doch sprechen wir nicht mehr von der Vergangenheit, da uns eine so schreckliche Zukunft bevorsteht! Aber versprich mir, Bürger Brial, morgen früh bei mir eine Erfrischung zu nehmen.«

»Ich verspreche es und werde Wort halten, wenn ich kann.«

»Wieso kann?«

»Weil hier kein Mensch sicher weiß, ob er in der nächsten Stunde nicht schon hinter Schloss und Riegel steckt!«

»Ein qualvoller Gedanke!«

»Sieh doch, Frau, dort drüben an den Häusern den Gerichtsdiener Chablais, den infamen Kerl, hin und her schleichen und auf deinen Laden herüberschie­len! Ich bemerke ihn schon seit mehreren Minuten. Er ist der spürende Bluthund Lambertys und hat es gewiss auf dich oder mich oder auf uns beide abgesehen. Gib Acht, er wird zu dir hereinkommen! Lass ihn nur recht manierlich abfahren. Ich will mich schnell davonmachen, um den Fangzähnen dieses Raubtieres zu entgehen. Leb wohl, Frau! Auf Wie­dersehen!«

»Leb wohl, Brial! Komm morgen gewiss!«

»Ja, wie gesagt, wo möglich.«

Er entfernte sich eilig durch den Hofraum.