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Der Detektiv – Der ewige Jude – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 21
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der ewige Jude

Teil 2

Der Brief war noch nicht zu Ende. Trotzdem ließ ich ihn jetzt in den Schoß sinken, schaute Harst an, lächelte ein wenig erhaben.  Er nickte mir zu.

»Lieber Alter – nicht zu stolz sein auf Deine Aufgeklärtheit! Nicht denken, dieser lütt Hann sei übergeschnappt oder erlaube sich einen Scherz mit mir! Lies weiter. Aber beeile dich. Ich sagte schon: Er hat heute Geburtstag! Und an diesem Tag sollte ja das Dritte geschehen! Um Mitternacht! Ich möchte dabei sein!«

Ich las:

Ich habe diesen Brief nicht abgeschickt. Ich erfuhr noch rechtzeitig, dass Harald Harst noch immer in Indien ist. Ein Bekannter, ein Redakteur, sagte es mir. Nun, vernichten will ich den Brief nicht. Mag er liegen bleiben.

Heute ist der 6. Oktober. Wieder sitze ich morgens am Schreibtisch.

Gestern war der Sterbetag meines Vaters, also der Tag der zweiten Warnung.

Und sie erfolgte! Und wie erfolgte sie!

Ich war des Grauens wieder Herr geworden – glaubte ich. Solange die Helle des Tages Straßen und Wohnungen füllte, blieb ich selbstsicher und sah dem vielleicht Kommenden kühl entgegen. Das Abenddunkel scheuchte mich aus dem Haus meiner Väter. Ich war im Theater. Es gab Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt. Ich sah im letzten Akt die Himmelsleiter, die dem sterbenden Kind im Traum erscheint. Ich verließ das Theater tief ergriffen von der Tragik dieses jungen Menschenschicksals.

Der Mond schien. Ich wanderte an stillen Elbkanälen dahin, vorüber an düsteren Schuten, flachen Fahrzeugen auf denen Steinkohlenberge matt glänzten. Um mich her wurde es immer stiller.

Aus einer engen Gasse schlug nur das leise, wimmernde Weinen eines Kindes entgegen. Ich trat näher. In einem Torwegwinkel hockte ein Etwas, eingehüllt in eine schmierige Decke. Ein blasses Gesicht erkannte ich und mein Mitleid regte sich.

Ich fragte das kleine, blonde Mädchen aus. Ich erhielt keine Antwort. Bis ich dann die Zeichen der schmutzigen Händchen verstand: Das Kind war taubstumm.

Ich nahm die Kleine mit heim. Sie mochte zehn Jahre alt sein. Der Gedanke kam mir, weiter für sie zu sorgen; sie sollte es fortan gut haben.

Ich gab ihr zu essen, zu trinken, was ich in der Speisekammer unten vorfand. Der alte Jochem hörte mich, öffnete seine Tür. Ich log: Ich selbst hätte noch Hunger. Es war halb zwölf, als ich dann das Kind in meiner Bibliothek auf den Diwan bettete.

Ich wusste nun einen Menschen in meiner Nähe. Das war mir lieb gerade heute! Ich saß noch eine Weile nebenan im Arbeitszimmer und zwang jenen seltsamen Zustand herbei, der uns als Halbschlaf erscheint und der doch nichts anderes ist als das Erstarren des Leibes, damit die Seele frei werde, damit ein zweites Ich entsteht, unabhängig von körperlicher Unvollkommenheit.

Dann schlug die Standuhr im Flur Mitternacht.

Ich erwachte – wenn man eben das Zurückgleiten in den Zustand gewöhnlichen Menschseins so nennen will. Ich blickte umher im Zimmer, erinnerte mich an meinen Schützling und …

Plötzlich waren meine Blicke wie gebannt auf dem großen Ledersofa rechts von mir haften geblieben.

Ich hatte vorhin von dort die drei Kissen und die weiche Kamelhaardecke in die Bibliothek mitgenommen, hatte sie für die Lagerstatt des Kindes benutzt. Und nun – nun lagen sie wieder dort auf dem Sofa wie immer!

Jetzt überwältigte mich die Unsicherheit: Ich ging, öffnete die Tür der Bibliothek, drehte das Licht an.

Der Diwan war leer.

Und auf dem Diwan lag auch noch aufgeschlagen die Übersetzung der Schriften des jüdischen Gelehrten Jeruchal, in der ich nachmittags gelesen und die ich erst vorhin auf den Tisch gelegt hatte, als ich das Kind auf dem Diwan das Lager herrichtete.

Weggelegt hatte? Bald war ich überzeugt: Ich hatte sie nicht weggelegt! Ich hatte nie ein Kind dort in der engen Gasse entdeckt und mit mir genommen.

Denn das Kind war verschwunden! Nichts deutete darauf hin, dass es bei mir gewesen sei, als die benutzten Teller, die fehlenden Speisen.

Ich ging und durchsuchte das Haus; ich sah nach, ob die Haustür verschlossen war. Sie war verschlossen.

Eine volle Stunde verwendete ich auf dieses Suchen. Dann prüfte ich in meinen Zimmern nochmals alles genau, denn sah ich ein:  Ich selbst hatte die Speisen genossen! Nur ich selbst konnte es getan haben!

Und dann kam das Entscheidende, das Wichtigste: Ich wollte nachsehen, ob das Buch, die Übersetzung Jeruchals genau an der Stelle aufgeschlagen war, wo ich zu lesen aufgehört hatte.

Es war dieselbe Stelle! Aber auf der rechten Seite fand ich nun halb plattgedrückt und mit dem Körpersaft am Papier klebend einen jener Käfer, die man Totengräber nennt! Ich hatte vorher nur flüchtig hingeschaut und ihn übersehen.

Die beiden Zeilen über ihm waren gesperrt gedruckt und lauteten:

Es wird einer kommen, der mein Vorläufer ist. Man nennt ihn den ewigen Juden. Der wird dir den Weg weisen, dem gehorche!

Totengräber! War das ein Hinweis darauf, dass ich sterben müsste? Sollte das Dritte, das mir Slami Zchumla angekündet hatte, etwa der Tod sein? Sollte vielleicht der Käfer und die Zeilen darüber mir den Weg zu Slami Zchumla weisen, den man ja in Lissabon auch unter dem Namen der ewige Jude kennt? Sollte dieser steinalte, ehrwürdige Mann, den verbürgten Nachrichten zufolge schon die Königin Viktoria von England im Jahre 1860, also vor etwa fünfzig Jahren aufgesucht hatte, um sich von ihm die Zukunft voraussagen zu lassen, vielleicht der Einzige sein, der das über meinem Haupt in irgendeiner Gestalt schwebende Verhängnis abwenden konnte?

Diese und ähnliche Gedanken quälen mich noch jetzt, wo ich dies am Morgen des 2. Oktober niederschreibe.

Heute ist der 10. Oktober. Soeben habe ich in einer Berliner Zeitung gelesen, sehr geehrter Herr Harst, dass Sie wieder daheim sind. Ich sende diesen Brief nun also doch an Sie ab, obwohl ich jetzt so gut wie überzeugt bin, dass mein Fall doch nicht in Ihr Fach schlägt, das heißt, dass hier Vorgänge mitsprechen, die mit unlauteren Absichten nichts zu tun haben.

Am 30. Oktober habe ich Geburtstag. Vielleicht darf ich bis dahin, bevor also das Dritte eintrifft, von Ihnen eine Nachricht oder noch besser Ihren Besuch erwarten, falls Ihnen eben die Prophezeiung des ewigen Juden wichtig genug erscheint, sich damit irgendwie näher zu beschäftigen.

Ich bin Ihr im Voraus dankbarer

Johannes Partorius.

So schloss der Brief.

Ich gebe zu: Noch nie hatte mir aus einem Schreiben ein so geheimnisvoller Hauch entgegengeweht, wie aus den Zeilen des fraglos durch seine mystischen Studien bis zu einer gewissen Grenze nicht mehr ganz normalen Hamburger Patriziersohnes.

Geheimnisvoll – ja, und auch wieder ein seltsamer Reiz lag in dieser offenen Beichte! Ein Reiz, der bei mir hier fast stärker war als gegenüber irgendeinem rätselhaften Verbrechen.

Dies sprach ich nun auch Harst gegenüber mit denselben Worten aus.

Er saß neben mir in dem verschossenen Plüschsessel, nahm mir den Brief ab und erwiderte, indem er aufstand: »Genauso ergeht es mir, mein Alter, genauso. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dem Zufall bin, der uns hier jetzt diesen Brief mit einer Verspätung von über zwei Wochen in die Hände gespielt hat – jetzt, wo wir doch gerade im Begriff sind, Herrn Slami Zchumlas Alter ein wenig nachzuprüfen! Der Brief hat bei uns daheim in Berlin-Schmargendorf in der Blücherstraße zum Glück nicht zu lange gelagert. Er kam noch zur rechten Zeit. Vorwärts – überzeugen wir uns, was Herr Johannes Partorius heute treibt!«

Wir nahmen ein Auto, das nach zehn Minuten am Eingang einer der ältesten Straßen Hamburgs hielt. Langsam schritten wir auf dem schmalen Bürgersteig entlang.

»Die Familie Partorius nennt man hier die Hamburger Vanderbilts«, sagte Harst leise und hakte sich in meinen Arm ein. »Johannes Partorius ist Besitzer einiger sechzig Millionen. Da verlohnt sich schon ein Fischzug für intelligente Betrüger. Ah – da ist schon Nr. 32, das Partoriussche Haus.«

Er blieb stehen, schaute zu den Fenstern empor.

In demselben Augenblick begannen die Turmuhren der Alsterstadt halb zu schlagen – halb zwölf!

»Hm – alles dunkel!«, flüsterte Harst. »Lütt Hann ist vielleicht noch nicht zu Hause. Ein mächtiger Bau, dieses alte Patrizierheim! Es soll Kunstsammlungen enthalten, die viele Millionen wert sind. Was tun wir nun? Läuten wir? Warten wir?«

Abermals schaute er die Fensterreihen entlang, ließ plötzlich ein »Hm – sonderbar!« hören und sagte schnell: »Wir läuten! Reden tue ich! Und du für deinen Teil, mein Alter, gebrauche die Augen. Auch die geistigen! Sehen und Sehen ist ein Unterschied!«

Neben der Tür war eine Platte mit einem großen Bronzelöwenkopf eingelassen. Der Löwe biss in einen Ring. Und dieser Ring war hier der elektrische Druckknopf.

Harst klingelte dreimal in langen Pausen.

Wieder machte er »Hm – hm!« Und das genügte mir: Hier war ohne Zweifel etwas nicht in Ordnung!

Ich nahm mir vor, wirklich die Augen überall zu haben.

Endlich ein Geräusch hinter der Tür. Und über der Tür wurden die bunten, bleigefassten Scheiben hell. Dann das Schnappen eines Riegels.

Ein alter Mann mit weißem Bart und ausrasiertem Kinn stand im Schlafrock vor uns. Das heißt: Wir sahen nur einen Streifen von ihm. Er hatte die Sicherheitskette so gehabt, dass die Tür nur drei Handbreit aufging.

»Sie wünschen?«, fragte er mit verschlafener Stimme.

»Sind Sie der Diener Jochem?«, lautete Harsts Gegenfrage.

»Ja, mein Herr. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich möchte Herrn Partorius sprechen.«

»Bedauere. Der gnädige Herr ist verreist.«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie auch keinerlei Vermutung über Herrn Johannes Partoriusʼ jetzigen Aufenthalt?«

»Nein. Er ist vor fünf Tagen verreist und wollte in einer Woche etwa zurück sein.«

Harst überlegte, fragte dann weiter: »Hat Ihr Herr Ihnen gegenüber einmal den Namen Harst erwähnt?«

»Ja – wiederholt. Er wartete auf eine Nachricht von diesem Herrn, der ein bekannter Detektiv ist.«

Harst erklärte kurz: »Ich bin Harald Harst.«

»Ah – dann werde ich die Herren sofort einlassen.«

Eine große Diele nahm uns auf, ausgestattet wie auf schottischen Schlössern. Eine Doppeltreppe wand sich in den Oberstock empor.

Der Diener bat uns Platz zu nehmen.

»Wer befindet sich augenblicklich hier im Haus?«, fragte Harst und lehnte sich in seinem Sessel bequem zurück.

Jochem erwiderte höflich: »Die Köchin, das Stubenmädchen, dann im Hofgebäude der Kutscher mit seiner Familie und der Chauffeur.«

»Wo schlafen Köchin und Stubenmädchen?«

»Im Seitenflügel zum Hof hinaus.«

»So sind Sie hier vorn ganz allein?«

»Ja, Herr Harst. Ich fürchte mich aber nicht. Wir haben überall sehr geschickt angelegte Alarmglocken. Jeder unbefugte Eindringling meldet sich selbst der nächsten Polizeiwache an, ebenso mir, dem Kutscher und dem Chauffeur.«

»Hm – jeder? Mir war es vorhin so, als wir vor dem Haus standen, als ob am dritten Fenster von links im zweiten Stock die Vorhänge sich öffneten und jemand auf die Straße hinabspähte.«

»Unmöglich, Herr Harst unmöglich!«, meinte der alte Diener eifrig.

»Ich täusche mich in solchen Dingen nie, Jochem! Alarmvorrichtungen lassen sich zerstören.«

Der Alte wurde unruhig.

»Ob wir nicht mal nachschauen gehen?«, schlug Harst vor. »Dort oben im Museum gibt es genug zu stehlen.«

»Gewiss … gewiss! Gehen wir!«

Jochem schritt voran. Leise stiegen wir die Treppen empor. Dann führte der Alte uns vor eine kleine Tür. Den Schlüssel dazu hatte er bei sich, schloss auf, öffnete, flüsterte: »Wir kommen von hier ganz unbemerkt in die Vorderzimmer. Bitte treten die Herren nur ein. Der Lichtschalter liegt linker Hand.«

Bisher hatte nur Jochems Taschenlampe uns geleuchtet. Bevor er die Tür aufzog, hatte er sie ausgeschaltet.

Wir befanden uns nun im Dunkeln.

Ein starker Stoß schleuderte mich auf Harst und uns beide in die Finsternis hinein.

Hinter uns schlug die Tür zu. Bevor wir noch recht wussten, was geschah, senkte sich der Boden, sank mit uns tiefer, immer schneller. Dann ein Stoß – dann flammte Harsts Lampe auf; gleichzeitig fiel von oben, von der Decke dieses Lastenaufzugs (denn ein solcher war es, wie mir ein einziger Blick gezeigt hatte) eine große Flasche herab, zerbrach. Ihr Inhalt floss über die rissigen Dielen, der widerlich süße Geruch von Chloroform verbreitete sich im Moment in dem großen geschlossenen Holzkasten!

»Chloroform!«, rief ich entsetzt und schaute Harst verstört an. Sein Gesicht lag im Schatten. Aber seiner Stimme hörte ich an, wie der Ausdruck dieses Gesichts sein musste.

»Palperlons Werk – ohne Frage!«, flüsterte er mit seltsam rauer, vibrierender Stimme. »Ich fürchte, meine Laufbahn als Detektiv ist beendet. Hier hilft kein Trick. Der Unterteil des Aufzugs ist Eisen. Da … höre … dicke Platten, zu dick für –«

Ein Schwindel packte mich. Die nächsten Worte entgingen mir.

Nochmals raffte ich mich auf; da – Harst umarmte mich.

»Leb wohl, mein Alter! Du warst mir … ein … treuer Freund, ein … uneigennütziger … Kamerad! … Leb …«

Ich hatte den Atem angehalten, um die Chloroformdünste nicht einzusaugen. Nun sank Harst langsam in die Knie; seine Arme glitten an mir herab. Ich musste Atem holen. Ich tat es und ein Wirbel riss meinen Körper in rasender Umdrehung in eine ungeheure Tiefe.