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Rocambole – Das mysteriöse Vermächtnis – Teil 2

Pierre Alexis de Ponson du Terrail
Pariser Tragödien
Rocambole – Das mysteriöse Vermächtnis
Mystischer Roman aus dem Jahr 1867

II

Marmouset und La Mort-des-braves waren einen Moment lang wie vom Schlag getroffen, als sie sahen, wie ihr Gefährte, der Notar, ebenfalls ins Wasser sprang, um dem Flößer l’Etourneau zu helfen, den Ertrinkenden zu retten.

»Ein russischer Prinz?«, murmelte Marmouset mit seinem spöttischen und zynischen Akzent.

»Es ist bekannt, dass sich der Notar überall einmischt. Er ist kein Narr, treu wie ein Hund und jammert, wenn einer Katze die Pfote weh tut.«

La Mort-des-braves zuckte verächtlich mit den Schultern.

Inzwischen setzte das Floß seine langsame Fahrt fort und näherte sich allmählich der Stelle, an der es die drei Männer erreichte, welche sich abrackerten, über Wasser zu bleiben.

Der Mann, der von der Brücke gesprungen war und sterben wollte, war ein Mann von herkulischer Kraft. L’Étourneau, so gut er auch schwimmen konnte, vermochte sich nicht aus seiner Umklammerung zu befreien.

Von Zeit zu Zeit tauchte der Ertrinkende wieder auf und forderte: »Lasst mich sterben!«

L’Étourneau blieb standhaft und versuchte, ihn an den Armen zu packen.

Endlich kam der Notar.

Auch er war ein starker Mann, und zwischen diesen beiden Männern genommen, konnte der Ertrinkende keinen weiteren Widerstand leisten.

Als das Floß in Reichweite war, packten sie ihn beide unter dem Arm und legten ihn auf das Holz.

Der Ertrinkende hatte keine Kraft mehr, war aber nicht bewusstlos geworden.

Er sah sich benommen um, weil der Schein der Fackel auf die Gesichter der Flößer fiel.

»Ich kenne dich«, flüsterte er und sah den Notar an.

»Ich kenne dich auch«, antwortete der Notar, »ich weiß, wer du bist … sonst hätte ich freiwillig kein Bad genommen. Die Angelegenheiten anderer Leute gehen mich zwar nichts an und kümmere ich mich nur um meine Freunde.«

Der Gerettete war ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann mit einem animalischen Gesicht und fast weißen Haaren. Er war näher an den Sechzigern als an den Fünfzigern.

Marmouset und La Mort-des-braves betrachteten ihn neugierig.

Der Notar und l’Étourneau hielten ihn immer noch am Arm fest, damit er nicht wieder in Versuchung geraten könnte, sich erneut ins Wasser zu stürzen.

Aber der Kampf, den er unter Aufzehrung seiner Kräfte ausgefochten hatte, hatte seinen Willen gebrochen.

In einem wahren Kniefall betrachtete er die Männer, die ihm unbekannt waren, und den Zuchthäusler, den er erkannte, aufmerksam: »Du warst dort?«

»Fürwahr!«, antwortete der Sträfling.

»Man nannte dich den Notar …«

»Das ist immer noch mein Name. Und du warst Jean-le-boucher.«

»Jean-le-bourreau«, sagte der Gerettete mit dumpfer Stimme.

»Das ist richtig. Nur hast du am Tag des Bonnet-vert deinen Frieden mit den Kameraden gemacht.«

Jean-le-boucher oder Jean-le-bourreau, wie man ihn im Zuchthaus nannte, denn er war es, lächelte verzweifelt: »Ich habe meinen Meister verraten«, flüsterte er.

Die wenigen Worte, die zwischen ihm und dem ehemaligen Schmied, dem Notar, gewechselt worden waren, hatten die Neugier von Marmouset und la Mort-des-braves in höchstem Maße geweckt.

L’Étourneau, der gute Mann, der weder in Toulon noch in Poissy gewesen war und weinte, wenn man einer Katze die Pfote zerquetschte, verstand nichts vom Jargon seiner Kameraden und ging mit der ruhigen Zufriedenheit, die das Gefühl der erfüllten Pflicht mit sich bringt, zum Heck des Holzfloßes zurück, um sein Ruder wieder in die Hand zu nehmen.

»Was habt ihr denn hier zu suchen?«, fragte la Mort-des-braves.

»Das macht mich auch neugierig«, meinte Marmouset.

Jean-le-bourreau sah sie misstrauisch an.

»Du kannst vor ihnen sprechen«, sagte der Notar, »sie sind Freunde. Im Argot1 bedeutet das Wort Freund Dieb.«

»Und um dir ein Beispiel zu geben«, sprach der Notar weiter, »dieser Kerl hier, so wie du ihn siehst, ist der ehemalige Henker des Zuchthauses von Toulon.«

La Mort-des-braves schnitt eine Grimasse.

Marmouset, der noch keine Erfahrungen hatte, wie der Notar sagte, konnte sich eines leichten Schauers nicht erwehren.

»Aber«, fuhr der ehemalige Sträfling fort, »er hat sich schön herausgeputzt. Und wenn er auf die Straße zurückkehren sollte, würde man ihn wie Rocambole selbst empfangen.«

»Rocambole?«, fragte Marmouset. »Das ist ein komischer Name! Ist das ein Berühmter?«

»Ich habe im Gefängnis schon oft von ihm gehört«, antwortete la Mort-des-braves.

»Der Meister!«, flüsterte Jean-le-bourreau, der seinen Kopf in beide Hände nahm und in düsterer Verzweiflung zu versinken schien.

Das Floß fuhr nun, nachdem es die Pont de la Cité passiert hatte, zwischen der Quai des Orfèvres und der Quai de la Vallée hin und her und nahm ein höheres Tempo an, da die Seine an dieser Stelle wieder ihre Stromschnellen hatte.

Als Jean-le bourreau von einer schrecklichen Erinnerung ergriffen zu sein schien und nicht mehr darauf achtete, was die drei Flößer sagten, fuhr der Notar fort: »Rocambole ist der Gott des Zuchthauses, der Mann, der immer alle Neugierigen und alle Händler von Schnürsenkeln in die Pfanne gehauen hat.  Eines Tages hatte er Lust zu gehen, und die Türen öffneten sich. Als man einen Kameraden guillotinieren wollte, stoppte er das Messer der Guillotine.«

»Das ist bemerkenswert!«, erklärte Mort-des-braves.

»Ich gehe auf die Straße, nur um ihn zu sehen«, sagte Marmouset begeistert.

Dann erzählte der Notar seinen beiden Begleitern in allen Einzelheiten die erstaunliche Geschichte von Rocambole und seiner Flucht aus dem Zuchthaus vor sieben oder acht Monaten.

»Ach«, sagte Mort-des-braves, »wenn wir statt des feigen Konditors einen solchen Anführer hätten, würden wir ein gutes Geschäft machen.«

»Vielleicht …«

In diesem Moment hob Jean-le-boucher den Kopf. »Ihr werdet ihn nicht finden«, flüsterte er.

»Warum?«

»Man hat ihn wieder geschnappt.«

»Er wird erneut fliehen.«

»Und wie hat man ihn wieder eingefangen?«, fragte Marmouset, der es unbedingt wissen wollte.

»Ich habe ihn verraten«, sagte Jean-le-bourreau verzweifelt.

»Du?«, fragte der Notar und runzelte die Stirn.

»Oh, das habe ich nicht absichtlich getan! Aber ich bin ein Unmensch … Der Neugierige hat mich ins Gerede gebracht und mir das Leben schwer gemacht. Deshalb«, fuhr Jean fort, dem zwei dicke Tränen über das animalische Gesicht liefen, »deshalb wollte ich mich vorhin umbringen. Man hatte mich mit Eisen beschlagen. Ich war auf dem Weg nach Toulon. Ich hatte ein Loch in den Zellenwagen gerissen und mich auf die Gleise fallen lassen. Ich dachte, der Zug würde mich überfahren. Als er ganz über mich hinweggefahren war, ohne mich zu erfassen, stand ich gesund und munter wieder auf. Dann kehrte ich nach Paris zurück … und …

Der Notar unterbrach Jean-le-bourreau, indem er erneut aufschrie und sagte: »Ach, schon wieder ein Mann im Wasser!«

Das Floß hatte während der Erzählung des Notars einen weiten Weg zurückgelegt und befand sich nun unterhalb der Brücke von Grenelle.

Die drei Flößer hatten nicht daran gedacht, ihr Leuchtfeuer zu löschen, und es leuchtete zwanzig bis dreißig Meter weit voraus.

In dieser Entfernung sah der Notar einen Leichnam, der auf dem Wasser trieb und seine Arme um ein Brett geklammert hatte.

»Wir müssen ihn rausholen!«, sagte Marmouset. »Das sind fünfundzwanzig Franc!«

Show 1 footnote

  1. Sondersprache der französischen Gauner und Bettler