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Der Welt-Detektiv Band 6

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Bill Hammer – Teil 4

Otto Ruppius
Bill Hammer
Episode aus dem Bürgerkrieg in Missouri
Aus: Die Gartenlaube Nummer 6 bis 9, 1862

Starr die Augen vor sich gerichtet, eilte er der Stadt entgegen. Der Wind umtoste ihn, aber er schien es kaum zu fühlen und griff nur mechanisch dann und wann nach dem Kopf, um seinen Hut fester darauf zu drücken. Da umbog er das letzte Gebüsch. Mit einem einzigen hastigen Blick schien er jede Einzelheit des vor ihm liegenden Bildes erfassen zu wollen. Die letzten vier, etwas abgesondert stehenden Häuser der langen Straße bildeten einen rauchenden, schwarz gebrannten Trümmerhaufen. Sonst schien in der Doppelreihe der übrigen Gebäude nichts beschädigt zu sein. Nach diesen zerstörten Wohnungen aber richtete der Knabe mit einem schluchzenden Laut seine beschleunigten Schritte. Ringsum war nicht ein einziger Mensch zu sehen, weder Freund noch Feind. Erst als Bill, bei den Trümmern angelangt, einen Blick voll Schmerz und Ratlosigkeit um sich warf, entdeckte er die Ursache dieser seltsamen Stille. Der Ausgang der eigentlichen geschlossenen Straße war durch eine Barrikade von Wagen und Fässern gesperrt, eine Befestigung, die jedenfalls Fred Minner noch zu rechter Zeit hatte herstellen lassen. Auf der Höhe derselben tauchte soeben ein Gesicht aus Bills Bekanntschaft auf. Der zugleich mit sichtbar werdende Gewehrlauf ließ den Zweck der Anwesenheit des Mannes leicht erraten.

»Um Gotteswillen, Mister«, rief Bill hinauf, »wissen Sie nicht, was aus meiner Mutter geworden ist?«

»Hallo, Bill!«, kam die Antwort zurück, »krieche hier durch und sieh selbst in der Stadt nach. Heute hat niemand Zeit gehabt, sich um einen anderen zu bekümmern.«

»Es sind doch alle aus den niedergebrannten Häusern hier gesund herausgekommen?«, fragte Bill in einem Ton, dem er umsonst Festigkeit zu geben versuchte.

»Ich denke so, wenigstens habe ich bis jetzt von keinem Unglück gehört«, war die Erwiderung, »werden wohl auch heute noch nicht erfahren, wie viel der Morgen gekostet hat!«

Ein schwerer Druck lag auf dem Herzen des Knaben, als er sich einen Weg zwischen dem verschiedenen Befestigungsmaterial hindurch bahnte. Schnellen Schrittes wandte er sich der Mitte des Städtchens zu, von wo ihm der scharfe Wind Geräusch und verwirrte Laute entgegentrug. Links und rechts auf seinem Weg waren die Fensterläden und Türen geschlossen. Außer einzelnen Bewaffneten, die hier und da sichtbar wurden, ließ sich nirgends ein lebendes Wesen erblicken.

An derselben Stelle, wo Bill am Abend zuvor der deutschen Unentschlossenheit eine Standrede gehalten hatte, sah er nun fast die gesamte männliche Bevölkerung des Ortes bewaffnet und einzelne Haufen geschieden stehen. Die kräftige Gestalt des Müllers Riese schritt ordnend und Befehle erteilend dazwischen umher; vergebens aber sah sich der Knabe nach seinem Freund Minner um. Er scheute, sich besonders bemerkbar zu machen, er fühlte es wie eine Art Schuld auf sich liegen, dass er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können, dass er nun, nachdem sichtlich der Angriff der Sezessionisten abgeschlagen worden war, wie ein nutzloses Ding, das nichts geleistet und zu nichts taugte, zurückkehrte. So wandte er sich nur an einige umherstehende Knaben seines Alters, um nach Fred, von dem er als Erstes Auskunft über seine Mutter zu erhalten hoffte, zu forschen. Niemand aber wusste, wo dieser geblieben war, und selbst einzelne Anfragen in den Haufen der Männer führten nur zu einem Achselzucken als Antwort. Jeder schien im Augenblick nur an sich und die allgemeine Gefahr zu denken. Dagegen traf Bill in dem Kreis seiner Altersgenossen auf einen mächtigen Enthusiasmus für den Müller Riese, welcher der Mann der Situation zu sein schien. Bill musste gegen seinen Willen sich erzählen lassen, wie Riese mit einem einzigen Gehilfen die Mühle gegen die Sezessionisten verteidigt hatte, bis ihnen fast die Flammen über dem Kopf zusammengeschlagen waren; wie dann beide dennoch glücklich entwischt seien und sich während der Nacht im Wald verborgen gehabt; wie sie dann heute Morgen die anrückende Bande bemerkt und noch zeitig genug die Stadt erreicht hätten, um den Räubern einen warmen Empfang bereiten zu können.

Fred Minner hatte mit dem Müller zusammen die anfängliche Verteidigung geleitet, erfuhr Bill auf sein Befragen. Danach aber war von dem Ersteren nichts mehr zu sehen gewesen; möglich, dass er verwundet sei, hieß es, und in irgendeinem Haus liege.

Eilig und mit gepresstem Herzen machte sich der Bursche zu des Freundes Wohnung auf den Weg. Dort fand er alles fest verschlossen, und nur der Widerhall von innen antwortete auf sein immer verstärktes Klopfen. Einige Minuten stand er mit sorgenvoll gerunzelter Stirn, scharf überlegend in den dick überzogenen Himmel blickend. Dann nickte er wie in einem gewonnenen Trost und wandte sich dem nächsten Haus zu. Er wollte die Runde durch die Wohnungen der ganzen Stadt machen, irgendwo musste er auf seine Mutter treffen; denn konnte auch Fred durch irgendeine Notwendigkeit zu einem augenblicklichen Verlassen des Orts gezwungen worden sein, so ließ sich doch dies bei ihr in keiner Weise denken. Und so trat er seine Wanderung an, sich von keinem der Hindernisse ermüden lassend, die sich fast mit jedem Schritt in seinen Weg stellten. Überall fand er die Häuser verschlossen. Nur zaghaft und widerwillig wurde ihm geöffnet oder auch nur durch die Tür nach seinem Begehren gefragt, und selten wurde ihm auf seine Frage mehr als eine kurze verneinende Antwort; niemand hatte seine Mutter gesehen, noch von ihr gehört, und selbst als er auf eine frühere Nachbarin traf, deren Haus gleichfalls niedergebrannt war, wurde ihm weder Auskunft noch Trost gegeben. Die Frau war erst, als der Rauch schon ihre Stube gefüllt, aus dem Bett geschreckt worden und wäre in dem Bemühen, sich zu retten, fast durch das beginnende Gewehrfeuer getötet worden. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihren übrigen unglücklichen Nachbarn ergangen sei.

Immer kleiner wurde die Zahl der Häuser, welche Bill noch zu durchfragen hatte, und immer mehr zog sich bei jeder neuen verneinenden Antwort dem Knaben das Herz zusammen. Seine Mutter samt Fred schienen völlig verschwunden zu sein, und er begann in seiner Angst sich jede Art von Möglichkeit, die dieses Verschwinden zu erklären vermochte, zusammenzustellen. Sein aufgeweckter Verstand verwarf aber die entstehenden abenteuerlichen Gedanken fast ebenso schnell, wie sie sich gebildet hatten. Zuletzt blieben ihm nur noch zwei Annahmen, beide aber so grässlich, dass er sie mit einer schmerzlichen Furcht immer noch in den Hintergrund seiner Seele drängte. Fred war zu Anfang des Überfalls gesehen worden, er mochte sich währenddessen Bills Mutter erinnert und sie zu retten versucht haben. War er dabei in die Hände der wilden Rotte geraten und seine Mutter ohne Hilfe in den Flammen umgekommen oder waren beide vielleicht als Opfer für die Rachsucht der Sezessionisten hinweggeführt worden? Es war eine bekannte Tatsache, dass auf dem bisherigen Mordbrennerzug weder Alter noch Geschlecht geschont worden war, wenn es sich um Deutsche gehandelt hatte.

In fieberhafter Hast setzte er seine Nachforschungen fort und fühlte nicht den wieder beginnenden, vom Wind gepeitschten Regen, vor dem sich selbst die bewaffneten Bürger nach geschützten Stellen zurückzogen. Als aber in dem letzten Haus die Tür vor seinem Gesicht wieder zugeschlagen wurde, als er sich überzeugte, dass innerhalb der improvisierten Befestigungen kein weiterer Ort sich befand, der für die Gesuchten einen Aufenthalt hätte abgeben können, da wurde es ihm plötzlich, als solle die Angst und Ungewissheit ihn wahnsinnig machen. Wie ein Riese hob sich der Gedanke, jede andere Vorstellung erdrückend, in ihm, dass er unter den Brandruinen der Häuser seiner Mutter Gebeine hervorzusuchen haben werde. Ohne selbst recht zu wissen, was er tat, stürzte er die Straße hinab, den zerstörten Wohnungen zu. Er arbeitete sich durch die Barrikade und blieb mit zitternden Gliedern vor den schwarz qualmenden Trümmern stehen, die ihm nicht einmal erlaubten, mit Sicherheit die Stelle anzugeben, wo eins oder das andere der Häuser gestanden.

Aus dem Chaos von Gedanken, stürmenden Empfindungen und dunklen Entschlüssen, welches in diesem Augenblick sein Inneres durchwogte, riss ihn ein wiederholter, halb verdeckter Ruf.

»Master William, ich habe Ihnen etwas zu sagen!«, klang es von Neuem, und Bills verstörter Blick traf auf das Gesicht des Schwarzen, mit welchem er beim gestrigen Verlassen von Andersons Farm das letzte Gespräch gehabt hatte und der nun in einiger Entfernung sich scheu neben einer Gruppe von Büschen hielt. In der gegenwärtigen Stimmung des Knaben musste alles ihm Begegnende Bezug auf die Vermissten erhalten, und die letzten Worte des Negers schienen ihm nur die endliche Beseitigung seiner Ungewissheit zu verheißen. Seine Stimmung sprang von der Verzweiflungsgrenze zur neuen Hoffnung über.

»Hallo, Dick! Warum kommt Ihr denn nicht heran?«, rief er, dem Schwarzen entgegen eilend.

»Darf nicht, Sir!«, erwiderte dieser, den Kopf in die Schultern ziehend und beim Nahen des Knaben völlig hinter das Gebüsch zurücktretend. »Mr. Anderson hält es mit den Sezessionisten, und so meinte der Mann mit der Flinte dort, ich müsse ein Spion sein. Miss Alice hatte mich hergeschickt«, fuhr er, angelegentlich fort, »um Master William, wenn ich ihn träfe, doch um Gottes Willen zu bitten, schnell einmal zur Farm zu kommen!«

»Sie weiß etwas von meiner Mutter oder von Fred Minner?«, fragte Bill hastig.

»Kann es nicht sagen, Master Will, aber ich glaube, sie erwähnte Mr. Minner, jedenfalls muss es recht notwendig sein, um was sie mich schickt!«, war die eilfertige Antwort. »Es ist ein Teil von den Sezessionisten in Mr. Andersons Haus, die, wie es heißt, in der Nacht noch Verstärkung erwarten, und Miss Alice befahl mir deshalb, Sie nur heimlich und auf ganz sicheren Wegen zu der Farm zu bringen.«

»Etwas muss sie wissen, wär es auch jetzt nur von Fred!«, murmelte Bill, wie sich allen Zweifeln entreißend. »Vorwärts, Dick, ich bin fertig!«, rief er, sich den Hut fester auf den Kopf drückend.

Mit einem Nicken der Befriedigung nahm der Schwarze seine Richtung durch den sprühenden Regen quer über das offene Land dem Wald zu. Die Dunkelheit begann schon hereinzubrechen, als beide nach einem mühseligen Weg sich durch ein nasses Maisfeld nahe dem Farmhaus arbeiteten und Dick endlich den Knaben bat, hier ein Weilchen zu warten, damit er nachsehen könne, wie weit ihr fernerer Weg sicher sei. Der Schwarze verschwand und Bill stand zwischen den tropfenden Maisstängeln, bemüht, einen frostigen Schauer von sich zu schütteln. Über ihm brauste der Sturm durch die Bäume, aus der Farm klang zeitweise ein halb verwehtes Lachen herüber, das dem Knaben die gefahrvollsten Augenblicke der letzten Nacht wieder vor die Seele rief. Ein Gefühl wie Heimatslosigkeit überkam ihn. Hier, wo er das letzte Jahr sein Brot gehabt hatte, durfte er sich nicht mehr zeigen. Sein mütterliches Haus war niedergebrannt, und kaum hätte er, seit Fred verschwunden war, gewusst, wo für die nächste Nacht ein Obdach zu finden, wenn es ihm nicht irgendwo aus Barmherzigkeit gewährt wurde. Aber nur für eine kurze Zeit behielt das Gefühl des Zagens in ihm die Oberhand. Dann verwandelte sich sein ganzes Denken und Empfinden in einen grimmigen Hass gegen die Sezessionisten, die das gesegnete Land ins Elend stürzten und alles Familienglück vernichteten, wo sie nur auftraten. Er hätte einen Eid schwören mögen, sie mit ewiger Feindschaft zu verfolgen und des eigenen Lebens dabei nicht

zu achten. Die aus den eigenen Gedanken sich entwickelnde Erregung begann ihn warm zu machen, dass bald Nässe und raue Luft ihren Einfluss auf ihn verloren. Erst nach fast einer Viertelstunde stellte sich Dick wieder ein. Kaum war aber dem Knaben die Zeit bis dahin lang geworden, und als dieser nun dem Schwarzen folgte, fühlte er eine Energie in sich, die ihn vor dem schwierigen Unternehmen, sobald es sich nur gegen die Sezessionisten richtete, nicht hätte zurückschrecken lassen. Es war bereits so dunkel geworden, dass beide, ohne besonderer Vorsicht zu bedürfen, ungesehen zu einem kleinen Hintergebäude gelangten, das zur Aufbewahrung der Feldgerätschaften diente. Kaum hatte hier der Schwarze die Tür geöffnet, als ihnen auch Alice Anderson, von einer Handlaterne beschienen, in sichtbarer Aufregung entgegentrat.

»Halte Wache, Dick! Und benachrichtige uns beizeiten, sobald jemand hierher kommt!«, sagte sie.

Kaum hatte der Schwarze den Raum verlassen, als sie hastig Bills Hand fasste und ihn von der Tür hinweg in das Innere zog.

»Es ist etwas Schreckliches am Werk, Bill«, begann sie mit fliegender Stimme, »ich habe nur etwas davon erlauscht, aber es ist genug, um mich das Ganze ahnen zu lassen. Höre Bill, und dann sage, wie eine Hilfe möglich ist …!«

»Nur eins zuvor, Miss Alice«, unterbrach sie der Knabe, »wissen Sie etwas von Fred und meiner Mutter, von denen kein Mensch in Pleasant-Grove etwas wissen will?«

»Wenn deine Mutter nicht da ist, so hat sie Fred in Sicherheit gebracht, darauf verlass dich. Höre mich nur an!«, entgegnete das Mädchen in Hast. »Fred hat diesen Morgen, kaum dass der Angriff auf Pleasant-Grove abgeschlagen war, sich selbst auf den Weg nach Jefferson City gemacht, um Hilfe herbeizuholen. Ich habe ihn gesprochen und weiß, dass es sein bestimmter Plan ist, mit dem letzten Eisenbahnzug Verstärkung für die Deutschen zu bringen. Es wusste niemand darum als der Müller Riese, welcher an seiner Stelle das Kommando übernommen hat. Und doch ist der Plan nicht geheim geblieben. Mein Vater hat Kenntnis davon und auch der Oberst der Sezessionisten. Ich habe sie beide heimlich miteinander beratschlagen hören. Sie haben die Tragbalken der Eisenbahnbrücke zerstören wollen, dass der Zug durchbrechen und mit allen darauf in den Abgrund stürzen soll. Schon seit Mittag ist Vater weg! Bill!«, rief sie in voller Angst ausbrechend, »sage um Gotteswillen, ob du einen Rat weißt, wie dem grässlichen Unglück vorzubeugen ist!«

Der Bursche starrte das Mädchen mit weit geöffneten Augen an, dann fuhr er wie im plötzlichen Entsetzen auf. »Geben Sie mir die Laterne, rasch! Es ist gewiss schon fast sieben Uhr, und in einer halben Stunde kommt der Zug! Ich muss ihm entgegen laufen und warnen!«

»Aber du kommst nicht über die Schlucht, wenn die Brücke zerstört ist!«, jammerte das Mädchen.

»Ich muss, ich muss«, stöhnte Bill, wie trotz seines Entschlusses von ihrem Einwurf getroffen. »Halt, das ist es!«, rief er und griff nach einem zusammengerollten Seil, auf das seine suchenden Blicke unter den übrigen Gerätschaften getroffen waren. »Und nun, Miss Alice, beten Sie zu Gott, dass er mir es gelingen lässt. Es ist heute kein Glückstag für mich gewesen!«

Die Laterne unter dem Flügel seines Rockes bergend, dass ihn der Schein nicht verrate, eilte er davon, ehe noch das Mädchen imstand war, ein Abschiedswort für ihn zu finden