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Gespensternovellen 9

Vilhelm Bergsøe
Gespensternovellen
Aus dem Dänischen übersetzt von Adolf Strothmann
Autorisierte Ausgabe, Verlag Otto Janke, Berlin 1873
Schimmelmanns Pferd
IV.

Am nächsten Tag sollte Ole Hausen begraben werden. Die Flaggen wehten auf Halbmast beim Zollkontrolleur und auf den Booten an der Küste. An vielen Stellen bei Freunden und Bekannten, auch bei Niels Kei, waren Buchsbaum- und Tannenzweige vor dem Haus gestreut. Alles deutete auf ein Trauerfest, ausgenommen der Himmel, der so klar und heiter war, wie ein dänischer Oktobertag es sein kann. Die Fischer standen in Gruppen vor dem Trauerhaus, wartend, dass an sie die Reihe käme, einen Schnaps und einen Bissen Brot bei dem Verstorbenen zu sich zu nehmen, dessen Wohnstube lange nicht groß genug war, sie alle auf einmal zu beherbergen. Ich schloss mich ihnen an, denn am Abend vorher waren mir mehrere unzweideutige Winke zugegangen, dass ein Student die Ehre, welche man dem Toten erwiese, bedeutend erhöhen würde. Ja, Hellebeck befand sich noch in seinem Unschuldszustand!

Während ich nachdenklich dastand und die schwarzen Leichenschemel betrachtete, die mitten auf den Weg gestellt waren, sah ich Niels Kei herankommen. Er war ungewöhnlich geputzt, mit blankem Hut, blauer Jacke und rotwollenem Hemd; aber er war leichenblass und seine Wangennarbe glühte. Stumm drückte er mir und den anderen die Hand, dann ging er hinein, um seinen Schnaps zu trinken. Gleich darauf ordnete sich der Zug; man hatte nur noch auf Niels gewartet. Der Sarg wurde herausgetragen und auf die Schemel gestellt. Zwei weißhaarige Spielleute mit echten Trauerphysiogomien schritten voran und fiedelten einen Leichenmarsch, der in seiner tragischen Naivität fast komisch anzuhören war. Dicht hinter dem Sarg ging Niels Kei, in seiner Eigenschaft als Freund und wohlhabender Mann, mit der Familie des Toten. Dann folgte ich, als Ehrengast, neben dem Schulmeister, während die zahlreichen Fischer nebst einzelnen Bauern den Abschluss machten.

Still und langsam bewegte sich der Zug in dem klaren, aber kalten Herbstsonnenschein und unter den seltsamen, bald kreischenden, bald klagenden Violinentönen vorwärts. Dann machte man Halt, teils um die Träger zu wechseln, teils auch, wie ich mich bald überzeugte, um dem Verstorbenen noch einmal eine letzte Huldigung zu erweisen. Wenn Blumen und Grün über den Weg gestreut waren, so bedeutete dies, dass Ole Hausen hier einen Freund gehabt hatte. Der Sarg wurde vor der Tür niedergesetzt, die Spielleute geigten eine Art Choral, und dann ging man der Reihe nach ins Haus, um einen Schnaps zu nehmen.

Die Stimmung begann, je weiter man kam, immer weniger traurig zu werden – denn Ole Hausen hatte viele Freunde gehabt. Jedes Mal, wenn wir einer blumengeschmückten Stelle entgegen schritten, strichen die Spielleute lustiger ihre Geigen, das Gespräch erklang lauter und lärmender, und die Schnäpse wurden flinker herumgereicht.

Niels Kei, der sich anfangs hinter dem Sarg gehalten hatte, nahm bald seinen alten Platz neben mir ein, sein Gesicht verlor mehr und mehr den melancholischen Ausdruck, und jedes Mal, wenn er von einem Rundgang zurückkam, drückte er mir fest die Hand, deutete auf den Sarg und sprach mit steigendem Nachdruck des Tones nur die Worte: »Er war mein Freund, Herr Student!«

Ich sah ordentlich mit einer Art Erleichterung den weißen Flugsand um uns her und die Hornbecker Plantage mit ihren hellen Birken und düsteren Föhren im Hintergrunde, denn wäre der Weg auf der ganzen Strecke so bebaut gewesen, so wären wir, glaube ich, alle vielleicht seliger als der Verstorbene nach Hellebeck gekommen. Das Ganze hatte etwas seltsam Possenhaftes. Ja, dieser Eindruck verschwand nicht einmal, als wir, nachdem man den letzten und größten Rundgang im Hornbecker Krug gehalten hatte, auf den Kirchhof gelangten. Der Sarg wurde nach Seemannsbrauch in etwas schaukelnder Weise hinabgesenkt.

Der Prediger hielt eine salbungsvolle Rede, und als die drei unvermeidlichen Schaufeln Sand auf den Sargdeckel geworfen und das Vaterunser gesprochen wurden, hielt ich das Ganze für beendet. Fortwährend hatte ich mit geheimer Aufmerksamkeit Niels Kei beobachtet. Zuerst stand er mit gefalteten Händen und starrte unverwandt vor sich hin. Während der Rede begann er mit den Armen zu schlenkern und den Kopf zu schütteln, als missbillige er dann und wann die lobenden Worte des Predigers. Endlich behielt er, wie aus Zerstreuung, den Hut auf dem Kopf, während das Vaterunser gesprochen wurde. Gerade als das Gefolge sich anschickte, den Kirchhof zu verlassen, machte er plötzlich eine große Schwenkung um dasselbe herum und steuerte mit keineswegs sicheren Schritten auf das Brett zu, das über das Grab gelegt war.

»Fort mit der letzten Planke!«, schrie er und stieß sie mit dem Fuß beiseite.

Ein allgemeines Aufsehen entstand, aber er stellte sich dicht an den Rand des Grabes und starrte mit höchst nachdenklicher Miene in dasselbe hinab. Plötzlich riss er den Hut vom Kopf, streckte die Hand aus und sagte: »Ja, da liegst du nun, Ole Hansen! Du warst mein Freund! Aber das hast du dafür, dass du schlechten Kurs gehalten hast und nicht an der Landspitze vorbei segeltest!«

Er hielt einen Augenblick inne, als suche er nach Worten. Dann fuhr er wieder fort: »Du warst mein Freund, Ole Hansen! Aber du warst ein großer Sünder vor Gott und Menschen. Das weiß ich besser als …«

Niels Keis Rede bekam hier einen etwas jähen Schluss. Die Erde wich unter seinen Füßen und mit einem hohlen Gepolter stürzte er ins Grab, während das Gefolge mit einem Schrei des Entsetzens herbeieilte, um ihn wieder heraufzuziehen.

Am folgenden Tag war ich wieder draußen, um nach Niels Kei zu sehen. Er lag im Bett, den Kopf mit einem Tuch verbunden, denn beim Hinabstürzen hatte er sich die Nase bedenklich an der Sargecke geschunden. In seinem Wesen lag eine ungewöhnliche Ruhe und Sanftmut, welche vielleicht ebenso sehr eine Folge der Todesgedanken, die ihn quälten, wie der Scham über sein Betragen aus dem Hornbecker Kirchhof war. Er sprach sehr vernünftig und verständig über alles, aber eins ließ er sich absolut nicht ausreden, dass es sein letzter Tag sei und er vor Mitternacht sterben müsse.

Vergebens bemühte ich mich, ihm einleuchtend zu machen, das solche Vorzeichen in der Regel nichts zu bedeuten haben. Vergebens suchte ich die Erscheinung durch naturwissenschaftliche Gründe weg zu erklären, was mir außerdem ziemlich schwer fiel, da ich sie selber nicht völlig begriff. Vergebens sprach ich von einem zufälligen Lichtschein aus dem Ziegelofen, von Luftspiegelungen und Nebelbildern in gebrochenem Licht. Er wies jedes Vernunftraisonnement mit den Worten ab: »Jeder mag glauben, was er will.«

Nachmittags kam ich wieder. Niels Kei war aufgestanden und hatte sich umgekleidet, aber er schien nirgends Ruhe zu haben. Er ging vom Stall in die Stube, von der Stube in den kleinen Garten am Strand, und selbst dort rückte er von der einen der beiden Bänke nach der anderen hinüber, als verfolge ihn sein eigener Schatten. Zuletzt ging er in die Wohnstube, wo er sich auf die Ofenbank setzte und sein Gesicht in beide Hände vergrub. So blieb er sitzen, während die Dämmerung anbrach, ohne meiner wohlgemeinten Ratschläge und Ermahnungen zu achten und gleichgültig gegen alles mit Ausnahme der grünen Bornholmer Wanduhr, auf deren Zeiger er dann und wann einen bedeutsamen Blick warf. Die Dunkelheit nahm mehr und mehr zu, allein immer noch saß er ebenso unbeweglich. Als dies Uhr sieben schlug, erhob er sich plötzlich und fragte: »Hat der Student etwas dawider, mich zum Pastor zu begleiten?«

»Nicht das Geringste, Niels«, antwortete ich, froh darüber, dass seine Gedanken eine andere Richtung nahmen, aber doch etwas bedenklich über den langen Weg, den wir zurücklegen sollten.

»So lasst uns gehen!«, sagte er und nahm seinen Hut vom Wandhaken.

Wir traten auf die Straße hinaus. Ich wollte rechts abbiegen, aber Niels sagte: »Nein, es ist wohl am besten, dass ich mit dem in Helsingör spreche.«

Es war augenscheinlich, dass sein Benehmen auf dem Kirchhof ihm schwer auf dem Herzen lag.

Wir passierten die Dorfstraße von Aalsgaarde und gingen über die Mühlenbrücke; als wir jedoch an dem Krug vorbeikamen, wo einige junge Fischer standen, lachten sie über ihn. Niels Kei wandte den Kopf nach der anderen Seite und sagte nichts.

Langsam und unter beiderseitigem Schweigen durchwanderten wir die Hauptstraße von Hellebeck, bis wir zu der Stelle kamen, wo ein Waidweg nach links abbiegt. Hier stand Niels still, als kämpfe er mit sich selbst, und sagte dann: »Lasst uns den kürzesten Weg gehen!«

Mit diesen Worten zündete er eine Laterne an, die er aus seiner Friesjacke zog. Langsam und behutsam wanderten wir fürbass auf dem Deich, oft über die Baumwurzeln stolpernd, und jedes Mal, wenn der flackernde Schein der Laterne auf einen der weißen Birkenstämme fiel, sah ich, dass Niels zu ihnen hinüberschielte. Endlich erreichten wir die Kirchhofsmauer, wo ein kleiner Tannensteig zu dem Hauptweg bei der Ziegelei hinaus führt.

Hier blies Niels Kei die Laterne aus und sagte kurz: »Hier war es!«

»Ja«, antwortete ich, mich umblickend und bemerkend, dass wieder Licht in dem einzeln stehenden Haus sei.

Gerade als ich das Wort aussprach, blitzte ein Lichtschimmer, wie von einem Spiegel, aus dem Haus über den Weg hin. Ein weißer, blendender, zirkelrunder Fleck zeigte sich auf der Kirchhofsmauer, und mitten in demselben stand nicht Schimmelmanns Pferd, sondern ein langbeiniger Storch mit einem Frosch im Schnabel.

Die Überraschung war so plötzlich und die Wirkung so überwältigend komisch, dass ich in Lachen ausbrach, ohne auf Niels Kei zu achten, welcher vor Schreck die Laterne verloren hatte.

»Es ist eine Laterna magica!«, rief ich aus und zog ihn zum Haus hin. »Kommen Sie mit hinein, Niels, und Sie sollen sehen, dass alles natürlich zugeht.«

Es verhielt sich ganz, wie ich gesagt hatte. Drinnen im Haus ergötzten sich die Pächterknaben damit, die Spiegelbilder der Zauberlaterne durch ein Loch in der Tür auf die weiße Mauer zu werfen. Ein scharfes Verhör ergab, dass sie namentlich dieses Unwesen getrieben hatten, wenn Leute vorüberkamen, und dass sie am Freitagabend schuld an unserem Unfall gewesen waren.

»Sollen wir noch zum Pastor gehen?«, fragte ich, als wir wieder auf der Landstraße standen.

»Nein, ich glaube, es hat jetzt keine Eile damit«, antwortete Niels Kei mit seinem alten, verschmitzten Lächeln. »Aber will der Student nach dem Krug und einen Eierpunsch trinken, so bin ich mit von der Partie.«

»Na, so war es also eine Laterna magica«, fuhr Niels fort, als wir in der behaglichen Schankstube saßen und er sein Glas mit mir anstieß. »Ja, wer konnte das auch wissen? So eine könnte der Student mir in Kopenhagen kaufen, aber es muss eine mit Schimmelmanns Pferd sein, denn ins Grab kam ich ja doch«, fügte er spitzbübisch hinzu.