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Blutrosen 20 – Der Henker von Cornhill

Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Zweiter Teil

Der Henker von Cornhill

Ein Nachtstück aus dem letzten Französisch-Spanischen Krieg

Die Glocke der kleinen Stadt Menda schlug Mitternacht, als Victor, ein junger französischer Offizier, auf die Terrasse des hochgelegenen Gartens trat, von wo er das Städtchen, das fruchtbare Tal und das Meer übersehen konnte. Im hell erleuchteten Schloss tobte der Jubel des Festes, welches der Besitzer, Marquis Leganes, den Offizieren des hier stationierten Bataillons gab. Victor allein entzog sich der rauschenden Lustbarkeit, suchte den Trost der Einsamkeit und die erfrischende Nachtluft. Er war Bataillonschef und hier aufgestellt, die verdächtigen Bewegungen der unruhigere Spanier zu beobachten. Den tapferen Mann überfiel zum ersten Mal in seinem Leben die Gewalt der Leidenschaft für ein weibliches Wesens. Claras Augen hatten sein Herz getroffen, und ohne Hoffnung sah er zu der Tochter des reichen, stolzen Granden empor, der in ihm den Niedriggeborenen, den Fremdling und den Krieger Napoleons hasste. Den Tag über hatte er sich meist den Träumereien des ihm so neuen Gefühls überlassen. Der Hauch der Nacht just erfrischte seine matten Lebensgeister. Er raffte sich auf, um seine kriegerischen Pflichten zu erfüllen, denn obwohl alles ganz ruhig schien und der Marquis ihm mit der größten Freundlichkeit begegnete, so vergaß er nicht der Ermahnung, dem  lächelnden Spanier am wenigsten zu trauen.

Wie er an den Rand der Terrasse trat, erblickte er unten das Städtchen erleuchtet. Und doch hatte er befohlen, Feuer und Licht zur gewöhnlichen Stunde zu löschen, und hatte nur das Fest im Schloss gestattet, weil gerade der Tag des heiligen Jakob eintrat. Mit jugendlicher Ungeduld stieg er eine Mauerlücke hinab, um selbst nachzusehen, was dies zu bedeuten habe. Da war es ihm, als hörte er den Kies der Gartengänge unter leichten Fußtritten knistern. Er drehte sich um und konnte nichts wahrnehmen, aber sein Blick fiel dabei auf die See und auf weiße Segel, die im Mondschein glänzten. Wenn ihm nicht der Schimmer des Mondlichts ein Blendwerk vormalte, so mussten dies englische sein.

In diesem Augenblick rief eine raue Stimme seinen Namen. Es war einer seiner Leute oben auf der Terrasse.

»Sind Sie es, Kommandant?«

»Ja. Was gibt es?«, entgegnete Victor leise.

»Es ist nicht richtig bei dem Spitzbubenvolk. Darf ich reden?«

»Sag, was du weißt.«

»Eben ging ich einem Kerl nach, der aus dem Schloss mit einer Laterne schlich. Beim Mondschein braucht kein ehrlicher Christ eine solche Leuchte. Er eilte zu einem Haufen von Reisigbündeln und …«

Ein schreckliches Geschrei unterbrach plötzlich den Erzähler. Der aufleuchtende Schein einer lodernden Flamme von Stroh und Reisig erhellte mit einem Mal die Gegenstände. Gleich darauf fiel ein Schuss und der arme Grenadier stürzte zu Victors Füßen.

Bald war es im Schloss ruhig und dunkel, nur leises Wimmern und einige Signalschüsse, die von den Schiffen dem  Feuerzeichen antworteten, unterbrachen die schreckliche Stille. Schrecken erfasste Victor, er verstand auf den ersten Blick das furchtbare Ereignis. Seine Soldaten waren ermordet und er selbst, wenn er sich auch retten konnte, entehrt.

Eine weiche Hand erfasste die seine, und Clara stand neben ihm.

»Fort!«, flüsterte sie ihm zu, »dort bei der Ecke finden Sie ein Pferd.«

Victor starrte die Erscheinung an, doch bald trieb ihn die Liebe zum Leben auf, und er floh in der ihm angewiesenen Richtung. Bald hörte er Clara ihren Brüdern zurufen, die Verfolger stürmten hinter ihm her und ein Paar Kugeln sausten nah an ihm vorbei; doch glücklich fand er das Pferd und der rasche Andalusier trug ihn wohlbehalten ins Hauptquartier, das er in wenigen Stunden erreichte.

Victor stürzte atemlos in das Zimmer, wo der General eben mit seinem Generalstab bei Tisch saß.

»Ich bringe Ihnen meinen Kopf und die Nachricht von der Landung der Engländer«, rief er dem General zu und erzählte sein Abenteuer.

Die Zuhörer erblassten und schwiegen; endlich sagte der General: »Sie sind mehr unglücklich als strafbar. Wenn der Marschall auch so denkt, so werden Sie nicht die Verräterei der Spanier büßen. Doch jetzt kein Wort mehr als von der Rache.«

Eine Stunde darauf war schon ein Regiment Fußvolk, eine Abteilung Kavallerie und Artillerie auf dem Marsch, den General und Victor an der Spitze. Die Soldaten, Rache schnaubend ob des Todes ihrer Kameraden, legten den ganzen Weg in Sturmschritten zurück und kamen in unglaublich kurzer Zeit zu Menda an, trotz des Hindernisses, dass unterwegs einige Ortschaften in Aufruhr gefunden wurden. Man schloss sie und dezimierte die Einwohner.

Die Engländer hatten ihre Landung nicht bewerkstelligt. Niemand wusste, weshalb, und Menda, seiner zu voreilig gehofften Hilfe beraubt, ergab sich ohne Schwertstreich. Diejenigen, welche die Franzosen ermordet hatten, stellten sich freiwillig, um dafür das Leben und Eigentum ihrer Mitbürger zu erkaufen. Der General versprach, die Unschuldigen zu schonen, wenn ihm die Bewohner des Schlosses, vom Marquis bis zum letzten Knecht, nebst den Mördern der französischen Soldaten übergeben würden. Dies wurde angenommen, die Stadt musste eine große Brandschatzung zahlen und die Schlachtopfer wurden ausgeliefert. Der Marquis wurde mit den seinen in den nämlichen Saal gesperrt, in welchem der verhängnisvolle Ball stattgefunden hatte, und musste aus dem Fenster mit ansehen, wie auf der Terrasse zweihundert Spanier erschossen wurden.

Der General schlug sein Hauptquartier im Schloss auf und traf alle Anstalten, die Küste zu sichern; dann ließ er den Scharfrichter aus der Stadt kommen und einige Galgen auf der Terrasse errichten.

Victor erschien vor ihm und bat ihm mit wankender Stimme, ihm einige Bitten vortragen zu dürfen.

Der General lächelte spöttisch und winkte ihm, zu sprechen.

»Der Marquis bittet Sie, ihm und den seinen nicht den gemeinen Tod durch den Strang zuzuerkennen.«

»Sie sollen durch das Schwert sterben.«

»Er bittet ferner, ihn und die seinen der Fesseln zu entledigen, sie versprechen, keinen Versuch zur Flucht zu machen, und ihnen den Trost der Religion nicht zu verwehren. Dann bietet er all seine Güter für das Leben seines jüngsten Sohnes, damit sein Name nicht aussterbe.«

»Nur das Letzte kann nicht sein«, rief der General,  »sterben müssen sie alle, und die Güter gehören ohnedies dann dem König. Doch halt, es wäre schade um den Verräternamen; derjenige von den Söhnen soll Leben und Güter behalten, der an den anderen den Henker macht. Ich will doch sehen, wie weit es ein Spanier bringen kann.

Damit ging er und ließ Viktor wie versteinert stehen, setzte sich mit den Offizieren zu Tisch und alle ließen es sich wohl schmecken, nur einer fehlte in dem lauten Kreis. Victor eilte in den Saal, wo er den Marquis mit seiner Frau, zwei Töchtern und drei Söhnen fand. Er löste selbst ihre Fesseln; kein Blick dankte ihm, und vergebens suchten seine Augen denen Claras zu begegnen. Sie schien ihm reizender als je, er konnte den Gedanken nicht fassen, dass in einer Stunde diesen schönen Formen der edle Geist entfliehen solle.

Endlich fragte sie ihn, welche Nachricht er brächte. Er seufzte und starrte ihre drei Brüder an. Der älteste, Juanito, etwa dreißig Jahr alt, war nicht groß und schön, aber seine Bewegungen waren edel. Der Ausdruck seines Gesichtes war stolz und höhnisch, doch in seinem gewöhnlichen Betragen fehlte nicht die echte spanische Ritterlichkeit. Der zweite, Philipp, ein Jüngling von zwanzig Jahren, glich seiner Schwester Clara; der jüngste, Raphael, ein Kind von acht Jahren, trug die ernsten Züge seines Vaters, durch die lieblichste Schönheit verklärt.

Endlich vertraute Victor der schönen Clara den Ausspruch des Generals, und diese flüsterte ihn schaudernd, doch ruhig dem Vater zu.

Der Marquis rief mit fester Stimme, ohne eine Miene zu verziehen, Juanito zu sich und hieß ihn schwören, er wolle seinem letzten Befehl Folge leisten.

Juanito hörte und sprang auf wie ein gereizter Löwe.

Dann schüttelte er den Kopf, sank auf seinen Stuhl zurück und starrte seine Eltern mit trockenen, glanzlosen Augen an.

Clara kniete vor ihm nieder, schlang die Arme um seinen Hals und sprach: »Von deiner Hand wird mir der Tod süß sein, der mich von dem Gedächtnis meiner Schwäche befreien soll.« Ein Feuerblick auf Viktor erhellte wie ein Blitz die Nacht ihres stolzen Herzens. Sie hatte geliebt, gewankt und überwunden.

»Sei mutig!«, rief Philipp, »und erhalte unseren Stamm.«

»Ich befehle!«, donnerte der Marquis mit aller Kraft seiner klangvollen Stimme. Dann sank er seinem Sohn zu Füßen: »Wenn du ein Spanier, wenn du mein Kind bist, so erfülle meine letzte Bitte!«

Victor konnte diese Szene nicht länger mit ansehen und eilte fort.

Eine Stunde darauf rasselten die Trommeln, die Soldaten schlossen einen Kreis um die Terrasse. In der Mitte stand ein Block, auf dem ein blankes Schwert blitzte. An dem Galgen hing die Dienerschaft des Schlosses, und zwischen den Soldaten befanden sich die angesehensten Einwohner der Stadt, um auf Befehl des Generals die Hinrichtung der Familie Leganes anzusehen.

Nun wandten sich aller Blicke zum Schloss, aus dem die edle Familie fest und ruhig auf die Terrasse schritt, Alle mit heiterer Stimme bis auf einen; nur Juanito wankte an der Seite des Priesters mit stierem Blick.

»Habe Mitleid mit mir«, sprach Clara und kniete nieder, »lass mich die Erste sein.«

Viktor drängte sich bleich und verstört in den Kreis.

»Wenn du meine Gattin werden willst, schenkt dir der General das Leben!«

Clara sah Juanito an, er verstand den Blick, und ihr Haupt rollte zu den Füßen des Freiers hin.

»Jetzt ich«, rief der kleine Raphael.

Als die Häupter der Kinder gefallen waren, trat der Marquis vor und rief mit lauter Stimme und in stolzer Stellung: »Spanier, ich gebe diesem, meinem Sohn, meinen väterlichen Segen! Nun haue zu, Marquis!«

Und der Sohn schlug zu.

Nun nahte die Mutter, da kreischte Juanito auf, dass selbst die Krieger erzitterten.

Die Marquise sah seine Verzweiflung, trat schnell entschlossen zum Rand der Terrasse und stürzte sich hinab. Ein Schrei der Verwunderung entfuhr den Zuschauern. Juanito sank bewusstlos nieder.

»Haben Sie das alles befohlen?«, rief ein Offizier, ins Zimmer tretend, dem General zu.

»Sie vergessen, dass wir fünfhundert tapfere Franzosen an ihren Meuchelmördern zu rächen haben und wir in Spanien sind«, entgegnete jener mit dämonischer Ruhe.

Alles verstummte.