Heftroman der Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Nick Carter – Zur Strecke gebracht – Kapitel 6

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Zur Strecke gebracht
Ein Detektivroman

Inez Navarros Ermordung

Die große Wagneroper Lohengrin war zu Ende. Die letzten gewaltigen Akkorde waren verbraust, die müden Musiker klappten ihre Notenhefte zu und wendeten in beschleunigter Hast den Pulten, an welchen sie sich im Schweiße ihres Angesichts vier volle Stunden lang ehrlich geplagt hatten, den Rücken. Das mächtige Haus wurde vom üblichen turbulenten Lärm der aufbrechenden Zuhörermenge erfüllt.

Dann verpflanzte sich der Lärm in die Garderoben, hielt dort noch eine Weile an und schwand immer mehr, bis zuletzt die Schritte der das Riesenhaus Verlassenden schier gespensterhaft in den Gängen und Korridoren widerhallten.

Die Angestellten sammelten sich, und schlaftrunken schlichen die Logenschließer von den oberen, mit kostbaren Teppichen belegten breiten Treppen hinab.

»Well, Harrison?«, meinte einer von ihnen, der im dritten Rang Schließerdienste verrichtet hatte, zu seinem Kollegen vom zweiten Rang, der im Gegensatz zu ihm mit einer betressten Uniform bekleidet war. »Worauf wartest du eigentlich noch? Drinnen lassen sie schon den großen Kronleuchter herunter, noch ein paar Minuten, dann gibt es eine neue Vorstellung – die ägyptische Finsternis.« Dabei lachte er über seinen eigenen Witz und bot dem neben ihm stehenden betressten Kollegen die Schnupftabakdose an. »Prischen gefällig?«

»Gerne, Ridder, aber du hast gut lachen«, meinte der Schließer vom zweiten Rang. »Du kannst nach Hause gehen … aber ich stehe hier und warte vielleicht noch eine halbe Stunde. In Loge Nr. 17 befindet sich noch eine Dame.«

»Die Vorstellung ist ja lange zu Ende; die Lady will doch nicht über Nacht bleiben, eh?«

»Well, das meine ich auch«, brummte Harrison. »Es ist eine Ausländerin … eine richtige Gräfin oder sonst etwas Vornehmes … Sie sagte, sie wollte unter allen Umständen in ihrer Loge nicht gestört werden.«

»Da hätte sie aber in keine Wagneroper gehen dürfen«, brummte Ridder zurück, »denn da bekommt man für sein Eintrittsgeld Geräusch genug.«

»Well, es ist die kurioseste Geschichte, die mir im Leben vorgekommen ist«, meinte Harrison bedächtig. »Sie hat die ganze Box (Loge) allein genommen … Kostenpunkt hundert Dollar … und wie sie um neun Uhr kam, wo doch die Geschichte schon längst angegangen war, da gab sie mir zehn Dollar Trinkgeld.«

»Die Sache fängt vielversprechend an«, gab Ridder lachend von sich, mit dem Daumen und Zeigefinger die Bewegung des Geldzählens machend. »Ich hoffe, du wirst nachher einen ausgeben, eh?«

»Gewiss, die nächsten drei Runden bezahle ich, old boy. Aber das ist noch nicht alles, ich soll nochmals zehn Dollar kriegen, komme ich ihrer Weisung pünktlich nach.«

Ridder wurde neugierig.

»Damned, das klingt wie ein Geheimnis, Harrison!«, meinte er, mit dem einen Auge blinzelnd.

»Das ist es auch … Sie sagte nämlich, ich dürfe niemanden zu ihr in die Loge lassen, der nicht als Erkennungszeichen eine gelbe Rose an der Brust trüge.«

»Also ein Stelldichein!«, meinte Ridder gedehnt. »Heiliger Wagner!«

»Dummheiten!«, knurrte sein betresster Kollege. »Was kümmert es uns! Die drei Gentlemen waren all right … Frack, weiße Weste, Lackstiefel … tipptopp, Ridder … und jeder hatte einen metallischen Handdruck, so weit war die Sache nicht ohne … und die Frau … die Gräfin oder was sie ist … ein Götterweib … und schön, sage ich dir, schön.« Er schnalzte mit der Zunge. »Reinweg verlieben könnte man sich.«

»Hört einer den alten Krippenfetzer!«, entgegnete Ridder lachend. »Deine Alte würde dir auf die Sprünge helfen … Du bist schon Großvater!«

»Dafür kann ich nichts«, verwahrte sich Harrison gekränkt. »Im Herzen bin ich noch der reinste jugendliche Liebhaber … und die süße Gräfin da drinnen …« Er verdrehte die Augen gefühlvoll.

»Well, und wenn sie noch so süß ist«, unterbrach ihn der gefühllose Kollege vom dritten Rang, »raus aus der Box muss sie jetzt.« Dabei öffnete er die Tür zur Nebenloge, um einen Blick in den inneren Theaterraum zu tun. »Alle Wetter, der Kronleuchter ist schon ausgelöscht und die Wandlichter auch. Es ist höchste Zeit!«

»Well, Ridder, ich will doch meine zehn Dollar nicht einbüßen«, verwahrte sich Harrison, den anderen beim Rockschoß zurückhaltend. »Sie hat mir ausdrücklich untersagt, außer den drei Gentlemen mit der gelben Rose jemanden einzulassen … Ich selbst darf die Loge auch nicht betreten.«

»Was ist denn das für eine Bummelei?«, ließ sich in diesem Moment eine gewaltige Bassstimme vernehmen.

Unbeachtet von beiden waren eilige Schritte über die teppichbelegten Treppen heraufgekommen.

»Das kann ja noch gut werden, der Inspektor!«, flüsterte Harrison.

»Gehängt will ich sein, wenn der Mann neben ihm nicht Nick Carter ist«, sagte Ridder ebenso leise. »Du, ich habe so eine Ahnung, als ob der deiner Gräfin wegen kommt.«

»Was ist denn das für eine Wirtschaft … Das Gas und das elektrische Licht brennt noch!«, ereiferte sich der Inspektor.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Inspektor«, stammelte Harrison, »doch in Box 17 befindet sich noch eine Dame.«

»Umso besser«, erklärte Nick Carter, hinter welchem nun auch Chick und Patsy auftauchten, anstatt des Inspektors. »Sicher ist die Lady eingeschlafen … und mit Ihrer Erlaubnis werde ich sie wecken … Also öffnen Sie die Loge, Mann.«

Seufzend gehorchte Harrison. Seit dem Auftauchen des berühmten Detektivs hatte er ohnehin so eine Ahnung, als wäre es mit den noch ausstehenden zehn Dollar äußerst unsicher geworden. Er schloss die Tür auf und alle spähten in die Vorloge, deren Einrichtung derjenigen sämtlicher Boxes im zweiten Rang entsprach. Bei dem matten Schein einer elektrischen Glühbirne gewahrten die Männer eine weibliche Gestalt, welche sich in großer Gesellschaftstoilette befand und regungslos ausgestreckt, mit dem Gesicht der Wand zugewendet, auf dem in der Vorloge befindlichen Ruhebett anscheinend schlafend lag.

Kopfschüttelnd war Nick Carter auf den Zehenspitzen an die Schläferin herangetreten.

»Bei Jove, es ist tatsächlich Inez Navarro!«, murmelte er. »Das ist die größte Überraschung meines Lebens … sie in der Box hier schlafend zu finden.«

»Well, ihr Erwachen dürfte kein Heiteres sein«, bemerkte der neben ihn getretene Chick. »Wecke sie auf, Nick!«

»Erheben Sie sich, Miss Inez Navarro«, rief der Detektiv mit starker Stimme. »Die Zeit der Verstellung ist nun vorüber. Schlagen Sie die Augen auf und ergeben Sie sich in Ihr unvermeidliches Schicksal …Ewiger!«, unterbrach er sich, aufs Äußerste betroffen, indem er starr auf die regungslos vor ihm ausgestreckt Liegende niederblickte. »Das ist kein Schlaf … das ist der Tod! Hier liegt Selbstmord oder ein Verbrechen vor!«

Damit deutete er auf die Brust der Toten. Die schimmernde Seide war an einer Stelle zerschnitten und geronnenes Blut hatte sich dort gesammelt und das duftige Gewebe durchtränkt.

Chick beugte sich nieder. Kopfschüttelnd betrachtete er eine auf dem Boden liegende zierliche Dolchklinge. Dann schaute er auf die wunderbar schönen Formen der Verbrecherin. Eigen berührte es ihn, die an der linken Brust der Toten befestigte Teerose zu betrachten, an deren halb erblühtem Kelch smaragdähnliche Bluttropfen schimmerten.

»Einen Arzt – schnell!«, sagte der Inspektor zu seinen Untergebenen.

»Der kommt ebenso zu spät, wie wir zu spät gekommen sind«, bemerkte Nick Carter leise. »Sie ist tot … und die Frage ist nur, ob sie sich den Tod mit eigener Hand gab oder …«

Er vollendete nicht, denn Patsy, der inzwischen sich eifrig mit dem Logenschließer unterhalten hatte, wendete sich nun an seinen Meister. »Sie hat drei Besucher gehabt«, berichtete er. »Der Letzte kam kurz vor Theaterschluss – also vor knapp einer halben Stunde – und jeder von ihnen trug eine Teerose an der linken Brust.«

»Gewiss, das war das Erkennungszeichen … Sie selbst hatte es so angeordnet«, bemerkte der Detektiv.

Er wendete sich selbst an den Logenschließer, dessen Kollege davongeeilt war, um so schnell wie möglich den vermutlich noch hinter der Bühne befindlichen Theaterarzt herbeizurufen.

»Schildern Sie mir die drei Besucher so ausführlich Sie irgend können, denn hiervon mag viel abhängen.«

Der alte Mann war indessen durch den erschütternden Vorfall so verstört, dass Nick sich gezwungen sah, ihn immer wieder von Neuem zu befragen. Aus der Schilderung des Logenschließers glaubte er immerhin entnehmen zu können, dass die beiden ersten Besucher zu den Männern gehörten, welche er am verflossenen Abend in der Wohnung der angeblichen Gräfin Chapska kennen gelernt und die zweifellos deren Mitschuldige waren.

Umso unbefriedigender war die von Harrison gemachte Beschreibung des dritten Besuchers. Er hatte einen langen, schwarzen Bart getragen. Es war dem Logenschließer aufgefallen, dass er seinen Überrock nicht abgelegt hatte. Er war auch kaum fünf Minuten in der Box geblieben und dann wieder herausgetreten, hatte sich den Hut reichen lassen, dem Schließer ein reichliches Trinkgeld gegeben und sich gemächlich entfernt.

»Haben Sie denn kein verdächtiges Geräusch gehört?«, erkundigte sich der Detektiv.

»No, Sir – nicht das geringste Geräusch.«

»Also keinen Wortwechsel oder Schrei – nichts, gar nichts …«

»Nichts!«, versicherte der Schließer.

Nick wendete sich an seinen Gehilfen Chick, der eben die Leiche berührt und erklärt hatte, sie fühle sich noch ganz warm an. »Gewiss, sie muss noch vor einer halben Stunde am Leben gewesen sein!«, versetzte der Detektiv in tiefem Nachdenken versunken.

Er wendete sich rasch an den Logenschließer. »Fiel Ihnen nicht etwas an den Augen des Mannes auf?«, erkundigte er sich.

»Well, er trug eine hellblaue Brille«, meinte Harrison bedächtig. »Immerhin will es mir scheinen, als habe er braune oder schwarze stechende Augen gehabt.«

»Was sagte ich?«, rief Chick lebhaft aus. »Diese Carruthersaugen fallen überall auf … doch«, brach er achselzuckend ab, »dass jener hier in der Loge war, sagt uns der Verstand allein … Aber wie kam diese Frau, an welchem er so leidenschaftlich hing, zu Tode?«

»Da sind zwei Lösungen möglich«, bemerkte Nick Carter nachdenklich. »Entweder hat sie an jeder Möglichkeit einer Flucht verzweifelt und sich selbst den Tod gegeben … oder aber Morris Carruthers entledigte sich ihrer, wie er es erst vor Kurzem mit seinem Freunde, dem Bankpräsidenten, getan hat …«

»Du meinst, diese Inez war ihm im Wege, sie hinderte ihn an seiner Flucht.«

»Was weiß ich!«, entgegnete Nick Carter achselzuckend. »Dieser Morris Carruthers schreitet über Leichen, gilt es die Rettung seines eigenen erbärmlichen Lebens …« Er brach ab, denn draußen auf dem Gang ließen sich Schritte hören. Der von Ridder herbeigeholte Theaterarzt betrat die Loge.

Nach kurzer Auseinandersetzung trat der Arzt an die Leiche heran und begann mit seiner Untersuchung. »Der Tod kann vor höchstens einer Stunde eingetreten sein«, meinte er. Dann nahm er die Waffe vom Teppich auf und betrachtete sie aufmerksam. »Mit diesem Dolch hat sich die Lady den Tod gegeben?«, fragte er erstaunt den neben ihm stehenden Detektiv.

»Zweifellos«, bestätigte Nick. »Wir fanden ihn auf dem Boden dicht vor der Leiche.«

Der Arzt ließ ein leises Pfeifen hören und ordnete an, dass der Körper der Toten umgewendet wurde, sodass das Antlitz hell vom Licht beschienen war. Mit einem Ausruf äußersten Entsetzens nahmen die Anwesenden wahr, dass die stolzen, schönen Züge der Unseligen sich zum Nichtwiederkennen verwandelt hatten; schmutzig braune Flecken bedeckten das Gesicht der Leiche, und die fest zusammengepressten Lippen hatten eine schwärzliche Farbe angenommen.

Immer eifriger beschäftigte sich der Arzt mit der Toten. Er hatte das Kleid auf der Brust geöffnet und betrachtete nun mit kritischem Blick die Todeswunde. »Well«, sagte er, »die Lady hier ist nicht nur durch einem Dolchstoß, sondern auch durch eine furchtbare Vergiftung erlegen … Die Waffe hier ist an der Spitze vergiftet, Mr. Carter«, wendete er sich tiefernst an den Detektiv. »Seien Sie vorsichtig … Ein Hautritz genügt, um Sie zum stillen Mann zu machen.«

»All right, Doktor«, entgegnete Nick. »Doch sagen Sie, hat die Lady Hand an sich gelegt? Können Sie das überhaupt feststellen?«

»Gewiss! Nein, es liegt kein Selbstmord vor. Der Stich geht in steilem Winkel von der Achsel zur Brusthöhle. Einen solchen Stich versetzt man sich nicht selbst, am wenigsten in liegender Lage. Hätte aber die Lady Hand an sich selbst gelegt, so müsste sie bereits auf dem Ruhebett gelegen haben, denn die Wirkung dieses Giftes ist eine augenblickliche. Es handelt sich um Curare, das furchtbare Pfeilgift gewisser Indianerstämme, das den gesamten Körperorganismus im selben Augenblick, wo es eindringt, auch schon starrkrampfartig lähmt … Hätte also die Lady selbst den Dolch geführt, so würde sie diesen gar nicht mehr haben fallen lassen können. Ihre Handmuskeln würden sich sofort geschlossen und die Waffe darin festgehalten haben …«

»Das leuchtet ein«, bestätigte Nick Carter, der tiefernst geworden war. »Es liegt Mord vor.«

»Eigentlich sogar Raubmord«, schaltete Chick sich ein, der inzwischen mit Patsy die Kleidertaschen der Toten durchsucht hatte. »Diese Taschen sind bereits umgestülpt, als ob man sie durchwühlt habe … Weder Geldbörse noch Banknotentasche ist vorhanden.«

»Die Lady hat aber eine solche bestimmt besessen!«, warf Harrison, der eben wieder voller Neugier den Kopf durch die Tür gesteckt hatte, hin. »Sie gab mir selbst zehn Dollar daraus.«

»Damit steht fest, dass Inez Navarro beraubt worden ist. Nun fragt es sich nur noch, wer der Mörder ist«, bemerkt Nick Carter, von der Leiche forttretend.

»Selbstverständlich Carruthers«, schaltete sich Chick ein.

»Das ist nicht bewiesen«, widersprach der Detektiv. »Es kann auch der zweite Besucher gewesen sein … Wer weiß das? War Carruthers der dritte Besucher und fand nach seinem Eintritt in die Loge in dieser seine Genossin ermordet, so hat er sich aus begreiflichen Gründen gehütet, irgendwelchen Lärm zu schlagen … Er hat sich ohnehin knapp fünf Minuten hier aufgehalten … Das ist zur Begehung eines derartigen Verbrechens etwas wenig Zeit … aber sie genügt, um einer schon tot Vorgefundenen die Taschen zu durchsuchen und sich dann rasch zu entfernen.«

Patsy hatte unterdessen das Logeninnere betrachtet und kam nun mit einem in der einen Ecke gefundenen Gegenstand herbei, der sich als kostbarer, mit Brillanten geschmückter Fächer aus echten Straußenfedern entpuppte.

»Der Fächer von Inez Navarro … Ich entsinne mich, sie hatte einen solchen heute Abend mittels einer Kette am Kleid befestigt«, meinte der Detektiv, nachlässig denselben zur Hand nehmend. Dann, schon im Begriff, ihn wieder beiseite zu legen, stutzte er und sah näher hin. »Das ist kein Griff am Fächer«, stellte er fest, »stattdessen eine Art Scheide.« Er pfiff leise vor sich hin. »Aha, nun wissen wir, woher der zierliche Dolch rührt!«

Mit äußerster Vorsicht nahm er die Waffe zur Hand und schob sie in die Fächerscheide. Eine Feder schnappte und die Klinge steckte fest. Ihr Griff bildete zugleich denjenigen des Fächers.

»Das sah diesem schönen Dämchen ähnlich«, bemerkte Nick Carter nachdenklich. »Mit dieser vergifteten Klinge in der Hand hätte die verzweifelte Verbrecherkönigin es mit uns allen aufgenommen … Doch der Fächer enthält noch mehr Geheimnisse!«, unterbrach er sich, indem er aufmerksam die Perlmutterstäbe an der Innenseite betrachtete und nun versuchsweise mit dem Finger darauf drückte, um eine Feder an einem Geheimverschluss niederpressen zu können.

»Dachte ich es mir doch!«, setzte er gleich darauf mit triumphierendem Lächeln hinzu. »Sehr geschickt gemacht«, erläuterte er den ihn umdrängenden Anwesenden. »Sehen Sie, diese Perlmutterstäbe sind ungewöhnlich dick und hohl dazu. Jeder von ihnen hat einen Geheimverschluss, der sich öffnet, sobald man an einer bestimmten Stelle eine Feder niederdrückt. Was haben wir denn da?«, unterbrach er sich, vorsichtig aus dem einen Stab ein zusammengerolltes Blatt aus dünnem Karton hervorholend. »Ein Billett für den Schlafwagen von New York nach Chicago … und da … im Nebenstab ist noch eins …«

Unwillkürlich hielt er die beiden Fahrkarten gegen das Licht, um nach der perforierten Datumsangabe zu schauen. »Gebraucht sind die beiden Tickets noch nicht«, bemerkte er nach einer kurzen Weile. »Die Coupons sind noch nicht einmal abgerissen und ebenso wenig ist die Kneifzange des Konduktors (Zugführer) tätig gewesen. Sie sind erst heute Abend ausgestellt worden … Bitte, Chick, überzeuge dich«, wendete er sich an seinen neben ihm stehenden Gehilfen.

»Gewiss«, sagte dieser, nachdem auch er die aus lauter winzigen Nadelstichen sich zusammensetzende Datumsangabe genau betrachtete. »Hier steht sogar die Zeit … 8 Uhr 30 Minuten.«

»Jetzt haben wir Mitternacht«, stellte Nick Carter mit einem Blick auf seine Uhr fest. »Die beiden zur Fahrt nach Chicago lautenden Billetts sind also noch keine vier Stunden alt.«

»Sie sind also von Inez Navarro gelöst worden, um sich ihrer demnächst zu bedienen«, bemerkte Chick, »und da es sich um zwei Fahrkarten handelt, so dürfte eine für Morris Carruthers bestimmt gewesen sein … Übrigens, Nick«, fuhr er eifrig fort, »hier steht ja auch schon die Schlafplatznummer vermerkt … da, lies … Zug 79, Car 4859, unteres und oberes Bett 17 A und B.«

Mit einem grimmigen Lächeln nahm Nick Carter die beiden Billetts nochmals zur Hand und betrachtete sie aufmerksam. Dann zog er sein Taschenbuch, entnahm diesem einen Fahrplan und betrachtete ihn eingehend. »Well, da haben wir es … Der Schnellzug verlässt das Grand Central Depot um 12 Uhr 39 Minuten nachts … also in 29 Minuten«, bemerkte er. »Es ist Zug No. 79 … und da die Pullman-Schlafwagen-Gesellschaft Schlafplätze nur täglich vergibt, so …«

»Beabsichtigten die beiden, in einer halben Stunde nach Chicago abzudampfen«, warf Chick trocken ein. »Der Tod der Gräfin Chapska oder von Inez Navarro … oder wie die schöne Teufelin in Wirklichkeit heißen mag, verhinderte die Ausführung dieses Vorhabens …«

»Aber doch nur für die Tote!«, rief Nick Carter. »Was hindert Morris Carruthers daran, das gewiss sorgfältig vorbereitete Projekt auszuführen?« In seinen Augen leuchtete es plötzlich triumphierend auf. »Well!«, sagte er, nachdem er eine Sekunde überlegt hatte. »Du, Chick, wirst die Wegschaffung der Leiche, die Benachrichtigung von Inspektor McClusky und alles Übrige anordnen … Ich werde nach Chicago fahren, denn ich wette darauf, unser Mann ist im Zug …«

»Aber wenn es auch so wäre!«, warf Chick ein. »Bedenke doch, es ist Morris Carruthers, mit dem du es zu tun hast … Er wird dich in jeder Verkleidung wiedererkennen …«

»Wollen wir abwarten«, entschied Nick Carter gelassen. »Doch zu müßigem Geplauder ist keine Zeit mehr … Hier kam ich leider zu spät … Ich möchte den Schnellzug nicht gleichfalls versäumen … Also, Chick, nimm alle Fäden auf … Irre ich mich nicht, so hat Morris Carruthers seine Gefährtin nicht getötet, sondern sie bereits ermordet vorgefunden … Er mag ihre Taschen nach den Billetts durchsucht und bei dieser Gelegenheit auch ihre Banknotentasche eingesteckt haben, hatte dies nicht schon der eigentliche Mörder besorgt … Und versuche vor allen Dingen, die Fährte dieses Carruthers aufzuspüren … Ich weiß nicht, ob ich erfolgreich sein werde, darum handle ganz selbständig und tue, als sei ich tot und begraben … Good bye!«

»Aber Nick, so warte doch«, rief der ganz verblüffte Chick, dem der plötzliche Aufbruch des Meisters auf die Nerven schlug; doch der Detektiv hörte ihn schon nicht mehr. Immer vier Stufen auf einmal nehmend, raste Nick Carter die Treppen hinunter, um so rasch wie möglich den Theaterausgang zu erreichen und zum Grand Central Depot zu gelangen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert