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Blutrosen 17 – Das Vermächtnis des Räubers – Teil 4

Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Zweiter Teil

Das Vermächtnis des Räubers
Teil 4

Den folgenden Morgen stieg Eduard mit Tagesanbruch in das Tal hinab. Die Unterredung, welche er den Tag vorher mit Miss Morpeth gehabt hatte, hatte in ihm eine Art von Revolution hervorgebracht. Da er Fannys schuldlose Tränen fließen sah und ihre so aufrichtige und fromme Stimme hörte, waren in ihm alle die Gefühle seiner Jugend zurückgekehrt. Er war sich so klein vorgekommen, in Gegenwart dieser kindlichen Seele, dass er sich seiner Unwürdigkeit geschämt hatte.

Nie hatte Eduard eine so lebhafte Reue über seine Vergangenheit gefühlt. Fannys Liebe verursachte ihm eine Art von Gewissensbissen. Wusste sie, wem sie sich hingab? Ach! Warum war er nicht schuldlos, ohne Vorwurf und ohne Tadel geblieben? Launay empfand dies schmerzlich, denn selbst sein Glück war für ihn eine Quelle des Leidens und Grams geworden.

Er durchstrich lange Zeit das Tal, seine innere Aufregung zu besänftigen suchend. Endlich als diese Krisis vorüber war, kehrte er in das Hotel zurück, wo ihn Fanny schon erwarten sollte.

Die Länge des Weges und die anmutigen Bilder, womit er umgeben war, und die Hoffnung, bald diejenige zu sehen, welche er liebte, verscheuchten die Wolken von seiner Stirn. Mit jener Leichtigkeit, welche allen gefühlvollen Seelen eigen ist, ging er schnell von der Verzweiflung zur Fröhlichkeit über. Er fing an, für Fanny ein Bukett aus Feldblumen zu winden, und bei jeder Blume, die er brach, löste sich ein trauriger Gedanke von seinem Herzen. So gelangte er auch an das Gasthaus, indem er dem Flug der Schmetterlinge zusah und eine Arie seiner Kindheit trällerte.

So wie er näher kam, gewahrte er Madame Perscof mit einer dicken Dame und einige andere weibliche Badegäste vor der Tür, welche eine große Konferenz zu halten schienen. Da er ihnen nicht ausweichen konnte, so beschleunigte er seine Schritte, um schnell an ihnen vorüberzukommen, aber in dem Augenblick, wo er den Fuß auf die erste Stufe setzte, hielt ihn Madame Perscof beim Arm zurück.

»Wir sprachen von Ihnen, Herr Launay«, sagte sie.

»Sie sind allzu gütig, Madame.«

»Ich erzählte Ihre Geschichte. O, ich kenne Ihr ganzes vergangenes Leben. Sie werden sich sehr wundern, nicht wahr? Ich weiß, dass Sie in Brest geboren, dass Sie im Jahre 1816 Marine-Chirurg angestellt wurden; ich weiß, dass Sie Ihre Kameraden aus Anspielung auf Ihre ehrgeizigen Träume den Letzten der Stuarts nannten … Bin ich nicht gut unterrichtet?«

»So gut, Madame, dass ich wissen möchte, wer Ihnen diese Auskunft gegeben hat«, antwortete Eduard verlegen.

»Geduld, das ist noch nicht alles; ich weiß noch, dass Sie durch die Erbschaft eines Onkels, den niemand kannte, plötzlich zu Reichtum gekommen sind.«

»Madame! Madame!«, rief Launay, »ich will wissen, wer Ihnen dies gesagt hat. Bin ich denn hier einer geheimen Inquisition unterworfen? Wer hat Ihnen das gesagt, Madame? Ich will es wissen.«

Madame Perscof war fast erschrocken. »Mein Gott«, sprach sie, »ich wollte Sie nicht erzürnen. Ich habe nie danach gestrebt, all diese Umstände kennen zu lernen; aber es gibt ohne Zweifel auch Leute, die sich mehr als ich dafür interessieren. Aus einem Fragment von einem Brief, den ich zufällig fand, habe ich all dies erfahren.«

»Wo ist es?«

»Hier.«

Eduard erkannte den Brief für denselben, welchen er den Tag vorher in Miss Fannys Händen gesehen hatte. Als er ihn durchlas, sah er, dass es eine Antwort auf sehr umständliche Fragen in Bezug auf seine Person war.

Die Entdeckung dieses Briefes versetzte ihn in wirklichen Zorn. Der Gedanke, dass sein Leben, welches er vor allen Blicken hatte verbergen wollen, auf diese Weise erforscht worden war, und dass alle seine Umgebungen einen neugierigen Blick hinein tun konnten, empörte ihn. Nicht vermögend, seinen Zorn zu bemeistern, stotterte er gegen Madame Perscof einige Entschuldigungen hervor und trat in das Hotel.

Miss Morpeth, die ihn erwartete, lächelte ihm zu, als sie ihn erblickte; aber Launay stieg auf den Balkon hinauf, wo sie sich befand, ohne ihr Lächeln zu erwidern.

»Mein Gott! Was fehlt Ihnen, Eduard?«, fragte sie besorgt. Statt aller Antwort reichte er ihr den Brief hin.

Sie warf einen Blick darauf, errötete und schlug die Augen nieder. Launay zerknitterte zornig das Papier.

»Es gibt Leute«, sprach er, »die so klug und vorsichtig zu Werke gehen, dass sie sogar ihr Herz nur erst nach eingezogenen Erkundigungen öffnen, so wie man einen Kredit eröffnet und nicht eher ihre Liebe erklären, bis sie ein Zertifikat über gute Sitten in Händen haben.«

»Eduard!«, rief Fanny aufstehend.

Aber er hörte sie nicht.

»Solche Leute wissen nicht, dass Misstrauen so gut wie Verachtung ist; sie glauben lieber einem Fremdling, den sie um den befragten, dessen ganze Seele ihnen angehört.

Der Verdacht schmiedet ihnen den Trauring und sie legen ihre Neigung nur auf gute Hypothek an. Was halten sie von solchen Leuten, Miss Morpeth?«

Miss Fanny hatte ihm zugehört, ohne eine Bewegung zu machen; nur war sie in dem Maße immer bleicher geworden, wie Eduard zu sprechen fortfuhr. Als er inne hielt, legte sie sanft die Hände auf des jungen Mannes Arm und sagte mit einem unbeschreiblichen Akzent, so sehr verhielt sie ihren Schmerz: »Ich gehöre nicht zu solchen Leuten, Eduard. Sie wissen es, denn ich habe Sie geliebt, als ich Sie kaum dem Namen nach kannte. Dieser Brief, der Sie verwundete, ist nicht an mich adressiert. Ich habe nicht danach gefragt. Als ich ihn las, habe ich vor Freuden geweint, weil ich darin Ihr Los las und weil er viele Hindernisse heben konnte. Und warum sollte ich daran gedacht haben, über Ihr vergangenes Leben Auskunft zu erhalten? Hatte ich denn je daran gedacht, Ihnen eine solche über das meine zu geben? Ich kannte Sie besser als irgendjemand, denn ich liebte Sie. Ich konnte diesen Schritt nicht verhindern, der Sie zum Zorn gereizt hat; ich habe nur Unrecht getan, weil ich die unschuldige Ursache dazu war; ich habe unrecht, weil Sie gelitten haben; aber Sie werden mir doch ein Vergehen verzeihen können, woran ich keinen Anteil gehabt habe?«

Diese Worte wurden so sanft gesprochen. Es lag in der Bewegung, der Stimme, in dem Blick von Miss Fanny eine durch ihre Einfachheit so ergreifende Wahrheit, ein so ungeheuchelter Schmerz, dass Eduard davon gerührt wurde. Sein Unwille legte sich in Gegenwart dieser Unterwürfigkeit. Er ergriff Miss Fannys Hände. Sie an seine Brust drückend sagte er: »Es ist wahr, ich bin ein Narr und Sie ein Engel; zürnen Sie mir nicht deshalb. Aber der Gedanke eines Misstrauens von Ihrer Seite hat mich empört. Ich war zu hitzig. Herr Burns ist abermals der Mann, den ich hatte anklagen sollen. Allemal, wenn mir ein Verdruss widerfährt, sollte ich an ihn denken. Überall finde ich ihn auf meinen Wegen.«

Die beiden Liebenden setzten sich nebeneinander und begannen eine jener Unterhaltungen, die sich unmöglich beschreiben lassen, ein Gemisch von Worten ohne Zusammenhang, von ernsthaften Torheiten und liebkosendem Tändeln. Ihre Liebe schien sich verdoppelt zu haben, denn das ist die gewöhnliche Folge von solchen Streitigkeiten. Es hat alsdann den Anschein, als ob die Leidenschaft gleich einem Kind, welches lange Zeit trotzt, und dem man wieder verziehen hat, durch tausend Schmeicheleien ihren begangenen Fehler wieder gut und vergessen zu machen, suchen möchte. Fanny und Eduard überließen sich allen entzückenden Kindereien, welche in solchen Unterhaltungen gewöhnlich sind, denn man musste ja wissen, wer von beiden am meisten liebte. Dies ist ewiger Streit zwischen Liebenden, stets erhoben und nie entschieden.

»Ich liebe heißer als Sie«, sagte Launay. »Ich liebe an Ihnen Ihre Sanftmut, Ihren Verstand, Ihre Schönheit, aber Sie?«

»Ich liebe Ihre Liebe.«

»Ach! Ja, lieben Sie diese, Fanny!«, rief der junge Mann, »lieben Sie diese, denn sie ist das Einzige, das ich nie zu verlieren sicher bin. Sie haben recht, das ist mein Vorzug, lieben Sie meine Liebe, denn sie ist unermesslich, sie ist die Erste, die Einzige, die ich je gefühlt habe. Aber warum wollen Sie diese Liebe verbergen? Sie lächeln Herrn Burns zu, aber nicht mir. Sie erzeigen ihm Gunstbezeugungen, die Sie mir verweigern.«

»Welche denn?«

»Hunderte; diese Schärpe zum Beispiel, die sie hier umhaben, ist ein Geschenk von ihm. Würden Sie auch ein Geschenk von mir tragen?«

»Welcher Unterschied!«

»Ich sehe keinen. Warum machen Sie mir nicht auch diese Freude! Gestatten Sie mir, Ihnen zu dieser Schärpe eine Agraffe zu geben, Fanny. So oft ich sie an Ihnen sehen werde, werde ich sagen, dass Sie an mich denken.  Dann wird Sie auch gleichsam ein Symbol der Vereinigung sein, die Sie zwischen Herrn Burns und mir wünschen.«

»Später, später«, erwiderte das junge Mädchen, im Begriff nachzugeben.

»Ich will sie Ihnen diesen Abend übersenden«, sagte Eduard.

Es trat jemand ein.

Eine Stunde darauf wühlte Launay in einem reich ausgestatteten Schmuckkästchen und nahm einen geschnittenen Stein heraus, welchen Fanny denselben Tag mit einem Billett enthielt, das nur folgende Worte enthielt:

Beifolgendes ist ein Familienkleinod, es gehörte meiner Mutter, und diese bietet es ihrer Tochter.

So wie es der junge Mann vorausgesehen hatte, hoben diese beiden Zeilen des jungen Mädchens letzte Bedenklichkeiten. Als er am Abend in den Gesellschaftssaal  hinabging, wo die Badegäste versammelt waren, sah er Miss Morpeth von zu vielen Menschen umgeben, um mit ihr sprechen zu können, obwohl sie ihn mit den Augen suchte; die Agraffe hielt ihre Schärpe. Eduard dankte ihr mit einem liebevollen Blick.

In diesem Augenblick trat Herr Burns ein. Nachdem er jedermann gegrüßt hatte, trat er auf Miss Morpeth zu. Indem er sich zu ihr hin beugte, um etwas mit ihr zu reden, erblickten seine Augen der Agraffe. Erstaunen malte sich in seinen Zügen.

»Dieses Kleinod sah ich noch nicht an Ihnen«, sagte er, auf die Agraffe zeigend.

Miss Morpeth wurde verlegen.

»Seit wann ist es in Ihrem Besitz?«

»Seit heute erst?«

Er trat näher heran und betrachtete die Agraffe aufmerksam. »Von wem haben Sie sie gekauft?«

»Ich habe sie nicht gekauft«, lispelte das junge Mädchen mit niedergeschlagenen Augen.

Herr Burns fuhr erstaunt zurück. »Also hat man sie Ihnen geschenkt?«, sagte Herr Burns ernst.

Sie erwiderte nichts.

»Wir werden ein anderes Mal davon sprechen. Wollen Sie mir nur einen Augenblick die Agraffe übergeben?«

Miss Morpeth machte sie zitternd los und gab sie demselben. Herr Burns betrachtete sie lange Zeit mit besonderer Aufmerksamkeit, er drehte sie nach allen Seiten und erforschte die geringfügigsten Arbeiten daran, dann wendete er sich zu Fanny: »Gewiss ist dies ein Geschenk von Herrn Launay. Wo hat er den Stein her?«

»Er ist ein Erbstück, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte.«

Die Stirn des Engländers verfinsterte sich. Er entfernte sich, immer die Agraffe in der Hand haltend, und ging im Hintergrund den Saal auf und ab. Seine Augen ruhten bald auf dem Stein, bald schweiften sie auf Launay hinüber, der in geringer Ferne von alldem nichts bemerkt hatte. Endlich schien er einen plötzlichen Entschluss zu fassen und näherte sich dem Kreis der Badegäste.

In diesem Augenblick erzählte ein Franzose von einer Expedition auf dem Nil und sprach von den Gefahren, welchen die Reisenden unter den dortigen wilden Völkern ausgesetzt wären.

»Die Gefahren, denen man in Europa ausgesetzt ist, sind nicht minder groß«, fiel Herr Burns lebhaft ein, »und es wird wenige Reisende geben, die nicht wenigstens einmal in Lebensgefahr geschwebt haben.«

»Auf den Landstraßen von England vielleicht?«, erwiderte der Franzose, ärgerlich darüber, dass er unterbrochen worden war.

»Nein, in Frankreich, mein Herr. Es ist kaum zwölf Jahre her, da sollte ich, der ich hier zu Ihnen spreche, daselbst meuchlings ermordet werden.«

Die Frauen stießen einen Ausruf des Entsetzens und der Neugierde aus. Man bat Herrn Burns zu erzählen und rückte die Stühle näher heran.

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