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Neue Gespenster – 39. Erzählung

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil

Neununddreißigste Erzählung

Der Lichtgeist, welcher im Jahre 1799 Frau Woodcock bei Cambridge ins Unglück stürzte

Am zweiten Februar 1799 ritt die Engländerin Elisabeth Woodcock, zweiundvierzig Jahre alt, von Impington nach Cambridge zu Markte. Es war ein rauer, stürmischer Abend, als sie in die Heimat zurückkehrte. Ein kalter Wind blies heftig aus Nordost. Der Boden war mit einer Menge Schnee, der den Tag über gefallen war, bedeckt, jedoch nicht überall in gleicher Höhe. Die tiefsten Graben waren fast ganz ausgefüllt, indessen auf dem offenen Feld nur eine dünne Decke lag; aber in den Wegen, in den Gängen zwischen Hecken und überhaupt an allen etwas eingeschlossenen und engen Plätzen, hatte der Schnee sich zu einer so beträchtlichen Höhe angehäuft, dass die Wege zwar noch zu passieren waren, man aber nur mit Mühe fortkommen konnte.

Die arme Frau war auf dem Rückwege abends gegen sieben Uhr nur noch wenige Schritte (höchstens noch eine halbe Viertelstunde) von ihrem Dorf entfernt , als plötzlich ein sie umschwebendes Etwas – ein Lichtgeist – ein unbeschreiblicher Himmelsglanz ihre und ihres treuen Pferdes Augen dermaßen blendete, dass sie beinahe sinnlos in den unwillkürlichen Ausruf ausbrach: »Guter Gott! Was war das?«

Indessen wurde ihr das Pferd, das über den Anblick des Lichtgeistes nicht weniger als seine Gebieterin sich entsetzte, völlig scheu. Es kehrte auf der Stelle um und lief auf einen Graben zu. Dadurch kam die arme Frau von Angst und Gespensterfurcht, die sich ihrer bemächtigt hatten, wieder etwas zu sich. Sie war besorgt, dass das Tier in den Graben fallen könnte, und dies bewog sie geschwind hinabzuspringen. Sie wollte gehen und das Pferd hinter sich her führen, allein es war über jenen Schreckensanblick so scheu geworden, dass sie es nicht zu beruhigen vermochte. Sie versuchte noch einmal den Zügel zu ergreifen, aber das Pferd, welches sich von seiner Furcht nicht erholen zu können schien, blieb nun selbst nicht mehr im Weg, sondern lief querfeldein. Sie eilte ihm aus allen Kräften nach, um es wieder einzuholen; allein zum Unglück verlor sie einen ihrer Schuhe im Schnee. Sie war schon durch den bisherigen Aufwand von Anstrengungen ermüdet. Überdies hatte sie noch einen schweren Handkorb am Arm, worin allerlei Dinge für häusliche Bedürfnisse waren, die sie vom Markt mitgenommen hatte. Dadurch wurde sie am raschen Verfolgen des Pferdes sehr gehindert. Sie ließ indessen nicht ab und folgte ihm durch die Öffnung einer Hecke. Nicht weit hinter derselben, ein paar tausend Schritte von dem Ort, wo sie vom Pferd gesprungen war, holte sie dieses ein. Sie machte nun noch einen Versuch, es am Zügel nach Hause zu führen. Sie war aber nur wenige Schritte bis zu einem etwa fünf Fuß hohen Dornbusch, der an die erwähnte Hecke stößt, zurückgegangen. Als sie sich so ermüdet und erschöpft fühlte und ihre Hände und Füße (besonders der linke, von welchem sie den Schuh verloren hatte) so erstarrt waren, das sie außer Stand war, weiterzugehen. Sie setzte sich auf den Boden und ließ den Zügel aus der Hand.

»Tinker«, dies war der Name ihres Pferdes, »Tinker«, sprach sie, »ich kann nicht weiter, du musst ohne mich nach Hause gehen. Gott! Erbarme dich meiner, was wird aus mir werden!«

Der Fleck, woraus sie saß, war in gleicher Höhe mit dem offenen Feld und gegen Südwest vom Busch eingeschlossen. Sie kannte dessen Lage und Entfernung von ihrem Haus sehr gut. Als sie sich hier niederließ, lag nur sehr wenig Schnee daselbst, aber bald häufte er sich mit einer so reißenden Schnelligkeit, dass sie, als es zu Chesterton um acht Uhr zur Nacht läutete, schon gänzlich eingeschlossen war. Die Höhe des sie umgebenden Schnees betrug ungefähr sechs Fuß, zwei bis drei Fuß ragte er über ihren Kopf. Sie war gänzlich eingeschlossen und nicht imstande, einen wirksamen Versuch zu ihrer Befreiung zu machen. Außer der Müdigkeit und Kälte, die sie empfand, waren auch noch ihre Kleider vom Frost ganz steif.

Nun ergab sie sich, mit völliger Verzichtleistung auf baldige Hilfe und Rettung aus ihrer traurigen Lage und erwartete sitzend den Anbruch des Tages und vielleicht die Ankunft des Todes.

Zum Glück schlief sie diese und fast alle folgende Nächte sehr wenig. Am nächsten Morgen sehr früh hörte sie deutlich das Läuten einer Glocke in einem sehr nahe liegenden Dorf. Sie war nun auf ihre Erhaltung bedacht und damit beschäftigt, Mittel zu erdenken, wodurch sie die Vorbeikommenden auf den Platz, wo sie war, aufmerksam machen könne. Da sie am Morgen des dritten Februars (den ersten nach ihrer Einschließung) vor sich im Schnee eine kreisförmige Höhlung, ungefähr einen Fuß lang und einen halben Fuß im Durchschnitt, bemerkte, so stieß sie aufwärts schief durch die Masse hindurch, brach einen Zweig von dem nahen Busche ab, band ihr Schnupftuch daran und steckte es als ein Notzeichen zwischen die obersten, unbedeckt gebliebenen Zweige des Busches.

Das äußere oder oberste Ende dieser Höhlung war am ersten Morgen mit einer dünnen Schnee- oder Eisrinde, welche das Licht bequem durchgelassen hatte, verschlossen gewesen. Als sie, um ihr Schnupftuch hinauszustecken, diese Rinde durchbrach, fühlte sie, dass die hineindringende Luft sehr kalt war. Am zweiten Morgen war die Öffnung wieder auf dieselbe Art verschlossen, bis zum dritten Tag, von welcher Zeit an sie offen blieb.

Die Eingeschlossene erinnerte sich, dass der Mondwechsel nahe sei. Da sie einen Kalender in der Tasche hatte, so zog sie ihn, wiewohl mit vieler Schwierigkeit, da ihre Kleider ganz steif gefroren waren, heraus und fand, dass am folgenden Tag (den vierten Februar) Neumond sei. Sie beruhigte sich nun einigermaßen durch die Hoffnung einer nahen Veränderung des Wetters.

Übrigens konnte sie, nach ihrer Versicherung, ganz deutlich Tag und Nacht unterscheiden. Auch hatte sie das Geläute in ihrem Dorf und in der Nachbarschaft, besonders in Chesterton, zu jeder Zeit gehört und überhaupt alles, was in ihrer Nähe vorgegangen sei, vernommen; namentlich das Fahren der Wagen, das Blöken der Schafe und das Bellen der Hunde.

Eines Tages hörte sie ein ganzes Gespräch zwischen zwei Zigeunern über einen Esel, der sich verlaufen hatte, mit an. Sie wusste ganz genau anzugeben, sie hätten nicht von ihren Eseln überhaupt, sondern ausdrücklich von einem durch gewisse Merkmale bezeichneten Esel gesprochen. Die Zigeuner selbst erkannten die Richtigkeit dieser Aussage an.

Einmal zog sie ihre Schnupftabaksdose heraus und nahm ein paar Prisen. Sie hatte aber so wenig eine angenehme Empfindung davon, dass sie es nicht wiederholte. Wahrscheinlich waren durch die Kälte ihre Geruchsnerven so abgestumpft, dass der Schnupftabak allen Reiz für sie verloren hatte.

Ein anderes Mal bemerkte sie, dass ihre linke Hand zu schwellen anfing; wahrscheinlich, weil sie sich eine Zeitlang auf diesen Arm gestützt hatte. Sie nahm daher zwei Ringe – Denkmale eines zweimal geschlossenen Ehebundes – vom Finger und tat sie, nebst etwas Geld, das sie in der Tasche hatte, in eine kleine Büchse, damit diese Dinge, wenn sie hier sterben sollte, nicht so leicht verloren gehen sollten.

Oft schrie sie, in der Hoffnung, dass ihr Geschrei die Ohren der Vorübergehenden erreichen würde ,aber ihre Stimme vermochte nicht, durch den Schnee zu dringen. Die Zigeuner, die näher vor ihr vorübergingen als andere Personen, vernahmen keinen einzigen Ton aus ihrer Schneehöhle, ob sie gleich die Aufmerksamkeit dieser Leute vornehmlich auf sich zu ziehen versuchte.

Als endlich freitags, den sechsten Tag nach ihrer Einschließung, Tauwetter einfiel, so fühlte sie sich ungemein schwach und ermattet. Ihre Kleider waren vom geschmolzenen Schnee völlig durchnässt. Die Höhlung im Schnee über sie erweiterte sich beträchtlich und dies veranlasste den mehrmaligen Versuch, sich herauszuhelfen, aber leider reichten ihre Kräfte nicht zu, diese Bemühungen mit Erfolg zu krönen. Füße und Arme versagten ihre Dienste und ihre Kleider wurden durch das eingesogene Wasser immer schwerer.

Nun verzweifelte sie zum ersten Mal daran, lebendig an diesem Ort gefunden zu werden. Sie versicherte, alle Umstände erwogen, hätte sie nicht hoffen können, noch vierundzwanzig Stunden auszudauern.

Als endlich der Morgen ihrer Befreiung anbrach, hatten ihre Leiden den höchsten Gipfel erreicht. Sie saß, indem sie eine Hand vor das Gesicht hielt und tiefe Seufzer holte, ihr Atem war kurz und schwer. Es zeigten sich alle Merkmale des nahen Todes.

Sonntags, am zehnten Februar, ging zu Mittag ein junger Bauer, Namens Joseph Muncey, auf dem Rückweg von Cambridge über das offene Feld und kam ganz nahe an dem Ort vorbei, wo sich die Frau befand. Das vorhin erwähnte Taschentuch oben an den Zweigen des Busches fiel ihm ins Auge. Er ging darauf zu und bemerkte eine Öffnung im Schnee. Es war dieselbe, die zum Gefängnis der Frau führte. Er hörte einen schwachen Laut aus derselben, gleich dem einer Person, die rief und schwer atmet. Er sah hinein und erblickte eine weibliche Gestalt, in welcher er sogleich die so lang vermisste Woodcock erkannte; indessen sagte er nichts zu ihr, sondern ging zu einem anderen jungen Bauer und zu dem Schäfer, die sich in einer kleinen Entfernung befanden, um ihnen seine Entdeckung mitzuteilen. Obwohl diese seiner Erzählung kaum glauben konnten, so gingen sie doch mit ihm.

»Seid Ihr da, Elisabeth Woodcock?«, rief der Schäfer ihr zu.

Sie antwortete mit schwacher und matter Stimme: »Lieber John Stittle, ich erkenne Eure Stimme. Um Gottes willen, helft mir von diesem Ort!«

Man tat sogleich alles, ihre Bitte zu erfüllen. Stittle machte Bahn durch den Schnee, bis er sie erreichen konnte. Sie ergriff hastig seine Hand und bat ihn, sie nicht fahren zu lassen.

»Ich war lange hier«, sagte sie.

»Ja wohl«, antwortete der Mann, »es mag immer seitdem Sonnabend sein.«

»Seit Sonnabend vor acht Tagen, ich hörte zwei Sonntage zur Kirche läuten.«

Daraus sieht man deutlich, wie genau sie die Zeit ihrer Einschließung anzugeben wusste.

Indessen waren Muncey und der jüngere Morrington ins Dorf gegangen, um dem Mann Nachricht zu geben und Anstalten zu machen, sie nach Hause bringen zu lassen. Sie kamen sogleich wieder zurück, begleitet vom Mann, einigen Nachbarn und dem älteren Morrington, der eine Kalesche, Tücher und Erfrischungen mitbrachte. Man reichte ihr ein Stück Biskuit und etwas wenig Branntwein, wovon sie sich sehr erquickt fühlte. Als Morrington sie in die Kalesche heben wollte, da fiel vom linken Bein der Strumpf herab, der am Boden fest saß.

Sie selbst sank ohnmächtig In Morringtons Arme, so behutsam er auch mit ihr umging. Aber die Natur war zu sehr erschöpft und die Bewegung, wozu noch der Eindruck kam, welcher der Anblick ihres Mannes und ihrer Nachbarn auf sie gemacht hatte, war zu stark für ihre Kräfte und ihre Lebensgeister. Die Ohnmacht ging jedoch vorüber.

Sobald sie sich erholt hatte, setzte man sie mit aller Behutsamkeit in den Wagen, wickelte sie in Tücher ein und brachte sie ohne Verzug zu ihrem Haus.

Als am Abend ihres Unfalls das Pferd allein nach Hause gekommen war, hatte sich ihr Mann, nebst einigen Bekannten, sogleich mit einer Laterne auf den Weg gemacht und war bis nach Cambridge gegangen. Alles, was er von ihr in Erfahrung brachte, war, dass seine Frau abends um sechs Uhr das Wirtshaus verlassen habe. Sie suchten die ganze Nacht und die vier folgenden Tage hindurch auf der Landstraße und in den Hütten der Zigeuner, welche sie in Verdacht hatten, dass sie sie beraubt und dann ermordet hätten.

Der Chirurg Okes sah sie schon, als sie nach Hause gebracht wurde. Sie sprach mit ihm, ihre Stimme war zwar nicht ganz schwach, aber ziemlich heiser. Hände und Arme waren aufgedunsen und nicht sehr kalt; aber beide Beine und besonders die Füße, deren einer schon vor ihrer Einschließung in den Schnee gelitten hatte, waren abgestorben. Sie wurde sogleich ins Bett gebracht und man gab ihr etwas schwache Fleischbrühe. Seitdem sie vermisst worden war, hatte sie nichts als Schnee gegessen, und ihre einzige Ausleerung war etwas Wasser. Die Unruhe, welche die Menge der Besuchenden ihr machte, zog ihr Fieberanfälle zu.

Der Wundarzt verordnete ein Klistier von Schöpfenfleischbrühe, wodurch sie sich sehr gestärkt fühlte, und leistete der Unglücklichen durch innere und äußere zweckdienliche Arzneien all die Hilfe, deren sie so sehr bedurfte. Als das Fieber nachgelassen hatte, zeigten sich über dem ganzen Körper breite rote Finnen oder Schwären; wahrscheinlich aus derselben Ursache, aus welcher die Frostbeulen entstehen. Die Kälte hatte ihre gewaltsamen Wirkungen über die gänzlich erstorbenen Fußsohlen, und von den äußersten Zehen an bis in die Mitte des Oberfußes und bis einen Zoll über die Fersen hinüber ausgedehnt.

Die Kranke klagte über innere Kälte in den Füßen und hatte die verordneten Überschläge sehr oft und sehr warm wiederholen lassen. Am neunzehnten Februar bekam sie eine heftige Diarrhö, wodurch sie sehr abgemattet wurde. Zwei Tage darauf waren einige Zehen so lose, dass sie mit der Schere abgenommen werden konnten. Am dreiundzwanzigsten wurden alle Zehen des linken Fußes und die Haut von der Fußsohle abgelöst. Selbst das os calcis und der rendo Achillis hatten gelitten.

Auch an dem anderen Fuß wurden nach und nach alle Zehen abgelöst.

Gegen Ende des März stellte sich eine außerordentliche Schläfrigkeit ein. In der Mitte des Aprils waren die Füße beinahe ganz geheilt. Die Kranke hatte gute Esslust und ihre Gesundheit schien sich überhaupt zu verbessern. Dessen ungeachtet fühlte sie sich sehr unbehaglich und in der Tat hatte sie auch die traurigste Aussicht. Ihr Leben war gerettet, aber der verstümmelte Zustand, bei dem ihr keine Hoffnung blieb, je wieder ihre häuslichen Pflichten wie ehemals zu erfüllen, war für sie schlimmer als der Tod selbst. Sie hielt es daher für ein Glück, als dieser ihrem entkräfteten Leben am dreizehnten Julius 1799 ein Ende machte.

Mit der Glanzerscheinung, mit dem spukenden himmlischen Licht, über welches sich die unstreitig etwas abergläubige und in der Naturlehre nie unterrichtete unglückliche Woodcock so heftig entsetzte, war es übrigens ganz natürlich zugegangen. Es hatte eine Menge Menschen in der ganzen Nachbarschaft zugleich erschreckt und war von den meisten für das erkannt worden, was es war – für ein im Februar gar nicht ungewöhnliches elektrisches Licht, d. h. für ein Wetterleuchten, welches nach bekannten Naturgesetzen ebenso gut durch strenge Kälte, als auch durch anhaltende Wärme in dem Dunstkreis hervorgebracht wird. Die Verunglückte, welche über jene Lufterscheinung von Schauder und Entsetzen ergriffen wurde, würde bei mehr Aufklärung und bei weniger Anhänglichkeit an Geisterwirkungen unstreitig ruhigeren Gemütes ihrem fliehenden Pferd gefolgt sein und weniger kraftlos und erschöpft dasselbe eingeholt und in die Heimat zurückgeführt haben, ohne mutlos und ohnmächtig in den Schnee zu sinken und das unglückliche Opfer ihres Entsetzens vor dem vermeintlich übernatürlichen Himmelsglanz zu werden.

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