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Nick Carter – Zur Strecke gebracht – Kapitel 5

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Zur Strecke gebracht
Ein Detektivroman

Eine teuflische Marter

Pünktlich hatten Patsy und Ten Itchi sich ihrer Aufgabe entledigt und ihren Gefangenen im Polizeihauptquartier abgeliefert, wo er sofort von Inspektor McClusky persönlich einem scharfen Kreuzverhör unterzogen wurde. Die beiden jungen Detektive selbst kehrten unter Begleitung einiger Kollegen von der Zentrale so schnell sie konnten zu dem Eckhaus an Central Park West und 78th Street zurück.

»Die Wohnung ist hell erleuchtet«, versetzte Patsy, als sie sich der bewussten Straßenecke näherten. »Bin neugierig, was der Meister inzwischen ausgerichtet hat.« Er wendete sich an die anderen Detektive. »Ich denke, Sie bleiben am besten hier draußen stehen und behalten die Mittelfenster der zweiten Etage scharf im Auge. Ten Itchi und ich werden ins Haus hineingehen und zusehen, welche Befehle der Meister für uns alle hat.«

Während die Detektivs der Zentrale sich geschickt und unauffällig auf der Straße verteilten, traten die beiden Gehilfen Nick Carters in den glänzend erleuchteten Flur des Hauses.

»Well?«, wendete sich der Hausmeister, der seiner Gewohnheit nach hinter seinem Pult saß, an die Eintretenden. »Wenn ich nicht irre, waren Sie heute Nachmittag mit Mr. Carter hier, eh? Sie kommen wir wenigstens bekannt vor.«

»Gewiss, wir sind Mr. Carters Leute«, bestätigte Patsy. »Der Meister sagte, er würde mit uns hier zusammentreffen.«

»Mr. Carter ist nicht mehr hier im Haus«, meinte der Hausmeister nun.

»Fortgegangen, eh?«, erkundigte sich Patsy.

»Allerdings … mit dem Herrn, der den ganzen Nachmittag hier in der Halle saß. Ich glaube, es ist ein Verwandter von ihm …«

»Ganz richtig, es ist Chick Carter … ein ganz prächtiger Kerl … lebte Nick Carter nicht, könnten die New Yorker froh sein, einen Chick zu haben.«

»Mir können sie alle beide gestohlen bleiben!«, knurrte der Hausmeister, der sich in übelster Laune befand. »Hat man je schon in solchem hochfeinen Haus Derartiges erlebt … zwei Verhaftungen am selben Nachmittag!«

»Zwei?«, fragte Patsy rasch dazwischen. »Ich dachte drei …«

»Warum nicht gar ein ganzes Dutzend?«, schrie der Hausmeister wütend. »Es mag ja sein, dass die Polengräfin so ‘ne Sumpfpflanze ist … Mir kam sie gleich von Anfang an ein wenig zweideutig vor … doch da sie immer pünktlich ihre Miete im Voraus bezahlte, habe ich mich nicht weiter um sie gekümmert.«

»Mr. Carter hat sie verhaftet?«, erkundigte sich Patsy.

»Gewiss«, erklärte der Hausmeister. »Er kam herunter, und die Lady hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt. Ich konnte es deutlich sehen, obwohl sie einen langen Abendmantel darüber trug. Es war eigentlich ein erbärmlicher Anblick … ‘ne Lady zu fesseln, ich hätte von Mr. Carter besser gedacht.«

»Mich befremdet es auch!«, brummte Patsy, der einen raschen, erstaunten Blick mit dem in gewohnter Schweigsamkeit danebenstehenden Ten Itchi ausgetauscht hatte. »Ich meine, Sie müssen sich irren, mein lieber Mann … Diese Inez Navarro oder Gräfin Chapska, wie sie sich hier im Haus nannte, ist freilich eine schwere Verbrecherin … aber in meines Meisters Augen bleibt sie immer eine Frau, und er wird sich niemals dazu verstehen, einem weiblichen Wesen Fesseln anzulegen.«

»Unsinn!«, knurrte der sich ereifernde Hausmeister. »Ich habe doch meine Augen im Kopf, ich sah deutlich die Stahlfesseln funkeln. Euer Meister hatte die Gräfin noch obendrein beim Arm gepackt und hielt sie so, dass der Mantel sich verschoben hatte und man die Fesseln sehen musste, verstanden?«

»Das tut Mr. Carter nicht!«, widersprach Patsy heftig.

»Nein, das tut der Meister nicht«, bemerkte nun auch Ten Itchi. »Mr. Carter ist Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle … Er fesselt keine Frau …«

»Dann wissen Sie es eben besser«, brummte der Hausmeister. »Großartig, ich war von Anfang bis Ende persönlich dabei und soll mich nun darüber mit Ihnen herumstreiten.« Er lachte spöttisch. »Vielleicht rief er auch nicht gleich vom Fahrstuhl her seinem Gehilfen zu, gerade als ob ihm das Haus gehörte und er auf keinen Menschen Rücksicht zu nehmen brauchte: ›Schnell, Chick, einen Wagen … wir haben die Gesuchte‹ …«

»So, Chick holte einen Wagen?«, erkundigte sich Patsy. »Und was geschah dann?«

»Die beiden stiegen mit ihrer Gefangenen ein und fuhren fort. Was soll denn sonst noch gewesen sein?«

»Nun, Mr. Carter muss Ihnen doch gewiss Verhaltensmaßregeln für uns aufgetragen haben.«

»Er dachte nicht daran … Die paar Worte an den anderen Detektiv waren alles, was ich von ihm zu hören bekam … Die Geschichte spielte sich in kaum zwei Minuten ab – es mag nun bald eine Stunde her sein«, fügte er mit einem Blick auf die Wanduhr hinzu.

»Das verstehe ein anderer!«, sagte kopfschüttelnd Patsy. »Der Meister hinterließ kein Wort – weder eine Angabe seines augenblicklichen Aufenthalts noch sonst etwas?«

»Nichts!«, wiederholte der Hausmeister ungeduldig. »Ich sagte es ja bereits … Und nun, Gentleman, excuse me, doch ich habe zu tun.«

»Das verstehe ich nicht«, bemerkte Patsy unter erneutem Kopfschütteln.

»Unbegreiflich«, meinte auch Ten Itchi. »Der Meister ist so gewissenhaft … Hat er nicht wenigstens gesagt, wir sollten ihn zu Hause erwarten?«, wollte er von dem Hausmeister, diesem den Weg vertretend, wissen.

Umsonst versuchte dieser sich freizumachen. »Nein, nein und tausendmal nein!«, rief er in hellem Ärger. »Wie oft soll ich es denn wiederholen? … Mr. Carter sagte nichts, rein nichts, sondern er ließ nur einen Wagen von seinem Gehilfen holen, und dann fuhr er mit diesem und der verhafteten Gräfin davon … Mehr kann ich mit dem besten Willen nicht sagen.«

»Dann war es auch nicht Mr. Carter … Es ist noch Licht in der Wohnung!«, entgegnete ihm Patsy unbeirrt.

»In der Wohnung ist niemand mehr!«, erklärte der Hausmeister ungehalten. »Da kommt zum Überfluss gerade das Servantgirl (Dienstmädchen).« Er deutete auf eine eben in die Halle tretende Blondine. Die beiden Detektivs erkannten in ihr sofort das Mädchen wieder, welches ihnen am Nachmittag, als sie in ihrer Verkleidung als Transportarbeiter an der Korridortür oben klingelten, geöffnet hatte.

»Wohin wollen Sie?«, herrschte der gereizte Hausmeister das rasch am Pult vorüberhuschende Mädchen barsch an. »Oben in der Wohnung ist niemand … Ihre saubere Lady ist verhaftet worden.«

Das Mädchen erschrak, blieb stehen und zitterte. »Nicht möglich«, entrang es sich ihren Lippen. »Sie schickte mich doch mit einigen Einladungsbriefen fort. Ich ging erst vor einer Stunde aus der Wohnung, und oben brennt auch noch Licht … Verhaftet, sagen Sie?«, stammelte sie unter erneutem Kopfschütteln. »Das kann nicht der Fall sein … Frau Gräfin ist solch eine vornehme Lady.«

»Es ist aber trotzdem so«, mischte sich Patsy ins Gespräch. »Sie brauchen mich nicht so verächtlich anzuschauen, Miss, wenn ich auch einen beschmutzten Arbeiterkittel trage … Ich bin Detektiv, und Sie werden gut tun, mir und meinen Kollegen wahrheitsgetreue Auskunft zu geben.«

Das Mädchen erschrak und verfärbte sich. Es hatte den Anschein, als wollte sie den Fuß zur Flucht wenden, doch Patsy vertrat ihr geschickt den Weg. »Machen Sie keinen Unsinn, Miss, die Sache ist dafür viel zu ernst«, warnte er. »Wie lange sind Sie bei dieser Gräfin?«

»Erst einen Monat«, hauchte das Mädchen. »Mr. Butler hier kann es bezeugen.«

Sie deutete auf den Hausmeister, welcher bestätigend nickte. »Gentlemen«, bat er, »tun Sie mir den einigen Gefallen und fangen Sie nicht auch noch hier in der Halle mit neuen Verhaftungen an.«

»Allbarmherziger!«, stammelte das Mädchen. »Wer will mich verhaften und … und weshalb …«

»Beruhigen Sie sich«, beschwichtigte sie Patsy. »Wir denken nicht daran, Sie festzunehmen. Alles, was wir von Ihnen verlangen, ist eine völlig wahrheitsgetreue Auskunft. Ihre Gräfin ist eine schwere, längst von der Polizei gesuchte Verbrecherin – Well, dafür können Sie natürlich nichts«, sagte der junge Detektiv begütigend, als die Zofe entsetzt zusammenzuckte.

»Aber Frau Gräfin und ihr Gemahl sind so vornehm und … ist denn der Graf auch verhaftet worden?«, erkundigte sich das Mädchen. »Doch nein, er ist gewiss noch in der Wohnung.«

»Von wem sprechen Sie?«, mischte sich der sehr erstaunt Hausmeister ins Gespräch. »Von welchem Grafen?«

»Von Graf Chapski, dem Gemahl der Gräfin«, meinte das Mädchen schnippisch.

»Wunderbar!«, sagte der würdige Zerberus erstaunt. »Nun ist sie auf einmal verheiratet … Da wusste ich ja gar nichts davon. Kuriose Geschichte«, wendete er sich an die gespannt zuhörenden Detektivs, »da wird keiner daraus klug. Die Gräfin hat die Wohnung mindestens schon ein halbes Jahr … Doch sie gab nur gelegentliche Abendgesellschaften in derselben, erst seit einem Monat wohnt sie im Haus, und es fällt mir jetzt auf, dass ich sie seither das Haus noch niemals habe verlassen sehen.«

»Kann ich mir denken«, warf Patsy ein. »Seit vier Wochen … das ist genau so lange, wie sie aus der 75th Street verschwunden ist … Dort lebte sie als Inez Navarro … Eine großartige Frechheit, das andere Haus ist keine drei Minuten von hier entfernt! Aber was ist mit dem Gatten?«, unterbrach er sich fragend.

»Weiß ich nicht!«, knurrte der Hausmeister. »Ich sagte schon, dass in der Wohnung elegante Lebemänner dutzendweise verkehrten … Wer da der Gatte ist …« Er zuckte mit den Achseln.

»Well, Mr. Butler, der Graf ist leidend, und weil er das Haus nicht verlassen konnte, so blieb auch die Frau Gräfin daheim«, erklärte nun die Zofe. »Im Übrigen ist er ein bildschöner Mann.«

»Das ist Morris Carruthers auch«, entfuhr es Patsy unwillkürlich.

»Morris … ganz richtig … so nennt ihn Frau Gräfin immer, wenn sie beide allein sind«, warf das Mädchen ein.

Die beiden Detektivs schauten sich erstaunt an; dann wendete Patsy sich rasch an die Zofe.

»Sie wollen doch nicht behaupten, dass dieser Graf Morris sich noch vor Kurzem oben in der Wohnung befand?«, erkundigte er sich.

»Aber ganz gewiss«, verteidigte sich das Servantgirl. »Er erwartete noch einen alten Freund, mit dem er sich einen Spaß erlauben wollte … Es war zu komisch«, sagte sie kichernd.

»Was war komisch?«, drängte Ten Itchi, aus dessen markanten Zügen die trübe Vorahnung irgendeines unheimlichen Geschehnisses sprach.

»Ach, ich musste die feinen Kleider der Gräfin anziehen und mich für diese ausgeben. All die anderen Herren waren eingeweiht, es war zum Totlachen. Dann kam der betreffende Herr, und ich musste ihn als Frau Gräfin empfangen, und dann hatte ich kaum Zeit, die Kleider abzustreifen, denn Frau Gräfin schickte mich mit den Einladungsbriefen aus … Da musste ich mich beeilen.«

»Wann war das?«, fragte Patsy beklommen, denn auch ihm schwante irgendwelches Unheil.

»Das kann ich genau sagen«, erklärte statt des Mädchens der Hausmeister mit einem Blick auf die Uhr. »Mr. Carter ging genau vor einer Stunde hinauf, und gleich darauf, knapp fünf Minuten später, kamen Sie mit den Depeschen hier an uns vorüber … Ich musste Mr. Chick noch Auskunft über Ihre Person geben«, erläuterte der Mann, zu dem Mädchen gewendet.

Patsy hatte Mühe, einen Schreckensruf zu unterdrücken. »Ewiger, dann war es der Meister, der von Ihnen als Gräfin empfangen wurde …«

»Vermutlich eine Falle«, bemerkte Ten Itchi. »Diese Inez Navarro wusste, dass des Meisters Scharfblick sie sofort erkennen würde, darum schob sie ihre Zofe vor, um Mr. Carter sicher zu machen …«

»Und Ihr angeblicher Graf Morris befand sich in der Wohnung, als Sie Mr. Carter jene Komödie vorspielen mussten?«, fragte Patsy das Mädchen in atemloser Hast.

»Aber selbstverständlich«, erklärte die Gefragte. »Er stand mit Frau Gräfin hinter dem einen Türvorhang und wollte sich ausschütten vor Lachen, weil ich meine Sache so gut machte und es fertig brachte, dass der fremde Herr sich genau auf den für ihn bestimmten Stuhl im Spielzimmer setzte …«

»Auf einem bestimmten Stuhl – im Spielzimmer«, wiederholte Patsy verständnislos. »Was das alles zu bedeuten hat, das weiß ich selbst nicht … Doch es steckt eine Teufelei dahinter, so viel ist sicher.«

»Jedenfalls hat Mr. Carter mit seiner Gefangenen das Haus längst verlassen«, warf der Hausmeister ein, den die Angelegenheit herzlich wenig interessierte.

»Das hat er nicht … wenigstens so lange nicht, als Morris Carruthers in der Wohnung steckte!«, widersprach Ten Itchi, mehr zu seinem Gefährten gewendet.

»Das sind alles Sachen, die ich nicht begreife«, rief Patsy erregt. »Der Meister sollte nur diese Inez verhaftet und ihren Komplizen ungeschoren gelassen haben? … Das glaube, wer es kann – ich nicht! Zehnmal eher ließe Mr. Carter die Frau frei ausgehen, aber seinen erbitterten Todfeind in der Wohnung wissen und nicht festnehmen … Haben Sie nicht aus der Wohnung schießen hören oder sonst verdächtiges Geräusch vernommen?«, wendete er sich rasch wieder an den Hausmeister.

»Das hätte gerade noch gefehlt!«, knurrte dieser. »Wollen Sie nicht lieber gleich das ganze Haus auf den Kopf stellen? An den heutigen Tag will ich denken; wenn der mich nicht obendrein noch meine Stelle kostet, so will ich mich glücklich schätzen!«

»Well, wir müssen in die Wohnung gehen!«, entschied Patsy. »Haben Sie einen Türschlüssel bei sich, Miss? Ich glaube kaum, dass man auf unser Läuten öffnet.«

Das Mädchen verneinte.

»Frau Gräfin war mit den Schlüsseln sehr eigen«, erklärte sie. »Sie gab keinen aus der Hand, lieber blieb sie so lange auf, um selbst zu öffnen.«

»Kann ich mir denken!«, meinte der junge Detektiv sarkastisch. »Sie wird immer auf ihrer Hut gewesen sein, diese famose Schwindelgräfin.« Er lachte kurz auf. »Nun, die Tür werden wir bald geöffnet haben.«

Damit zog er zum Entsetzen des Hausmeisters einen dietrichähnlichen Gegenstand hervor.

»Mit dem Knacker da mache ich jede gewöhnliche Tür in New York innerhalb von zwei Minuten auf!«, versetzte er leichthin.

»Aber ich bitte Sie, Mister, in einem Haus mit solch hoch vornehmen Mietern.«

»Well, darauf gebe ich ver… wenig!«, unterbrach Patsy lachend. Unvermittelt wurde er wieder ernst. »Hören Sie, mein Bester«, versetzte er eindringlich. »Es handelt sich hier nicht um irgendeinen beliebigen Menschen, sondern um den berühmten Detektiv Nick Carter, der in meinen Augen eine wichtigere Persönlichkeit ist wie etwa unser Präsident oder der Papst. Haben Sie unseren Meister mit der gefangenen und gefesselten Gräfin das Haus verlassen sehen?«

»Himmel, wie oft soll ich es wiederholen?«, stöhnte der Hausmeister. »Ihr Mr. Chick holte den Wagen, wie Mr. Carter es ihm befahl … und gleich darauf fuhren die drei gemeinsam fort.«

»Unbegreiflich«, meinte Patsy. »Ich kenne doch den Meister … Konnte er diese Gräfin verhaften, warum tat er nicht dasselbe mit Morris Carruthers? … Er war doch entschieden Herr in der Wohnung, und dieser Carruthers ist sehr flink mit dem Revolver bei der Hand … Die Sache fängt allmählich an, unheimlich zu werden«, brach er seufzend ab. »Well, wir gehen in die Wohnung!« Entschlossen schritt er auf den Fahrstuhl zu.

Schon vor einer Minute hatte der Fernsprecher angeklingelt.

»Heda, Mister«, rief jetzt der Hausmeister, der das Hörrohr am Ohr hatte. »Der Ruf gilt Ihnen, kommen Sie mal her.«

Das ließ sich Patsy nicht zweimal sagen; die Sekunde darauf hatte er den Empfänger in der Hand.

»Hallo, wer dort?«

»Wer ist am anderen Ende?«, ertönte eine Stimme, in welcher Patsy sofort Chick zu erkennen glaubte.

»Hier ist Patsy Murphy … bist du es, Chick?«, fragte der Jüngling.

»Ich bin es«, ertönte es aufgeregt zurück. »Um des Himmels willen, wo ist der Meister?«

Patsy verfärbte sich.

»Er fuhr doch mit dir und der gefesselten Inez Navarro fort?«

»Nein, ich bin getäuscht worden … Es muss Morris Carruthers gewesen sein, der sich so meisterhaft als Nick verkleidet hatte, dass selbst ich auf den Schwindel hereinfiel …«

»Donnerwetter!«, schrie Patsy auf. »Das ist ja unglaublich … Doch weiter, wo in aller Welt steht der Meister?«

»Wenn ich es nur wüsste!«, rief Chick zurück. »Darum frage ich ja eben … Ich befinde mich in einem schrecklichen Zustand und bin noch so schwach, dass ich mich kaum aufrecht halten kann.«

»Alle guten Geister, mir steht der Verstand still!«, erwiderte Patsy. »Was soll das heißen?«

»Ich weiß es nicht … Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ratlos!«, seufzte der sonst so mutige und entschlossene Chick. »Doch höre, ich dachte nichts Böses. Wir waren gerade in den Wagen gestiegen, und ich saß Nick und dessen Arrestantin gegenüber. Gerade wollte ich eine Frage an den Meister richten, da fiel Nick mir plötzlich in die Arme, oder vielmehr der Kerl, den ich für den Meister hielt. Der Unhold hat mich mit einem Lappen, den er mit Chloroform getränkt hatte, betäubt, dann hat er die Droschke halten lassen und ist mit seiner Begleiterin rasch ausgestiegen. Der Kutscher ist weitergefahren … und ich lag, wie sich nun herausstellt, über eine halbe Stunde betäubt und besinnungslos im Wagen, bis ich zuletzt mich wieder aufraffte und hierher zu der 27. Polizeistation fahren ließ … Das ist alles, was ich weiß. Es muss dem Meister ein Unglück geschehen sein und er sich noch in der Wohnung befinden, denn er ging in meiner Gegenwart hinauf.«

»Dann ist er in der Wohnung!«, erwiderte Party bestürzt, der kreidebleich im Antlitz geworden war. »Bleibe am Fernsprecher, Chick … Ich eile sofort hinauf und öffne die Wohnung … In dieser ist alles taghell erleuchtet, und anscheinend ist niemand drinnen.«

Der Hausmeister hatte Mühe, die Erregung des jungen Detektivs wenigstens so weit zu dämpfen, dass seine überlaut gewordene Stimme nicht das ganze Haus in Aufruhr versetzte. Sofort begaben sich die beiden Detektivs in Begleitung der Zofe in das zweite Stockwerk, und auch der Hausmeister schloss sich ihnen an.

Die Minute darauf setzte Patsy auch schon die Vorsaalklingel ungestüm in Bewegung. Alles verhielt den Atem, um zu lauschen.

»Nicht die Türklinke anfassen … nichts an der Tür machen!«, hörten die beiden Detektivs in diesem Moment auch schon die ihnen wohlbekannte Stimme ihres Chefs.

Als ob er ein glühendes Eisen berührt hätte, fuhr Patsy vom Türdrücker, den er eben mechanisch hatte niederpressen wollen, zurück.

»Was ist geschehen, Meister, können Sie nicht öffnen?«, rief er, angestrengt lauschend, denn die Stimme des Detektivs schien aus weiter Ferne zu dringen und war darum nur schwer verständlich.

»Nein, ich bin gefesselt, und unter meinem Stuhl ist eine Dynamitbombe befestigt, die jeden Augenblick explodieren kann!«, machte sich Nick Carter keuchend verständlich. »Die Kerze ist fast ganz herunter gebrannt … Die Tür ist mit elektrischen Drähten verbunden … Sobald sie geöffnet oder auch nur ein Schlüssel ins Schlüsselloch geschoben wird, entzündet die elektrische Batterie den Verschluss der Bombe …«

»Einen Augenblick, Meister … Ich komme Ihnen zu Hilfe!«, gab der junge Mann geistesgegenwärtig zurück.

Er wendete sich an den schreckerstarrten Hausmeister und die an allen Gliedern zitternde Zofe. »Liegen die Wohnungsfenster nur nach der Straße … oder kann man auch vom Hof aus in die Wohnung?«

»Da ist nur das Küchenfenster«, stammelte der Hausmeister. »Aber es liegt hoch … und wir haben keine Leiter im Haus.«

»Unsinn, Mann … fort zu dem Hof!«, schrie Patsy.

Mit Riesensätzen sprang er den anderen voran die Treppe hinunter. Die Minute darauf standen sie im engen Hofraum und starrten zu der hinteren Hausseite empor, die so glatt und nüchtern war wie alle rückwärtigen Häuserfronten in New York, denn sind deren Straßenseiten schon einförmig genug, so wird an den Hinterseiten der Häuser sogar der Anstrich gespart, und diese bleiben, wie des Maurers Hand sie verlassen, roh und unvollendet.

Dem blitzschnell von Patsy gefassten Vorhaben war dieser Umstand indessen günstig. Mit Entsetzen nahmen die neben ihm Stehenden wahr, wie der Tollkühne an der rauen Mauer in die Höhe stieg, indem er mit den Fingern zwischen die Lücken der nur oberflächlich durch Mörtel verbundenen Mauersteine griff und, sich daran festhaltend, den geschmeidigen Körper so weit hochzog, bis die Füße in ebensolchen Ritzen notdürftigen Halt gefunden hatten. Sofort tasteten die Hände nach einem höher liegenden Haltepunkt, und auf diese Weise gelang es dem wie eine Schwalbe an der Mauerwand Klebenden, bis zur Höhe des zweiten Stockwerkes emporzuklimmen und dort am Fenstersims sich festzuhalten. Eine Sekunde lang sah man ihn am Fenster herumhantieren, dann zerschlug er schnell entschlossen die untere Fensterscheibe, was dem Hausmeister keinen gelinden Schrecken einjagte.

Die Sekunde darauf war Patsy den Blicken der ihm verblüfft Nachstarrenden entschwunden, denn mit der Geschmeidigkeit einer Katze hatte er sich durch die zerschmetterte Fensterscheibe in das Wohnungsinnere geschwungen.

 

*

 

Inzwischen hatte Nick Carter Höllenmartern durchlitten.

Festgebunden an den Stuhl, dass ihm das Blut in den Adern stockte und die Glieder gefühllos wurden, bis er völlig die Herrschaft über sie verlor, vermochte Nick Carter nichts anderes zu tun, als sich ins Unabänderliche zu finden. Zuerst freilich hatte er gehofft, dass es seinen Hilferufen gelingen würde, irgendjemanden zum Beistand herbeizurufen. Doch das Haus war solide gebaut; der Raum, in welchem er sich befand, lag mitten in der Wohnung, und das Treppenhaus wurde kaum jemals benutzt, da alle Ein- und Auspassierenden sich des unaufhörlich auf- und niedergleitenden Lifts bedienten. Das in dem schmalen Luftschacht verursachte Geräusch war laut genug, um jeglichen Hilferuf zu ersticken. Zudem war das Haus von Lärm aller Art erfüllt; in einem Stockwerk hörte man Singen, von einem anderen klang Klavierspiel … Und selbst wenn jemand seine Hilfeschreie vernommen hätte, wäre er schwerlich auf die Vermutung gekommen, dass es sich um solche handelte.

So kam es, dass Nick Carter sich nutzlos heiser schrie, ohne mit seinem Rufen irgendwelchen Erfolg zu erzielen. Schließlich versagte ihm die Stimme und versank in einen halbapathischen Zustand, der ihn stumpf und gleichgültig machte. Das hielt eine Weile an; dann versuchte er, plötzlich zur vollen Erkenntnis seiner schrecklichen Lage kommend, gegen die ihn so grausam haltenden Fesseln anzukämpfen; doch ein heftiges Hin- und Herflackern der brennenden Kerze ließ ihn rasch davon Abstand nehmen. Er begriff, dass bei seinen gewaltigen Anstrengungen der Leuchter umfallen und die Bombe frühzeitig zum Explodieren bringen mochte.

So wagte Nick Carter sich gar nicht mehr zu rühren, sondern saß bewegungslos und dachte – und dachte, bis ihm das Gehirn weh tat und von Neuem völlige Apathie ihn überkam.

Plötzlich hörte Nick Carter anhaltendes Klingeln an der Korridortür. Nun erwachte in ihm wieder die Lust zu leben. Mit Aufbietung aller seiner Willenskraft gelang es ihm, wieder Herr über seine Sinne zu werden und diese zu scharfem, logischem Denken zu zwingen. Es gelang ihm, in den denkbar kürzesten Worten seinem jungen Gehilfen auseinanderzusetzen, in welcher Lage er sich befand und welche schreckliche Gefahr ihm drohte.

»Geduld, Meister, ich komme Ihnen sofort zu Hilfe!«

Gewiss, auf Patsy war Verlass, dieser würde sich schon Eingang in die Wohnung erzwingen … Doch vermochte er dies auch noch rechtzeitig zu tun?

Diese fürchterliche Ungewissheit – wollte sie denn kein Ende nehmen? Ah, zehnmal besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Dieser Teufel von Carruthers! O, er hatte sich meisterhaft gerächt … Er war ein feiner Menschenkenner und wusste es, dass die Seele tausendmal schlimmer durch Schmerzen gefoltert werden kann als der Körper.

Schon vermeinte Nick, den sengenden Geruch des brennenden Schwefelfadens, der in das Innere der Bombe leitete, zu spüren. Die Zündschnur hatte Feuer gefangen – noch eine Sekunde – vielleicht auch nur noch den Bruchteil einer solchen, und alles war zu Ende!

Mit schwindenden Sinnen meinte der Detektiv, eine dunkle Gestalt auftauchen zu sehen, und dann wusste er nichts mehr von sich.

 

*

 

Als Nick Carter die Augen wieder aufschlug, blickte er wie im Traum um sich. Er sah sich auf einem Ruhebett liegen, und sein getreuer Patsy war im Verein mit Ten Itchi eifrig dabei, ihm die Stirn mit stärkenden Essenzen zu reiben.

»Wo bin ich?«, sprach der Detektiv wie geistesabwesend.

»Gerettet, Meister … Gott sei Dank!«, stammelte Patsy, dem die hellen Freudentränen in den Augen schimmerten. »Es war aber auch die allerhöchste Zeit … Noch eine weitere Sekunde hätte genügt, und wir wären alle beide in die Luft geflogen, Meister!«

Noch in diesem Moment lag Nick Carter bewegungslos, als ob er den ganzen Vorfall nicht begreifen könnte. Dann aber war er auch schon wieder der Alte.

»Wo ist Chick?«, fragte er, die Hand an der Stirn. »Hat ihn dieser Carruthers tatsächlich täuschen können?«

»Chick ist hier«, gab jener zur Antwort, der gerade in diesem Moment zur Tür hereinkam, »und ich habe mich von dem verd… Gauner anführen lassen wie eine heiratslustige alte Jungfer von einem Heiratsvermittler.«

»Mir ist es nicht viel besser gegangen«, erklärte der Detektiv. »Wir sind eben nur Menschen und als solche Irrtümern aller Art unterworfen … Und von einem solch genialen Verbrecherpaar wie Inez Navarro und Morris Carruthers besiegt zu werden ist übrigens keine Schande … Die Hauptsache bleibt nur, dass der endgültige Sieg uns gehört.«

Er stand wieder mit der Hand an der Stirn und blickte in tiefes Schweigen verloren vor sich nieder.

Mit unterdrückter Stimme tauschten die drei Gehilfen miteinander ihre Erfahrungen aus; die Bombe wurde gebührend bewundert. Zur Vorsorge hatte Patsy sie in eine mit Wasser gefüllte Schüssel gelegt und dadurch unschädlich gemacht.

»Wenn ich nur wüsste, wo diese Inez und Morris Carruthers sich versteckt haben mögen!«, meinte Chick dann seufzend. »Aus New York kommen sie schwerlich hinaus, denn es wurde von der 27. Polizeistation aus sofort Generalalarm erlassen.«

»Wo verließen die beiden den Wagen, hast du dies feststellen können, Chick?«, erkundigte sich der Detektiv, der aufmerksam geworden war.

»Das kann ich dir leider nicht sagen, denn ich bin durch ein mit Chloroform getränktes Tuch betäubt worden. Sie haben sich sofort danach entfernt und befahlen dem Kutscher, mich zur Ecke der 6th Avenue und 23th Street zu fahren. Das tat er, und als ich nicht ausstieg, kletterte er vom Bock, um nachzusehen, was mit mir los sei. Wie er die Tür aufriss und die frische Nachtluft in den Wagen drang, kam ich etwas zu mir.«

»Und da ließest du dich nach der nächsten Polizeistation fahren, was ganz vernünftig war«, fiel der Detektiv ein. »Übrigens war diese Inez in großer Toilette, als ob sie eine glänzende Gesellschaft oder dergleichen zu besuchen gedächte … Auch Carruthers befand sich im Gesellschaftsanzug. Er zog darüber meinen Paletot … Hallo!«, unterbrach er sich, mit der flachen Hand vor die Stirn schlagend. »Inez Navarro sprach etwas von einer Loge Nr. 17 sowie gelben Rosen als Erkennungszeichen …«

»Da kann ich vielleicht Auskunft erteilen«, fiel das Stubenmädchen, das neugierig dem Gespräch gelauscht hatte, sofort ein.

»Sie wissen, wo ihre Talmigräfin sich aufhält?«, fragte der Detektiv in atemloser Spannung.

Das Mädchen nickte.

»Goldthwart musste gestern Billetts für das Metropolitan Opernhaus besorgen. Frau Gräfin tat sehr heimlich, und sie sprach mit Goldthwart spanisch … Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, dass ich selbst etwas Spanisch verstehe.«

»Und diese Billetts?«, fragte der Detektiv erwartungsvoll weiter, während auch seine Gehilfen voll innerer Spannung das Mädchen anschauten.

»Well, sie sind für heute Abend, und die Loge Nr. 17 ist es, im zweiten Rang … Sie hat 100 Dollar gekostet, und darüber zankte die Frau Gräfin …«

Nick Carter blickte auf die Uhr.

»Well, es ist elf Uhr nachts – vielleicht komme ich noch rechtzeitig zum Opernschluss.«

»Wenn Inez Navarro noch dort ist«, bemerkte Chick achselzuckend. »Ich kenne die Logen im zweiten Rang … Sie haben jede eine Art Empfangszimmer, das durch Seidengardinen gegen die eigentliche Loge abgeschlossen werden kann … Unsere ›Upper Ten‹ (oberen Zehntausend) pflegen bei großen Opern in derartigen Räumen sogar zu Nacht zu speisen … Da meine ich, diese Inez hat die Loge nur genommen, um mit gewissen Personen zu verhandeln. Schwerlich ist sie in das Metropolitan Opernhaus gegangen, um Musik oder Gesang zu hören.«

»Well, das werden wir sehen«, entschied Nick Carter. »Jetzt heißt es sich beeilen … Ten Itchi, du bleibst mit einigen Detektiven von der Zentrale hier in der Wohnung zurück und erwartest weitere Order. Ich selbst gehe mit Chick und Patsy zum Opernhaus. Hole einen Wagen, Patsy.«

»Nicht nötig«, schaltete Chick sich ein. »Der Cabby, der mich hergebracht hat, wartet noch unten vor dem Haus.«

»Umso besser … dann haben wir weiter keinen Aufenthalt mehr und erreichen das Theater vielleicht noch vor dem Vorstellungsschluss.«

Damit eilte der Detektiv, gefolgt von seinen Gefährten, auch schon so elastisch, als ob er nicht noch vor Kurzem dem gewissen Tod ins Auge gesehen hätte, aus der Wohnung. Der Gedanke, auf der Spur des Verbrecherpaares zu sein und womöglich mit ihm endgültige Abrechnung halten zu können, erfüllte ihn mit all seiner gewohnten Kraft, und Nick Carter war, allen ausgestandenen schrecklichen Erlebnissen zum Trotz, ganz wieder er selbst und bereit, es von Neuem mit jenem Morris Carruthers aufzunehmen.

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