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Gespensternovellen 5

Vilhelm Bergsøe
Gespensternovellen
Aus dem Dänischen übersetzt von Adolf Strothmann
Autorisierte Ausgabe, Verlag Otto Janke, Berlin 1873
Der geraubte Arm – Teil 3

Es war ein seltsamer Übergang. Ich stand halb betäubt da und stierte das in Empfang genommene Markstück an, dass ich endlich mechanisch in die Westentasche steckte. Meine Gedanken waren noch in zu starker Bewegung, mein Gemüt zu aufgeregt, als dass ich hätte schlafen können. Ich schob die Lampe so hoch wie möglich empor und ergriff mein anatomisches Kollegienheft nebst Loders Tafeln, um mich durch Lektüre zu beruhigen; aber das wollte mir nicht gelingen, dazu war die Unruhe meines Gemütes zu groß. Plötzlich hörte ich einen Ton wie von einem schwingenden Perpendikel.

Ich erhob das Haupt und horchte gespannt, denn weder in meinem Zimmer noch in dem Nebenzimmer befand sich eine Uhr, aber der Ton dauerte fort. Im selben Augenblick begann meine Lampe zu flackern, es fehlte ihr offenbar an Öl. Gerade als ich mich erheben wollte, um sie wieder zu füllen, fiel mein Blick auf den Türpfosten gerade gegenüber, und ganz leise, aber rhythmisch und taktmäßig, sah ich den Kirchhofschlüssel, welchen ich dorthin gehängt hatte, sich in abgemessenen Schwingungen hin und her bewegen. Zuweilen wollten diese fast aufhören, aber dann erhielt der Schlüssel einen Schlag wie von einer unsichtbaren Hand. Die Schwingungen wurden so stark, dass sie ihn fast im Kreis herumzudrehen schienen.

Ich blieb einen Augenblick mit offenem Mund und weit ausgerissenen Augen stehen, aber der Schlüssel fuhr fort, sich so mechanisch wie das Pendel einer Uhr zu schwingen. Ein eiskalter Schauer überlief meinen Rücken und der Angstschweiß perlte von meiner Stirn. Endlich vermochte ich es nicht länger auszuhalten. Ich schoss zur Tür, ergriff den Schlüssel mit beiden Händen, legte ihn auf meinen Schreibtisch und bedeckte ihn mit Loders Tafeln und ein Paar anderen Folianten. Erst dann schöpfte ich wieder Atem.

Die Lampe war im Begriff zu erlöschen, und ich hatte kein Öl mehr. Dann und wann blakte die Flamme hoch empor und warf einen unsicheren Flackerschein über mein Gemach. Die Schatten wurden bald lang, bald kurz. Es war, als ob sie lebten und in schwankenden Gestalten durch das Zimmer huschten. Mit fiebernder Hast entkleidete ich mich, löschte die Lampe aus und sprang ins Bett, um meine Visionen zu ersticken.

Aber hier schienen sie erst recht ins Leben zu erwachen. Bald war es mir, als stünde ich auf dem Kirchhof und hörte die Wetterfahne der Kirche durch die Luft knarren. Dann befand ich mich in der Mühle. Ich sah ihre vielen Trieb- und Kammräder sich durcheinander drehen und hatte Mühe, ihnen auszuweichen. Dann kam ich in einen endlos langen, niedrigen und stockfinsteren Gang, wo mich etwas Unbestimmtes verfolgte. In wildestem Entsetzen rannte ich vorwärts, bis ich in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen schien, während eine riesige Last auf mir drückte. Dann fuhr ich aus dem Halbschlummer empor, horchte und spähte umher und versank wieder in einen unruhigen Schlaf.

Plötzlich hörte ich etwas von oben auf meine Decke herabfallen. Surr, surr, schnurr, erklang es über meinem Kopf. Es war eine große Brummfliege, welche in meiner Stube ihr Winterquartier aufgeschlagen und welche die starke Ofenwärme erweckt hatte, sodass sie nun in großen Kreisen durch mein Zimmer flog. Bald war sie dicht vor meinem Ohr, bald hörte ich sie in einiger Entfernung, dann kam sie wieder zurück, surrte über mein Gesicht, schnurrte unter der Zimmerdecke hin, stieß an den Kachelofen, fiel auf die Diele, wo sie im Staub herumschwirrte, flog dann wieder dicht über mir hin, surr, surr, schnurr — es war nicht mehr auszuhalten. Endlich hörte ich sie in eine Tüte mit Puderzucker kriechen, welche Hans auf der Fensterschwelle hatte liegen lassen. Ich sprang auf, machte die Tüte zu, aber sie schnurrte drinnen fast ärger als zuvor.

Wieder ging ich zu Bett und versuchte zu schlafen, aber es wollte nicht recht gelingen. Ich begann zu zählen, erst bis Hundert, dann bis Tausend, und endlich empfand ich jenes Gefühl der Ermattung, welches dem eigentlichen Schlaf vorher zu gehen pflegt. Ich befand mich in einem schönen Garten. Der Goldregen schimmerte, die Springen dufteten, und die zarten rosenroten Blätter der Apfelblüten flatterten wie Schmetterlinge durch die Luft, wenn der laue Frühlingswind sie herabwehte. Neben mir ging ein schönes, junges Mädchen. Ich kannte sie gut, und doch war es mir unmöglich, mich auf ihren Namen oder auch nur darauf zu besinnen, wie wir dazu gekommen waren, miteinander umherzuwandern. Dann und wann blieb sie stehen, um eine früh aufgeblühte Blume oder ein buntes Käferchen auf einem Blatt zu bewundern. So schritten wir vertrauensvoll weiter auf den kiesbedeckten Pfaden, wo die Johannis- und Stachelbeeren blühten, und wo ich deutlich das Summen der Bienen vernehmen konnte, während sie um die Blumenkelche gaukelten. Plötzlich fuhr ein kalter Zugwind durch den Garten, das junge Mädchen erbebte, und ihre Wangen erblichen.

»Friert dich nicht?,« sagte sie zu mir. »Mich friert! Merkst du nicht, dass Nacht und Tod herannahen?«

Ich wollte antworten, aber im selben Augenblick fuhr ein neuer, stärkeren eisiger Windhauch durch den Garten. Die Blätter verweilten auf den Bäumen, die Blumen senkten ihre Häupter und die Bienen fielen von den Johannisbeerblüten tot zur Erde.

»Er kommt!«, flüsterte sie schaudernd. Ich wollte sie an meine Brust drücken, aber es war, als verblasste und verschwände ihre Gestalt und stünde undeutlich in der Luft. Da sauste ein dritter, noch heftigerer Sturm durch den Garten. Das Laub flog gelb und dürr in großen Haufen an der Erde hin und wurde dann wild in die Luft empor gewirbelt. Die blühenden Sträucher wurden in einem Nu schwarz und kahl, Kreuze und Grabdenkmäler traten unter den entblätterten Bäumen hervor. Ich stand wieder auf dem Kirchhof und die rostige Wetterfahne knarrte schrill durch die Luft. Neben mir stand ein starker, messingbeschlagener Sarg von Eichenholz mit einer Metallplatte auf dem Deckel.

Ich beugte mich hinab, um die Inschrift zu lesen. Da flog plötzlich der Deckel schwer zurück, und aus dem Sarg erhob sich das junge Mädchen, das ich gesehen hatte. Ich wollte ihr zu Hilfe eilen und sie in meine Arme schließen, da … o Grausen … sah ich an den gläsernen Augen, dass es jenes gefallene Weib sei, das ich bei dem Lichtstumpf im Fenster hatte nicken sehen. Wild umschlang sie mich und zog mich in den Sarg hinab. Der Atem verging mir, ich schrie laut um Hilfe, und … erwachte dadurch.

Mein Zimmer kam mir ungewöhnlich hell vor, aber ich entsann mich, dass wir Mondschein hätten, und dachte nicht weiter daran. Übrigens schienen manche Begebenheiten meines Traumes ihre natürliche Erklärung durch die Umgebungen zu finden, in welchen ich geschlafen hatte. Die Fliege surrte noch in der Tüte wie ein ganzer Bienenschwarm. Eines der oberen Fenster war aufgesprungen und die Nachtluft drang durch dasselbe in mein Zimmer. Ich stand auf, um es zu schließen, und bemerkte erst jetzt, dass das starke, helle Licht, welches mein Gemach erfüllte, nicht vom Mond kam, sondern gleichsam von der Kirche gegenüber ausstrahlte.

Im selben Augenblick begannen die Glocken zu läuten, erst gedämpft und wie in weiter Ferne, dann stärker und stärker, bis sie endlich, mit dem Brausen der Orgel vermischt, wie ein gewaltiger Strom von Tönen an mein Fenster schlugen. Ich starrte hinaus und wollte meinen eigenen Augen kaum glauben. Die Häuser in Lademärket waren lauter kleine, einstöckige Gebäude mit Erkern und hölzernen Dachrinnen, die in geschnitzte Drachenköpfe ausliefen. Die meisten hatten Söller oder Altane mit geschnitztem Gitterwerk und den Eingang bildeten hohe Steintreppen mit Messinggeländern, deren blank polierte Knäufe im Lichtglanz blinkten.

Aber was mich am meisten Wunder nahm, war die Kirche. Diese lag nicht, wie sonst; der runde Turm war gegen Kjöbmagergaden und die Fassade der Kirche mit den Strebepfeilern und spitzbogigen Fenstern gegen die Regenz gekehrt. Die Kirche war glänzend erhellt, und nun erst wurde es mir ganz klar, dass der starke Lichtschimmer, welcher mein Zimmer erfüllte, von drüben herkam. Sprachlos blieb ich stehen. Der Glockenklang und das Brausen der Orgel durchbebten die Luft, und auf dem Mittelgang der Kirche sah ich einen großen Hochzeitzug sich langsam zum Altar bewegen.

Allmählich vermochte ich die einzelnen Gestalten zu unterscheiden. Alle trugen die alten Trachten der Holbergschen Zeit: Die Damen Brokat- und Atlasgewänder, mit Perlenschnüren im hoch aufgetürmten, stark gepuderten Haare; die Herren meist Uniformen mit Kniehosen und Degen, den Chapeaubas unter dem Arm. Vor allem jedoch zog die Braut meine Aufmerksamkeit an. Sie war in weißen Atlas gekleidet und auf den gepuderten Locken, die halb von dem herabwallenden Schleier verdeckt wurden, lag ein welker Myrtenkranz. Ihr zur Seite schritt der Bräutigam in roter Uniform und mit einem Stern auf der Brust. Sie näherten sich dem Altar, wo ein Geistlicher im schwarzen Ornat und mit weißer Allongeperücke sie erwartete. Sie traten vor ihn hin, und ich konnte deutlich wahrnehmen, dass er ein Ritual oder eine Formel aus der Agende verlas, die er in der Hand hielt, und deren Goldschnitt im Licht funkelte.

Einer von dem Gefolge schritt heran und schnallte den Degen des Bräutigams los, welcher darauf seine rechte Hand der Braut entgegenstreckte.

Sie wollte ihm die ihre geben, aber im selben Augenblick stürzte sie ohnmächtig nieder. Das ganze Gefolge drängte sich um die Braut, welche bewusstlos vor den Altarstufen lag. Da erloschen plötzlich die Lichter, der Orgelklang verstummte und die Gestalten zerflossen wie bleiche Nebelmassen.

Draußen auf dem Platz jedoch nahm die Helligkeit zu. Das Glockengeläut dauerte fort und plötzlich öffneten sich weit die Flügel der Kirchentür, und derselbe Hochzeitszug bewegte sich über den Platz. Ich wollte entfliehen, aber es war mir nicht möglich, eine Muskel zu regen.

Starr und festgebannt musste ich auf die geisterhaften Gestalten hinabstieren, die näher und näher zu mir heranrückten. Zuerst kam der Prediger, dann der Bräutigam mit der Braut. Als Letztere ihre Augen erhob und den Blick auf mich heftete, erkannte ich, dass es das junge Mädchen aus dem Garten war. Es lag etwas so Schmerzliches, so Wehmütiges und so Flehendes in diesem Blick, dass ich ihn kaum zu ertragen vermochte; aber nimmer vermag ich das erschütternde Gefühl zu schildern, das mich durchzuckte, als ich plötzlich wahrnahm, dass der rechte Ärmel ihres weißen Atlasgewandes leer und schlaff herunter hing.

Ein eisiges Grausen ergriff mich. Ich fühlte, dass die Schar eine bestimmte Mission hatte; ich wusste, sie werden herankommen und Rechenschaft von mir fordern, obwohl die klafterdicken Mauern der Regenz zwischen ihr und mir lagen.

Schaudernd blieb ich stehen, bis das letzte Paar vom Platz verschwunden war. Da hörte ich die Glocke der Regenz erschallen, nicht wie sonst mit lustigem, vergnügtem Ton, sondern mit einem seltsam heiseren, trockenen, geborstenen Klang. Gleich darauf knarrte das Tor in seinen Angeln. Ich wandte mich gegen die Tür, ich wusste, dass sie verschlossen sei, und doch wusste ich, dass mir das nichts nützen würde, dass sie hereinkommen würden, selbst wenn eine eiserne Mauer zwischen ihnen und mir läge. Seltsam knisterte und rauschte es durch die Luft, bald wie Seide und Atlas, die an den Treppen- und Türpfosten anstießen, bald wie das dürre, raschelnde Rohr, wenn der Wintersturm durch dasselbe hinseufzt.

Näher und näher kamen die schrecklichen Gestalten; die Tür ging nicht auf, aber es war, als würde sie in einem gläsernen Nebel verwandelt, aus welchem die bleichen Gestalten hervorquollen. Mehr, immer mehr drängten sich herein, enger, immer beengter wurde der Raum in meinem Zimmer, aber da war es, als böten die Mauern den drohenden Geistern kein Hindernis, als gäbe es für sie nichts Festes, nichts Undurchdringliches. Dichter und dichter scharten sie sich um mich her mit finsteren, dräuenden Mienen. Kleiner und kleiner wurde der Zwischenraum zwischen ihnen und mir; mehr und mehr wurde ich in meine Ecke gedrängt, bis sie fast wie eine Bürde auf meiner Brust lasteten und mich schier erdrückten. Endlich schienen keine mehr im Gemach Platz zu finden. Die Atlas- und Seidengewänder knisterten und raschelten nicht länger um mich her. Eine Totenstille entstand und ich sah den Geistlichen mit der Agende in der Hand auf mich zuschreiten.

»Was willst du?«, hörte ich es in mir sprechen. Ich fühlte, dass meine Lippen sich bewegten, aber es war mir nicht möglich, einen Laut mit denselben hervorzubringen. Der Geistliche musste jedoch meine Gedanken erraten können, denn er erhob die Hand und sagte mit einer seltsam tiefen und doch klangloser Stimme: »Das Grab ist heilig und unverletzlich; den Frieden der Toten darf niemand stören.«

»Heilig und unverletzlich!«, erklang es durch die Schar, als ob ein undeutliches Echo sich zwischen den Baumstämmen verliert.

Mich schauderte in tiefster Seele, ich empfand einen unwiderstehlichen Drang, eine brennende Luft, auf die Knie zu sinken und um Gnade und Vergebung zu flehen; aber es war, als säße ein betörender Dämon auf meiner Zunge, der mich zu antworten zwang: »So ist es schlimm um den Totengräber bestellt. Er legt jeden Tag neue Leichen zu den alten und lebt darum nicht minder froh.«

»Er tut nur seine Pflicht«, antwortete der Geistliche, »und keiner wird ihn darob schelten; aber wer in übermütiger Laune den Frieden des Grabes stört, der wird der Strafe nicht entgehen.«

»Er wird der Strafe nicht entgehen«, erscholl es abermals aus der Schar mit Stimmen, als ob der sausende Herbstwind das gelbe Laub über die Erde jagt.

»Was wollt Ihr? Was verlangt Ihr?«, schrie ich in der höchsten Verzweiflung der Todesangst.

»Gib der Gruft zurück, was der Gruft gehört!«, erklang wieder dieselbe tiefe Stimme.

»Gib der Gruft zurück, was der Gruft gehört!«, wiederholte die Schar, welche sich abermals drohend um mich drängte.

»Das ist unmöglich! Das kann ich nicht, ich habe ihn verkauft, ich habe ihn auf einer Auktion versteigert«, schrie ich verzweiflungsvoll. »Er war begraben und in der Erde gefunden; fünf Mark acht Schillinge! Ein Reichstaler! Bietet niemand mehr? Der Arm gehört Sölling!«

Ein Schrei, ein gellender Rache- und Verzweiflungsschrei ging durch die Schar. Wie feuchte Nebel drangen die Gestalten heran und drückten mit einer Gewalt auf mich ein, als wollten sie mich ersticken. Es funkelte und blitzte mir vor den Augen und ich hörte ein schweres, dumpfes Gepolter, während ich mit diesen Schatten rang, die keinen materiellen Haltepunkt darboten. Ganz außer mir stieß ich das Fenster auf. Indem ich eine Anstrengung machte, auf die Straße hinauszuspringen, schrie ich in der höchsten Angst der Verzweiflung: »Hilfe! Mörder! Man ermordet mich!«

Der Widerhall meiner eigenen Stimme, der noch durch mein Zimmer klang, erweckte mich. Ich saß in bloßem Hemd auf der Fensterbank, das eine Bein halb aus dem Fenster gestreckt und mit beiden Händen krampfhaft den Fensterpfosten umklammernd. Unten auf der Straße stand der Nachtwächter in Holzschuhen, mit Morgenstern und Kapuzenmantel und stierte mich verwundert an, während die leichten Nebelwollen, die furchtbaren Visionen der Nacht, wie ein weißlicher Rauch durch das Fenster hinauszogen.

Draußen brach der Novembertag an, grau und feucht. Als die frische Morgenluft meine Wangen kühlte, kehrte auch die Besinnung zurück. Ich erblickte den Wächter – Gott segne ihn! Das war doch ein wirklicher, handgreiflicher Wächter und keines der täuschenden Spukbilder der Nacht. Ich blickte auf den runden Turm. Wie massiv, ehrwürdig und unverrückbar sah er aus, als er dort grau in der grauen Morgendämmerung stand! Ich blickte nach Landemärket hinüber. Es war Licht in dem Bäckerladen und ein Torfbauer stand draußen und band seinen Pferden die Futtersäcke unters Maul. Ich schielte halb ängstlich in mein Zimmer, allein alles war in gewohnter Ordnung. Mein hochlehniger Armsessel, mein blinder Rasierspiegel, mein gichtbrüchiges altes Sofa, alles stand auf seinem Platz, ja selbst die Tüte mit dem Puderzucker lag noch im Fenster und die Fliege surrte darin.

Ich fühlte, dass ich wach sei, und dass der Tag graue. Rasch sprang ich von der Fensterbank herab und wollte mich wieder ins Bett legen, als mein Fuß an etwas Hartes und Scharfes stieß. Ich bückte mich, um es aufzuheben, tastete im Halbdunkel auf der Diele umher und erfasste einen langen, dürren, halb vermoderten Arm, dessen steife Finger ein zusammengerolltes Blatt Papier umkrampften. Ich tastete weiter und erfasste einen zweiten, der ebenfalls ein zusammengerolltes Papier zwischen den Fingern hielt.

Nun begann ich an meinem Verstand zu zweifeln. Ich wusste, dass, was ich gesehen hatte, eine Folge meiner erhitzten Fantasie, ein Traum sei, der gegen sein Ende hin den Charakter einer Sinnestäuschung angenommen habe. Ich wusste, dass ich wach, dass das Ganze eine Halluzination sei, und doch lagen hier feste, unwiderlegliche Beweise des Gegenteils vor. Ich glaubte wirklich, ich sei im Begriff, wahnsinnig zu werden. Mit fiebernder Haft öffnete ich die Papierrolle. Dort stand nur das Wort Sölling.

Ich ergriff das zweite Papier und rollte es auf; dort stand: Nansen.

Noch hatte ich die Kraft, ein drittes zu ergreifen und zu öffnen; dort stand: Siemsen; aber im selben Augenblick stürzte ich besinnungslos zur Erde.

Als ich wieder zu mir kam, stand Niels Daae neben mir mit einem geleerten Waschguss, dessen Inhalt noch vom Sofa herabtroff, auf das er mich gelegt hatte.

»Hier, trinke das«, sagte er mit schmeichelndem Ton, »dann kommst du schon wieder auf die Beine. Es ist ein vortrefflicher Cognac; ich nahm selber erst einen Schluck davon.«

Verstört blickte ich mich um und nippte an dem Glas, dessen kräftiger Inhalt schnell meine Lebensgeister ermunterte.

»Was ist geschehen?«, fragte ich mit matter Stimme.

»Ach, eigentlich nichts von Bedeutung«, erwiderte Niels Daae. »Du bist nur im Begriff gewesen, dir selbst durch eine kleine Kohlenstoffvergiftung das Leben zu nehmen. Es sind auch verwünscht schlechte Klappen, die hier an den alten Kachelöfen auf der Regenz sitzen. Der Sturm heute Nacht muss sie zugeschlagen haben, wenn du nicht selbst so genial gewesen bist, sie zu schließen, ehe du zu Bett gingst. Wäre ich eine Stunde später gekommen, kleiner Siemsen, so wärest du so weit auf der Reise zu Sankt Peter mit den Goldschlüsseln gewesen, dass ein alter Cognac dich nicht mehr hätte zurückrufen können. Nimm noch einen kleinen Schluck!«

»Wie bist du heraufgekommen?«, fragte ich, mich aufrichtend.

»Auf die einfachste und natürlichste Weise von der Welt«, antwortete Niels Daae. »Ich hatte diese Nacht die Wache im Hospital; aber weil ich ziemlich viel Punsch bei Lars Mathiesen getrunken hatte, schlief ich mehr, als ich wachte, und fand es daher passend, mich gegen die Morgenstunde fortzuschleichen. Als ich nach Krustalgaden heim ging, kam ich an der Regenz vorbei und sah dich hier rittlings in bloßem Hemd auf der Fensterbank sitzen und den Nachtwächter durch das Geschrei Feuer, Mordio! oder dergleichen alarmieren. Es gelang mir endlich, Jensen dort unten aufzuklopfen, und durch sein Fenster kam ich in die Regenz. Es ist auch eine sonderbare Manier, sich in bloßem Hemd mitten auf die Diele zu legen!«

»Wo kommen die Arme her?«, fragte ich, noch halb verstört.

»Ach, der Teufel hole die Arme!«, rief Niels Daae, »sieh nur zu, dass du wieder auf die Beine kommst! Die Arme da? Das sind keine anderen als die, welche ich selbst abgeschnitten habe. Es war ein ausgezeichnet schlauer Einfall. Du weißt ja, wie brummig Sölling wird, wenn er einmal eine Repetierstunde aussetzen soll. Nun hatte ich die Gänse zugeschickt erhalten und wollte Euch gerne zu Lars Mathiesen mithaben. Ich wusste, Ihr solltet die Osteologie der Arme vornehmen, deshalb ging ich zu Sölling, machte die Tür mit seinem eigenen Schlüssel auf und stahl die Arme von seinen Skeletten. Dasselbe tat ich hier auf der Regenz, und deinen mauste ich, während du unten im Lesezimmer warst. Bist du so genial gewesen, sie vom Gestell herabzureißen und die Etiketten abzunehmen? Ich hatte sie so schön mit Papierstreifen bezeichnet, damit jeder sein Eigentum wieder erhalten könne.«

Ohne ein Wort zu reden, kleidete ich mich an und ging bald mit Daae unter dem Arm, in die frische, kühle Morgenluft hinaus.

In Krystalgaden trennten wir uns und ich wanderte unverweilt zum Westerwall, wo Sölling wohnte. Ohne der Einwendungen seiner alten Wirtin zu achten, ging ich in das Zimmer, wo Sölling den Schlaf der Gerechten schlief. Dort nahm ich den Arm, der noch, in Papier gewickelt, auf seinem Schreibtisch lag, legte das Markstück an seine Stelle und eilte so rasch wie möglich auf den Kirchhof zurück.

Wie seltsam war alles verändert, als ich wieder dieses Revier betrat! Der Morgennebel hatte sich gelichtet und hing wie glänzende Reifperlen in den Zweigen der Bäume, wo die Sperlinge zwitscherten. Keiner der Arbeiter war noch auf dem Kirchhof. Ich schritt zu der großen Hänge-Esche hinüber und stand wieder vor dem schweren Sarg von Eichenholz. Behutsam ließ ich den geraubten Arm in denselben hinabgleiten und klopfte mit sorglicher Hand die rostigen Nägel fest, gerade als die ersten Strahlen der blassen Novembersonne über den Kirchhof spielten.

Erst da wurde es mir wieder leicht ums Herz.

 

***

 

Doktor Siemsen schwieg und schaute fragenden Blickes im Kreis umher. Draußen erklang das Schellengeläute des kleinen isabellfarbenen norwegischen Kleppers, der ungeduldig den Kopf schüttelte. Bald darauf saß der joviale Doktor wieder auf seinem hochlehnigen Sessel mit Fußsack und Kutschverdeck.

Aber im Pfarrhaus schlief man nicht allzu viel in dieser Nacht, selbst der Vetter Jakob war erschüttert.

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