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Der Detektiv – Schattenbilder – Teil 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Schattenbilder
Teil 3

Harst las Bechert und mir das getippte Schreiben vor.

Harald Harst!

Ihre Mutter befindet sich in meiner Gewalt! Sie werden dies fraglos bereits vermuten. Wenn Sie nicht folgende Bedingungen erfüllen, sehen Sie Ihre Mutter nicht wieder.

1. Sie zahlen an mich eine Million Mark in Banknoten.

2. Sie verpflichten sich ehrenwörtlich, mir nicht weiter nachzustellen. Dasselbe muss Ihr Privatsekretär Max Schraut tun.

3. Sie verpflichten sich ebenfalls ehrenwörtlich, ein ganzes Jahr Ihren für Leute meines Schlages so unangenehmen Sport als Liebhaberdetektiv aufzugeben.

Näheres über die Art, wie Sie mir die Million zustellen, sollen, erfahren Sie, sobald ich Ihre Entscheidung kenne. Auf Unterhandlungen lasse ich mich nicht ein. Antworten Sie mir dadurch, dass Sie an das rechte Fenster Ihres Arbeitszimmers vor die rechte untere Scheibe einen grünen Zweig deutlich sichtbar aufhängen. Dann weiß ich, dass Sie mit allem einverstanden sind.

Erscheint der Zweig bis Mittag 12 Uhr nicht, so sende ich Ihnen etwas zu, das Sie überzeugen wird, wie wenig ich leere Drohungen ausspreche.

James Palperlon

»Unerhört!«, rief Bechert erregt. »Ich wünschte ich hätte diesen Schurken …«

Harst, ja, Harst lächelte ganz schwach und unterbrach den Kommissar.

»Lieber Bechert, vielleicht steht die ganze Sache gar nicht so schlimm. Eine Million? Gut, ich opfere sie gern. Die beiden anderen Bedingungen sind weit härter. Aber was soll ich tun? Ich muss Ja sagen – muss, falls nicht bis morgen Mittag mir die Erleuchtung kommt. Wenn nicht, nun so werde ich meine Mutter hoffentlich gesund und munter bald wieder hier haben und werde ein Jahr lang sehnsüchtig den Ablauf dieses Jahres erwarten. Denn meine Detektivarbeit geht mir ja über alles!«

Bechert nickte. »Leider – leider! Sie haben recht, bester Harst! Sie müssen! Und ich muss mich verabschieden. Dienst! Gute Nacht. Morgen rufe ich Sie mal an, Harst. Hm, wie steht’s denn mit der Erleuchtung? Hoffen Sie noch, dass …«

Harst hatte Bechert die Hand gereicht. »Palperlon ist ein Esel!«, sagte er leise.

Bechert schüttelte den Kopf. »Was – was heißt das?«

»Dass ich hoffe! Auf Wiedersehen! Schraut, begleite Bechert hinaus.«

Als ich das Zimmer wieder betrat, hörte ich aus Harsts Bibliothek leises Klavierspiel hervordringen.

Harald spielte – spielte Wagner!

Ich stellte mich neben den Bechstein-Flügel. Harst schaute nicht auf. Die Klänge der Graals-Erzählung umrauschten mich. Harald war ein halber Künstler. Ich lauschte. Wagner – urdeutsche Musik! Und da erst fühlte ich so recht, dass ich wieder daheim war.

Ich setzte mich in eine Ecke des Ledersofas, rauchte regungslos meine Zigarette.

Plötzlich rissen die Töne jäh ab. Harst erhob sich, kam zu mir, lehnte sich an den mit Büchern bedeckten Mitteltisch.

»Schraut,« flüsterte er, »es wird eine hübsche Nacht werden. Der Himmel ist bedeckt. Die Luft ist schwül. Vielleicht gibt es ein Herbstgewitter. Hoffentlich regnet es auch, wenn wir beginnen.«

»Womit?« Ich ahnte: Unsere erste Nacht in der Heimat würde eine gefährliche Arbeit bringen. Wenn Harald von hübsch sprach, lag darin stets eine feine, auf mich gemünzte Ironie. Er wusste: Ich mit meinen 42 Jahren liebte die Ruhe und ein weiches Bett.

»Womit? Aber Max Schraut!«, erwiderte er. »Denk mal an unser Abenteuer im Park des Forschungsreisenden Malzahn! Du hast diesen Fall, wenn ich mich recht erinnere, unter dem Titel Liu Sings Geheimnis geschildert. Das Armband damals, hm, meine Mutter kannte doch diese Geschichte mit dem rätselhaften Wort Ritbilf, und da –«

Er holte die Brosche seiner Mutter hervor und reichte sie mir.

Ich griff hastig danach. Mir war ein Gedanke gekommen. Ich trat unter die Lampe, besichtigte die Goldfassung der wundervollen Gemme.

Ritbilf! Das war der in den Armreif eingeritzte Hilferuf einer ebenfalls sorgfältig gefangen Gehaltenen gewesen.

Und nun sah ich auf der braunen, glatt polierten Rückseite der großen Gemme einige Kratzer – nein, mit zitternder Hand offenbar eingeritzte Worte. Ich entzifferte:

In Ale hier

Ich schaute Harst unsicher an.

»Na?«, meinte er.

»Ich lese: In Ale hier! Meinst du, dass deine Mutter dies wirklich eingekratzt hat?«

»Sie hat es ganz sicher! Palperlon wird ihr gesagt haben, dass er mir die Brosche in Hamburg zustellen lassen würde. Da hat meine Mutter denn noch geschwind mit einer Nadel, bevor er ihr die Brosche abnahm, die Worte als Hinweis eingeritzt, wo sie sich befindet. Ich sah diese sehr undeutliche Schrift bereits auf dem Dampfer in unserer Kabine. Aber da blieben mir diese In Ale hier ein Rätsel. Jetzt ist das Rätsel gelöst!« Er sprach lebhaft und angeregt.

Bevor ich noch etwas fragen konnte, erschien Malwine und rief uns nach oben zum Abendbrot.

Harst lud auch noch Frau Malke und Karl dazu ein. Ebenso musste Malwine mit am Esstisch Platz nehmen.

Die brave Köchin begriff die gute Laune Haralds nicht, bis dieser erklärte:  »Mutter wird bald frei sein. Ich soll nur eine Million zahlen!«

Malwines Gesicht hellte sich sofort auf.

Nach Tisch wollte ich von Harst wissen, was das Ale bedeute. Wir saßen in seinem Arbeitszimmer. Das heißt: Harst saß und ich packte unsere Koffer aus.

»Später!«, antwortete er. Das war stets bei ihm so: Er hielt mit seiner Weisheit bis kurz vor der Katastrophe zurück oder aber brachte mich ganz allmählich auf das Richtige.

»Unsere Selbstlader lass nur gleich draußen!«, fügte er hinzu. »Geladen sind Sie ja noch. Um elf Uhr brechen wir auf. Aha – der Wind, der den Regen ankündet! Das heult gehörig um das Haus! Alles ganz nach Wunsch. Such doch nachher noch ein Brecheisen, das kurze, zusammenlegbare und ein paar Dietriche heraus. Wir müssen so etwas wie Einbrecher spielen.«

Um Dreiviertel 11 Uhr klopfte es. Es war Karl Malke.

»Herr Harst, Sie flüsterten mir doch zu, ich solle um …«

»Ja, setz dich nur. Karl, werden die Neubauten neben Nr. 14 nachts bewacht? Sehr wahrscheinlich doch. Kennst du den Wächter? Du biederst dich doch stets mit der ganzen Nachbarschaft an.«

»O, es ist ein altes Männchen, Herr Harst. Er trinkt gern einen. Zumeist hockt er in Nr. 12 im Flur.«

»Hat er einen Hund?«

»Nein. Aber einen Revolver.«

»So, so. Geh nun und hole mir aus der Kammer ein Stück Wäscheleine, etwa fünf Meter lang. Suche aber ein noch festes Stück heraus, das einige 150 Pfund Gewicht verträgt.«

Karl machte ein verdutztes Gesicht und schob ab.

»Schraut, du musst nun drüben bei dir so tun, als gingest du zu Bett. Schließe die Vorhänge, schalte für ein paar Minuten das Licht ein und komme dann wieder her. Unser Haus wird von Palperlon und Kumpanen fraglos beobachtet. Die Bande soll denken, wir kriechen in die Federn.« Er nickte mir zu.

Sein Gesicht, dieses Gesicht kannte ich. Wenn die Haut über den Backenknochen sich so straff spannte und die Augen halb zusammengekniffen waren, dann hatten die Herren Verbrecher allen Grund, vorsichtig zu sein.

Gleich darauf lag ich angeblich im Bett. In Wahrheit steckte ich meine neunschüssige Pistole ein, zog mir die Mütze fest über die Ohren und folgte Harst durch den Garten auf das unbebaute Laubengelände, das an dessen Hinterseite grenzt.

Es goss jetzt. Wir hatten unsere Sportanzüge aus Lodenstoff an. Die waren wasserdicht. Im Westen flammte es zuweilen für Sekunden hell auf. Als wir nun über den Bauzaun von Nr. 15 kletterten, krachte auch schon nach einem grellen Blitz der erste lautete Donnerschlag.

Nie hätte ich geglaubt, dass diese Nacht dem Haus uns gegenüber gewidmet sein sollte. Als wir nun vor der verschlossenen, aber noch ungestrichenen Haustür von Nr. 15 standen, als Harst mit dem Dietrich das Schloss öffnete und vor uns der dunkle Flur gähnte, da war mir wie so oft bei solchen Abenteuern keineswegs behaglich zumute! Da schossen mir unzählige Fragen durch den Kopf. Weshalb interessierte sich Harst für das Atelier? Weshalb.

Meine Gedanken bekamen auf sehr unangenehme Art eine andere Richtung. Harst hatte soeben die Tür wieder zugedrückt. Da – vor uns ein rötlicher Lichtstrahl, eine heißere Stimme: »Halt! Ich schieße sofort!«

Und Harst? Harst lachte leise auf! »Schießen Sie lieber nicht, Verehrtester! Wir sind keine Spitzbuben. Ich heiße Harst, Harald Harst, wohne gegenüber. Hier, nehmen Sie diese zwanzig Mark und machen Sie sich dafür einen vergnügten Tag. Sie wissen wohl, dass meine Mutter verschwunden ist. Ich suche hier nach einer Spur.«

Der Wächter war offenbar froh, dass er uns hier getroffen hatte. Dann stiegen wir die teilweise noch mit Bauschutt bedeckten Treppen empor bis zur Bodenluke, wuchteten die Krampe des Vorlegeschlosses mit dem Brecheisen heraus und befanden uns nun auf dem schwach geneigten Dach inmitten eines Gewittersturmes der uns beinahe umwarf. Wir krochen auf allen vieren nach rechts hinüber, hatten nun das Glasdach des Ateliers etwa zwei Meter unter uns.

Im Atelier brannte Licht.

»Noch zu früh«, meinte Harst. »Warten wir im Trockenen auf dem Boden.«

Da – ein Blitz fuhr über den nachtschwarzen Himmel hin. Trotz des Regengusses wurde es für einen Moment hell genug, dass ich auf dem Nebendach, dort, wo das gewölbte Fenster in das Pappdach überging, eine Gestalt erkennen konnte, einen Mann, der lang auf dem Bauch lag.

Ich packte Harsts Arm. Um uns herum nun wieder nur das Heulen der Windstöße, das Knattern der aufschlagenden Regentropfen und tiefstes Dunkel.

»Harst … dort drüben … ein Mensch!«

»Wo?«

Ich gab die Richtung an.

Abermals eine grelle elektrische Entladung. Abermals für Sekunden diese unheimliche Beleuchtung.

Wir sahen, dass der Mann nun mit dem Unterkörper in einer der quadratischen Luftscheiben des Dachfensters steckte. Das Atelier aber war dunkel.

»Besuch!«, flüsterte Harst. »Unser Karl hat also doch zum Teil recht gehabt. Die Maud Simpkinson empfängt einen Gast über die Dächer. Nun — sie wird wohl Ursache haben, ihren guten Ruf nicht aufs Spiel zu setzen. Ah, jetzt ist es im Atelier wieder hell geworden. Nur der Einzug des Besuchs sollte nicht beobachtet werden können. Auch die Luftscheibe ist wieder geschlossen. Vielleicht benutzen wir sie ebenfalls. Komm jetzt ins Trockene!«

Wir saßen dann auf der leiterähnlichen Treppe unter der wieder zugeklappten Dachluke.

»Dürfte ich nun vielleicht wissen, weshalb wir gerade Miss Simpkinson beehren wollen?«, fragte ich leicht gereizt, denn bei diesem Wetter sich auf Dächern herumzudrücken war kein Vergnügen und meine Laune näherte sich bedenklich dem Nullpunkt. »Natürlich hängt dein Interesse für das Atelier nebenan mit den Schattenbildern zusammen. Das ist mir jetzt klar. Aber …«

Harst schob seinen Arm in den meinen: »Lieber Alter, nicht so brummig! Ich bitte dich: Ich bin ja so glücklich, dass ich meine Mutter so dicht in meiner Nähe weiß. Du fährst zusammen! Ich kann mir dein Gesicht vorstellen. Du bist mehr als überrascht. Und doch hättest du gleichfalls herausfinden müssen, dass die Worte In Ale hier nur eine Verstümmelung infolge heftiger, undeutlicher Kratzschrift und eine durch die Größe der Gemme bedingte Trennung sind. Setze für das l ein t und für das h ein l, dann heißt es In Ate lier, also In Atelier, ergänzt: Ich werde in einem Atelier gefangen gehalten! Ich gebe zu, dass ich ebenfalls zunächst In Eile hier entziffert hatte. Erst als Karl, unser prächtiger Karl, von den Schatten auf dem Atelierfenster sprach, von dem Atelier eben, das im Haus gegenüber vermietet worden war, da kam mir die erste Erleuchtung, nein, die zweite! Denn die erste wurde mir schon in Moscheln bei der Besichtigung der Leiche der eleganten Fremden klar. Hm, eine Erleuchtung war dies gerade nicht. Mehr ein glücklicher Zufall, der später sich erst zu etwas Wertvollem auswuchs. Ich will jedoch nicht wieder in den alten Fehler zurückfallen und will dir nicht, wie ein Professor etwa eine mathematische Gleichung seinen Schülern mit dem Stolz des Kundigen entwickelt, tropfenweise die Aufklärung geben, sondern mehr in großen Zügen. Die vergiftete Frau in Moscheln hatte – du wirst das bemerkt haben – jene neumodische Art von Zahnplomben, die sich nur schwerreiche Leute leisten: Kleine Brillanten blitzten in vier Zähnen – in Gold gefasste Brillantplomben. Diese Unsitte stammt aus dem Dollarland. Hier in Deutschland sind wir zum Glück noch nicht so geschmacklos. Nur Engländerinnen äffen diese modernste Erfindung der Herren Zahnkünstler nach. Weiter: Die Tote benutzte ein Parfüm, das dir sofort hätte auffallen müssen. Besinne dich auf das Fremdenheim der Frau von Tezra in Haidarabad, wo du dich so wütend über eine Miss ärgertest, die das in Assam hergestellte sogenannte Assam-Kudri, ein Parfüm von großer Stärke und einer widerlichen Süße, benutzte: Nun, dasselbe Assam-Kudri spürte ich an der Toten. Und als ich es spürte, da dachte ich auch sofort an …! Doch warte! Ich halte dir mal die Brosche unter die Nase. Riechst du etwas?«

Allerdings – ich roch: Assam-Kudri!

»Siehst Du, mein Alter, das Schächtelchen und die Watte haben denselben Duft! Und nun hier Master Palperlons Schreiben mit den drei Bedingungen: auch wieder Assam-Kudri! Nun ist also die Brücke gebaut zwischen Brosche, der Toten und dem Brief! Wenn wir nun nachher in Miss Simpkinsons Atelier denselben Duft wahrnehmen, dann ist das der Schlussstein in der Kette meiner Kombinationen, sozusagen der Verschluss der Kette, die bis dahin nur eine Reihe von Perlen – Tatsachen und Folgerungen aus diesen – war.«

»Hm, ganz schön alles! Aber es gibt doch unzählige Ateliers, lieber Harald«, meinte ich zweifelnd. »Weshalb soll nun gerade dieses nebenan dasjenige sein, das deine liebe Mutter meint? Schattenbilder besagen doch gar nichts! Ich meine nichts, was auf dieses Atelier als den Ort hinweisen könne, wo deine Mutter festgehalten wird! Wo ist die Brücke von dem Hause Nr. 14 hin zu James Palperlon? Ich vermag beim besten Willen auch nicht das kleinste …«

»Pst!«, warnte Harst mich. »Hörtest du nicht soeben auch …«

Das weitere verschlang ein furchtbarer Donnerschlag Als das entsetzliche Dröhnen nachgelassen hatte, war auch das Geräusch des fallenden Regens über uns verstummt.

Harst hatte sich anscheinend erhoben. Dann öffnete er die Dachluke. Als ich emporschaute, sah ich nur noch seine Beine. Er war auf das Dach geklettert. Ich wartete etwa drei Minuten.

Dann über mir seine Stimme: »Vorwärts. Das Atelier ist dunkel. Aber in den beiden Wohnräumen zum Hof hinaus brennt Licht.«

Ich stand widerwillig auf. Der letzte Donner hatte meine Nerven etwas in Unordnung gebracht. Ich war stets ein wenig gewitterscheu. Die mit Elektrizität gesättigte Luft machte mich müde und lastete wie ein Druck auf mir.

Harst kroch wieder auf allen vieren voran, nun im Bogen auf die Luftscheibe zu, durch die auch jener Mann vorhin verschwunden war.

Es war nicht ungefährlich, sich von dem Pappdach bis an das Klappfenster über die allerdings recht starken Scheiben heranzuschieben. Harst verlegte die Hauptlast seines Körpers auf eine der eisernen Schienen, in die die Scheiben eingekittet waren. Ich konnte ihn nun recht deutlich erkennen, da die Gewitterwolke nach Osten zu davonzog und bereits ein Stück sternenklarer Himmel sichtbar war. Auch das matt schillernde Glasdach reflektierte das wenige Licht und ließ die Umrisse von Haralds Gestalt scharf hervortreten. Hände und Knie stützte er in der Hauptsache auf die schmale Eisenschiene, wobei er offenbar Mühe hatte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich sah dann, dass er das Brecheisen aus der Tasche nahm und an dem Verschluss des Fensters sich zu schaffen machte.

Nun wandte er den Kopf zurück. »Der Weg ist frei«, flüsterte er. »Bleib dicht hinter mir.«

Mit den Beinen tastete er dann nach unten. »Ah, hier steht eine Trittleiter!«, meldete er sich wieder. »Miss Simpkinson hat es ihrem Gast vorhin bequem gemacht.«

Er tauchte langsam unter. Auch ich begann nun die Rutschpartie auf der schmalen Schiene. Ich schwitzte Angst dabei. Das Glasdach senkte sich in scharfem Bogen und die Luftscheibe lag gerade dicht vor dem scharfen Knick, hinter dem die Tiefe gähnte.

Als ich das rechte Bein glücklich in der quadratischen Öffnung hatte, glaubte ich aus dem Atelier einen dumpfen Laut zu vernehmen. Es klang wie ein halb ersticktes Ächzen.

»Harst!«, rief ich leise.

»Ja doch! So beeile dich doch!«, hörte ich eine Stimme. Ich hatte nun leider schon beide Füße auf der Leiterstufe – leider! Denn die Stimme war nicht die Harsts gewesen.

Ich nahm alle Kraft zusammen, wollte mich schnell wieder aus dem quadratischen Loch herausschwingen.

Wollte! Meine Füße wurden gepackt, ich wurde hinabgezerrt, hatte schon einen gellenden Hilferuf auf den Lippen. Da schlug ich mit dem Hinterkopf gegen die Eiseneinfassung des Klappfensters, ein stechender Schmerz im Schädel raubte mir für Sekunden halb die Besinnung. Ich prallte unten auf etwas Weiches, Federndes auf.

Und da wurde es taghell um mich. Die drei großen, hängenden Birnen des Ateliers waren eingeschaltet worden.

Ich lag quer über einem Diwan, auf den ich gestürzt war. Vor mir stand ein Mensch mit einem grünen Stofffetzen als Maske vor dem Gesicht, in der Hand eine stoßbereite Lanze mit breiter, langer Eisenspitze – ein Zuluspeer!

»Maul halten!«, sagte er in tadellosem Deutsch. »Aufrecht setzen! Arme auf den Rücken legen!«

Ich gehorchte mechanisch. Widerstand war nutzlos. Denn dort vor mir auf dem Teppich saß Harst mit gefesselten Händen und Füßen, im Mund einen Knebel! Er nickte mir zu. Das konnte nur heißen: Wehre dich nicht!  Auch ich wurde nun mit dünnen, verzinktem Draht genauso gebunden; auch mir schob man einen Leinwandpfropfen zwischen die Zähne. Aber das alles besorgte nicht der Mann mit dem Zuluspeer, sondern eine blonde Frau, das auf dem Kopf einen hellen Filzhut hatte und dazu einen sehr dichten weißen Schleier mit schwarzen Tupfen trug, der ihr Antlitz völlig unkenntlich machte.

Und diese Frau hatte Kraft, war gewandt! Das merkte ich nur zu gut! Dass Miss Maud Simpkinson mir all diese zarten Fesseln anlegte und ebenso zart meinen Mund verschloss, bewies ja schon der Schleier mit den Tupfen, den Karl Malke besonders erwähnt hatte.

Wir beide waren wehrlos! Wir saßen nun nebeneinander auf dem Diwan und vor uns in zwei Korbsesseln unsere Bezwinger.

Eine Weile nichts. Dann begann die punktierte Miss mit unangenehm hoher Stimme:

»Ich kann Ihnen nur mein Kompliment machen, Harst! Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie so schnell den Weg hierher finden würden. Und fraglos stände die Partie jetzt mehr zu Ihren Gunsten, wenn nicht mein Freund Sie beide erspäht haben würde, als sie auf dem Nachbardach lagen. Wir konnten also alles zu Ihrem Empfang vorbereiten. Immerhin ist Ihr Erscheinen hier recht störend. Da ich mit Ihnen einiges zu besprechen habe, frage ich, ob Sie mir Ihr Wort geben wollen, nicht um Hilfe zu rufen, wenn ich Ihnen den Knebel abnehme.«

Harst nickte. Der Freund Miss Mauds befreite ihn dann von dem Knebel. Und als dieser Mensch nun so dicht neben mir stand, da roch ich ganz deutlich das Assam-Kudri-Parfüm.

Harst holte ein paarmal tief Atem und sagte dann sehr gelassen: »James Palperlon, Ihre Maske als Miss Simpkinson ist tadellos. So, nun fragen Sie!«

»Beweisen Sie mir, dass ich Palperlon bin. Sie wissen von Palperlon nichts, nur dass er mittelgroß ist und schlank ist. Sein Gesicht haben Sie nie unmaskiert gesehen!« Das klang ironisch und auch selbstbewusst.

»Beweisen? Hm! Einen Gerichtshof würden meine Beweise nicht genügen. Mir genügen sie. Vor acht Tagen wurde dieses Atelier von Ihnen gemietet. Zu dieser Zeit konnte Palperlon schon in Berlin sein, falls er uns eben mit einem früheren Dampfer vorausgefahren war. Gerade dies meinem Haus gegenüberliegende Atelier mieteten Sie! Und Sie trieben spät abends vor jenem Spiegel dort an jenem Pfeiler allerlei Künste, die ein kleiner Freund von mir als Schattenbilder beobachtet hat. Ohne diese Schattenbilder wäre ich nie auf Sie aufmerksam geworden. Mein kleiner Freund fand die Schattenfiguren komisch, weil die Köpfe sich drehten und wanden, sich verbeugten, die Hälse lang reckten und so weiter. Er glaubte, am ersten Abend acht verschiedene Personen zu sehen. Und es waren doch stets Sie, der vor dem Spiegel verschiedene Masken als Männer und Frauen prüfte, ob sie auch jeden kritischen Blick standhielten. Gerade dieses Komische der Schattenbilder brachte mich auf das Richtige, dass hier ein und dieselbe Person Verwandlungskünstler spielte! So bin ich auf dies Atelier und seine Bewohnerin aufmerksam geworden. Dann kam der Brief mit den drei Bedingungen und der Anweisung, Antwort durch einen grünen, vor der rechten unteren Scheibe meines Fensters befestigten Zweig zu geben. Da sagte ich mir: Von jenem Atelier aus, in dem eine Person wohnt, die sich so eifrig im Maske machen übt, kann man diesen grünen Zweig ganz bequem sehen, falls er eben hingehängt wird. Und von dem Atelierfenster aus kann auch dein Haus dauernd ganz unauffällig beobachtet werden. Weiter noch überlegte ich mir: Deine Mutter hat in die Gemme ein paar rätselhafte Worte eingeritzt. Jetzt weißt du, dass sie In Atelier lauten! Also: abermals ein Atelier! Na, und da war es doch kinderleicht, sich zusammenzureimen, von wem oder auf wessen Befehl dieses Atelier hier gemietet war: auf Palperlons Befehl! — Kein Wunder also, dass ich mich entschloss, mich hier genauer umzusehen. Als Sie dann meinen Freund Schraut so kunstgerecht fesselten, da merkte ich, dass die Miss Simpkinson ein Mann war. Auch Ihre halbe Fistelstimme deutete darauf schon hin. Dieser Mann, der so vorsichtig und so geschickt sich unter Frauenkleidern verbirgt, kann nur James Palperlon sein.«

»Ah, nochmals mein Kompliment, Harst!«, meinte die Miss nun mit heiserer, tiefer Männerstimme. »Ich weiß ja, dass Sie kein Dummkopf sind. Aber diese Deutung der Schattenbilder und die weiteren Schlüsse verdienen in der Tat besondere Anerkennung! Nur schade, dass Sie und Ihr treues Anhängsel Schraut nie mehr wieder Gelegenheit haben werden, Ihrem Ruhmeskranz ein neues Lorbeerblatt hinzuzufügen. Sie kennen mich durch Warbatty! Denn: Warbatty war ja eigentlich ich selbst. Er war mir Werkzeug, meine gehorsame Maschine. Er musste denken und handeln, wie ich es wollte. Mithin ist Ihnen bekannt, dass ich Sie als Detektivgenie verehre und oft gezaudert habe, Sie für immer unschädlich zu machen. Jetzt, wo Sie meinen Brief durch diese Kampferöffnung, dieses Eindringen hier beantwortet haben, wo vielleicht bereits Ihr Freund Bechert im Hintergrund lauert, um seine Polizeiarme nach mir auszustrecken, muss ich endgültig Schluss machen! Sie und Schraut werden dies Atelier nicht mehr lebend verlassen. Und Ihre Strafe soll der Gedanke sein, dass Ihre Mutter am Leben bleibt und dann ihren Sohn beweinen wird — ihren Sohn, mein Opfer!« Ein wahrhaft satanischer Hohn durchwehte die letzten Sätze.

Dann stand Palperlon auf, wandte sich an den anderen: »Tragen wir sie in die kleine Küche hinüber! Vorwärts!«

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