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Nick Carter – Zur Strecke gebracht – Kapitel 1

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Zur Strecke gebracht
Ein Detektivroman

Die Opfer der Spielhölle

Es war bitterkalt. Noch wollte die Februarnacht kaum dem jungen Morgen weichen. Der Cabby (Kutscher), welcher gerade sein flinkes Fuhrwerk vor einem kleinen, freundlichen Privathaus in einer der vom Central Park in New York abzweigenden Seitenstraßen im mittleren Westen der Riesenstadt mit kurzem Ruck anhielt, schlug trotz des dicken Schafspelzes ungestüm die Arme gegen den Leib, um sich zu wärmen, während sein früher Fahrgast die Haustreppe hinaufstürmte und lebhaft die Klingel in Bewegung setzte.

»Ist Mr. Carter bereits aufgestanden?«, erkundigte sich der frühe Besucher, kaum dass die Haustür geöffnet worden war.

Die ältliche Wirtschafterin des berühmten Detektivs schüttelte ihren Kopf.

»Ich glaube kaum, Mr. Inspektor«, antwortete sie, in dem Einlass Begehrenden den Chef der New Yorker Kriminalpolizei, McClusky, erkennend. »Mr. Carter pflegt seit seiner letzten Verwundung immer erst gegen acht Uhr aufzustehen … Es ist noch unvernünftig früh, Mr. Inspektor, kaum sechs Uhr vorüber … Zehn Minuten früher hätten Sie mich auch noch nicht außerhalb des Bettes angetroffen.«

Sie war zur Seite getreten und schloss nun hinter dem in den Hausgang Eintretenden schnell wieder die Tür.

»Huh«, machte sie, »es ist eine Bärenkälte … Gibt es denn schon wieder was Wichtiges? Der arme Mr. Carter, das soll nun eine Erholung für ihn sein!«

»Well, mir tut es leid, ihn stören zu müssen«, entgegnete der Inspektor mit einem Achselzucken, indem er den schwarzen Mantel aufhängte und nun seine elegante, hochgewachsene Gestalt wohlig streckte. »Hier ist es wenigstens mollig; es geht doch nichts über eine gediegene Dampfheizung … Also wecken Sie in Gottes Namen Mr. Carter und sagen Sie ihm, ich müsste ihn notwendig in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.«

Dabei ließ sich der Inspektor zum Arbeitszimmer des Detektivs führen, einem behaglich eingerichteten Raum, dessen beide Fenster zum Hof gingen.

Die Wirtschafterin entzündete die Flammen des Gaskronleuchters und begab sich dann zu der nebenan befindlichen Schlafstube Nick Carters, um diesen zu wecken.

McClusky hatte auf das Erscheinen seines Freundes nicht lange zu warten. Schon nach etwa zehn Minuten kam Nick Carter durch die Zwischentür. Auf seinem energischen Gesicht lag unverhohlener Unmut ob der unliebsam frühen Störung ausgeprägt.

»Hallo, George, du willst dich wohl bald zum Nachtwandler ausbilden?«, erkundigte er sich, mit dem Freund einen herzlichen Händedruck wechselnd. »Brennt New York? Oder streiken unsere Blauröcke? Oder was gibt es sonst Neues?«

Er hatte während der letzten Worte seinen Besucher in einen bequemen Schaukelstuhl genötigt, setzte sich selbst ihm gegenüber, präsentierte Zigarren und beauftragte die durch ein Klingelzeichen herbeigerufene Wirtschafterin, einen extrastarken Kaffee zu brauen.

»All right!«, rief er dem Inspektor zu, obwohl dieser gar nichts gesagt, sondern nur missbilligend den Kopf geschüttelt hatte. »Ich weiß schon: Starker Kaffee ist Gift, das predigen ja alle Ärzte … Doch sie werden wahrscheinlich auch meinen Beruf als keinen besonders gesundheitsfördernden bezeichnen – und doch bin ich stets leidlich gesund genug gewesen, um zur Not etwas leisten zu können … Aber weiß der Himmel!«, setzte er seufzend hinzu, während seine Züge sich umwölkten. »Seit dieser Carruthers wiederum durchgebrannt ist, bin ich nervös geworden. Ich werde die Unruhe nicht los. Da hilft so ein Mokka am besten – doch du bist wahrscheinlich nicht gekommen, um mich diese Weisheit auskramen zu hören, George?«, brach er mit kurzem Auflachen ab.

Auch die Mienen des Inspektors hatten sich verdüstert.

»Well, Nick«, meinte er gedämpft. »Ich kann dir es nachfühlen; mir geht es selbst nicht anders. Noch dazu bin ich es, dem dieser Verbrecherkönig unter den Händen entwischte … ein zum Tode verurteilter Verbrecher, der dreimal hintereinander in der allerunglaublichsten Weise zu entwischen verstand … Ich persönlich bin an ihn geschlossen, um ihn ja sicher zum Zuchthaus in Sing-Sing zu bringen, wo ihn der Tod im elektrischen Stuhl erwartet – und was geschieht? Der Kerl weiß mich, den alten Praktikus, zu narren – er entspringt und ist nun schon seit Wochen wie aus der Welt verschwunden!« Dröhnend schlug er mit der Faust auf die Tischplatte. »Es ist schauderhaft!«, setzte er grimmig hinzu. »Man schämt sich fast, selbst dem jüngsten Polizisten ins Gesicht zu schauen, aus lauter Angst, der Kerl möchte einen heimlich auslachen!«

Der Detektiv nickte gedankenvoll. »Mein lieber George, du bist nicht allein der Blamierte«, seufzte er und nahm aus den Händen der mit dem Tischdecken beschäftigten Haushälterin die dampfende Kaffeekanne entgegen. »Ich gestehe offen, es war der blödsinnigste und hoffnungsloseste Reinfall meines ganzen Lebens – dir entschlüpft jener Carruthers, und ich lasse mich zur selben Stunde von seiner Helfershelferin, diesem schönen Dämon in Menschengestalt, Inez Navarro genannt, einfach über den Haufen schießen! Sollte nächstens die Dummheit irgendwo prämiert werden, dann melde ich mich. Vielleicht bekomme ich einen Preis!«

»Well, Nick, das heißt übertreiben«, warf McClusky ein. »Die Dummheit ist zwar eine Gabe …«

»… Gottes, aber man darf sie nicht missbrauchen!«, fiel der Detektiv lachend ein, dessen Stimmung durch den Genuss einiger Tassen des starken Gebräus sich ersichtlich aufgeheitert hatte. »So, nun schieß los, George, also, was gibt es? Wieder einmal mit deinem Latein am Ende?«

Er lachte, verstohlen seinen Freund anblickend.

»Das gerade nicht. Doch der Fall erscheint mir interessant genug, um dich zur Mitarbeit einzuladen. Also, kurz nach vier Uhr heute früh ist von einem unserer Specialpolicemen bei einem Rundgang im Central Park der blutüberströmte Körper eines etwa dreißigjährigen, offenbar den besseren Ständen angehörigen Mannes, in welchem wir bereits einen eifrigen Besucher der New Yorker Rennplätze, einen gewissen McIntyre, erkannt haben, aufgefunden worden. Es liegt offenbar ein Raubmordversuch vor, denn außer einer alten Zylinderuhr fanden sich keinerlei Wertsachen bei dem Unglücklichen vor, welcher ungesäumt nach dem Bellevuehospital geschafft worden ist. In der Nähe des Tatortes aber wurde eine leere Banknotentasche aufgefunden, welche unzweifelhaft dem Opfer geraubt worden ist. Der Chefarzt von Bellevue hat bereits den Coroner (Polizeiarzt) benachrichtig, um eine ante mortem-Aussage aufzunehmen; er meint, McIntyre mag vielleicht vor seinem Ende nochmals zum Bewusstsein zurückkehren. Das ist alles.«

Nick Carter ließ ein leises Pfeifen hören. »Das ist nun schon der dritte Überfall auf anscheinend gutsituierte Personen im Central Park kurz hintereinander«, sagte er bedächtig.

McClusky nickte. »Die beiden vorhergehenden Raubüberfälle nahmen keinen so schlimmen Ausgang – das ist voraussichtlich der einzige Unterschied zwischen diesen offenbar von denselben Tätern herrührenden Verbrechen. Sie fanden stets in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend statt. Vor vierzehn Tagen wurde Rafaele del Rio, ein junger Mexikaner, betäubt und ausgeraubt; über 20.000 Dollar wurden ihm abgeknöpft.«

»Ich erinnere mich daran«, fiel Nick Carter ein. »Du erzähltest mir davon. Der Mann wurde rücklings niedergeschlagen und hat keine Ahnung, wer die Täter sind.«

»Vor acht Tagen kam ein Kanadier an die Reihe – Mr. Abbott«, ergänzte der Inspektor. »Dieser junge Lebemann betrauerte den Verlust von annähernd 30.000 Dollar, auch ein ganz nettes Sümmchen. Er will gleichfalls nicht wissen, wer ihn beraubt haben kann – oder stellt sich wenigstens unwissend. Uhren, Ringe, Pretiosen, wonach gewöhnliche Straßenräuber zuerst zu greifen pflegen, wurden sämtlichen Opfern gelassen. Nur ihre Brieftaschen wurden ihres Inhaltes beraubt.«

»Well, das lässt darauf schließen, dass der oder die Straßenräuber Kenntnis vom Inhalt dieser Banknotentaschen gehabt haben müssen!«, brummte Nick Carter, indem er sich erhob und seiner Gewohnheit nach einen Rundgang durchs Zimmer machte.

Dann blieb er ebenso unvermittelt wieder stehen und wendete sich zu seinem Freund um.

»Diesen McIntyre kenne ich«, bemerkte er. »Er ist Sportsmann, Buchmacher, wohl auch gelegentlicher Falschspieler und besucht alle unsere geheimen Spielhöllen. Well, der Junge hat so oft anderen das Geld abgenommen, dass ihm so ein Glückwechsel eigentlich ganz dienlich ist. Doch wir wollen zum Hospital fahren. Hast du einen Wagen unten, Inspektor? Ja. All right, ich will nur Überrock und Stiefel anziehen. In zwei Minuten bin ich fertig.«

Eine halbe Stunde später, als eben auf den Straßen das Zwielicht des heraufdämmernden Wintermorgens sich bemerkbar machte, sprachen die beiden berühmten Detektive im Bellevuehospital vor. Der diensthabende Arzt zog auf ihr Befragen die Schultern hoch.

»Für das Leben des Mannes gebe ich keinen roten Cent«, meinte er mit einem bedenklichen Gesicht. »Stich durchs linke Schulterblatt mit einem langen Stilett … Lungenflügel und Herzbeutel glatt durchschnitten. Bei seiner Riesenkonstitution mag McIntyre immerhin bis morgen leben.«

»Gut, wir wollen uns den Mann ansehen«, entschied Nick Carter. »Ist er bei Bewusstsein?«

»Vor einer Viertelstunde war er es noch nicht«, entgegnete der Arzt. »Kommen Sie, Gentlemen – ich will Sie zum Pavillon führen.«

Auf dem mit Strohmatten bedeckten Gang trat ihnen ein Wärter entgegen. »Nummer 1412 scheint zum Bewusstsein zurückzukehren, Doktor«, meldete er. »Ich wollte Sie eben herbeiholen.«

»Der Coroner ist drinnen, was?«, fragte McClusky. »All right, umso besser«, fügte er hinzu, als der Gefragte stumm nickte.

Damit traten die beiden Detektive in eine schmale Isolierzelle. Von den anwesenden Coronerbeamten, mit welchen sie einen schweigenden Händedruck wechselten, wanderte ihr Blick auf den im Bett Liegenden – einen hageren, etwa dreißigjährigen Mann, aus dessen wachsbleichem, schmerzverzerrtem Angesicht schon die Nähe des Todes unverkennbar sprach. Krampfhaft fuhr der mit geschlossenen Augen Daliegende mit gekrümmten Fingern über die Wolldecke, und seinen bläulichen, halb offen stehenden Lippen entrang sich ein schmerzliches, anhaltendes Stöhnen.

Inspektor McClusky hatte sich neben das Metallbett gesetzt. »Well, McIntyre, man überfiel Sie?«, erkundigte er sich. »Wer war es, wer?« Er sprach jedes Wort wie unterstrichen.

Wirklich schien ihn der Sterbende zu verstehen. »Yes«, keuchte er. »Damned – dieser Goldthwart … verflucht soll er sein – dieser Goldthwart …«

Die letzten Worte kamen schon wieder schwächer über die blutgefärbten Lippen. Doch der Coroner hielt ihm Riechsalz unter die Nase. »Wer griff Sie an, McIntyre?«, erkundigte er sich.

Doch der todwunde Mann verstand ihn nicht. In seinen Zügen war eine tiefe Veränderung vor sich gegangen; sein Geist wanderte, das bewiesen die wie irre hervorgestoßenen Worte.

»Yes … ich spielte … ich gewann … 10.000 Dollar … damned, Goldthwart, wo ist … das Geld – warum musste ich trinken – den Wein – und das Weib – die Polengräfin – hohoho – ich kenne sie – den schönen – Teufel – Inez Navarro – ich warne dich, mich – beseitigst du nicht – ich werde mich – rächen – ich werde – o mein Kopf – er brennt, wie – Höllenglut …«

Gleich einem elektrischen Schlag war es den beiden Detektiven durch die Glieder gegangen, als sie so unvermutet von den Lippen des Sterbenden den Namen der wie spurlos vom Erdboden verschwundenen schönen Verbrecherin nennen hörten. In größter Spannung beugte sich Nick Carter vor, um weitere Fragen zu stellen.

Doch umsonst. Das Bewusstsein des Überfallenen war schon wieder entschwunden, und in Übereinstimmung mit dem Hospitalarzt erklärte der Coroner, dass der Todeskampf bereits begonnen und an eine Rückkehr des Bewusstseins schwerlich mehr gedacht werden konnten. Es konnte schon in wenigen Minuten alles zu Ende sein; bei der robusten Konstitution des Sterbenden aber mochte dieser vielleicht noch stundenlang zu leiden haben.

»Goldthwart – Polengräfin – Inez Navarro!«, brummte Nick Carter, als er wieder draußen im Korridor seinem Freund, dem Inspektor, gegenüberstand. »Ferner Spielhölle – natürlich seine, in elegantem Privathaus – schwere Weine, die reichlich aufgenötigt werden … Well!«, entschied er. »Täuscht mich nicht alles, so bezahlt sich unsere Morgenfahrt.« Mit zufriedener Miene klopfte er dem Freund auf die Schulter. »Inspektorchen, was der Mann da drinnen vor sich hinlallt, ist nicht mit Gold zu bezahlen. Ich wette, ehe dieser Tag vergeht, wissen wir mehr von Inez Navarro – und natürlich auch von diesem Morris Carruthers, denn die beiden halten wie die Kletten zusammen.«

»Wir müssen diese elegante Spielhölle auf jeden Fall ausfindig machen«, meinte der Inspektor. »Es gibt deren in New York gerade genug, aber da der Salon jedenfalls erst kürzlich eröffnet wurde, so …«

»Nein, mein Lieber, den Zahn lasse dir ziehen«, unterbrach ihn der Detektiv kopfschüttelnd. »Diese schöne Teufelin spielt vielleicht schon länger die Polengräfin, wie wir sie unter dem Namen Inez Navarro und als heißblütige Mexikanerin kennen. Das Verbrecherpaar ist mit allen Hunden gehetzt. Sie haben eine Menge Hintertüren, durch welche sie bisher immer wieder zu entschlüpfen verstanden … sage mal«, unterbrach er sich, »von einem Mann namens Goldthwart hörtest du natürlich noch nichts?«

»Well, der Name kommt nicht allzu häufig vor; immerhin kenne ich persönlich mindestens ein halbes Dutzend Personen, die ihn führen, ohne untereinander verwandt zu sein … Ich meine nicht, dass ich sie beruflich kenne«, erläuterte er, als Nick Carter gespannt aufschaute. »Ich wüsste mich auf keinen Fall zu besinnen, in welchen ein Träger des Namens Goldthwart verwickelt wäre.«

»Was ist das für ein Name!«, bemerkte der Detektiv nun geringschätzig. »Dieser Goldthwart, der augenscheinlich als Schlepper der Polengräfin tätig ist, hieß vielleicht gestern Jones …«

»Oder auch Morris Carruthers …«, meinte Inspektor McClusky lächelnd.

Doch Nick Carter schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, denn Carruthers wird auch in der vortrefflichsten Verkleidung sein jetziges Versteck nicht zu verlassen wagen – dafür ist die ihn bedrohende Gefahr eine zu große … Nein, nein, Morris Carruthers sitzt wie eine Spinne im Netz und lauert im Verein mit seiner schönen Geliebten auf die Opfer, welche Helfershelfer ihnen zum Ausplündern zuschleppen … Und zwei von diesen Opfern befinden sich wohl noch hier im Krankenhaus«, fuhr er fort, von einem plötzlichen Gedanken beschäftigt.

Er wendete sich an den gerade vorübergehenden Hospitalarzt.

»Hallo, Doktor … ist der Kanadier, Mr. Abbott, noch hier?«

Der Arzt nickte. »Er ist noch nicht ganz hergestellt und wartet auf Geld, um heimkehren zu können«, berichtete er. »Wollen Sie ihn sprechen, Mr. Carter?«

»Jawohl«, entschied dieser. »Der junge Mexikaner ist natürlich schon abgereist?«

»Er hatte Eile, fortzukommen. Das New Yorker Pflaster mag ihm nach seinen schlimmen Erfahrungen zu heiß geworden sein – doch da sind wir«, unterbrach sich der Arzt, indem er eine Tür öffnete und die beiden Detektivs eintreten ließ.

»Entschuldigen Sie, Mr. Abbott«, wendete er sich an einen kleinen, hageren Mann mit lebhaften Bewegungen, »hier sind zwei Gentlemen, die Sie zu sprechen wünschen.« Damit machte er die Tür von außen wieder zu und ließ die beiden Detektive mit dem Bewohner des behaglich ausgestatteten Krankenzimmers allein.

Verwundert sah der mit verbundenem Kopf in einem Lehnstuhl Liegende auf die Besucher. »Sie kenne ich doch bereits«, redete er schließlich den Inspektor an. »Sie sind Mr. McClusky, nicht wahr? Ja, Sie vernahmen mich am Tage nach meiner Einlieferung …«

»Nun, Sie kamen gut fort, Mr. Abbott, vor acht Tagen sah es böse um Sie aus.«

»Das glaube ich gern, es war auch schrecklich genug«, stimmte der Rekonvaleszent mit einem Seufzer bei. »Ahnungslos ging ich durch den Central Park zum Hotel Netherland, meinem Absteigequartier – ich pfiff einen Negersong vor mich hin und war riesig fidel, denn ich hatte tüchtig im Spiel gewonnen … Plötzlich wurde es mir, als fiele der Himmel über mir ein, der Kopf schmerzte mir zum Zerspringen … Und als ich wieder aufwachte, lag ich hier in der Stube und war bis auf den letzten Cent ausgeplündert.«

»Well, Sie verweigerten damals jede Auskunft, Mr. Abbott …«

Dieser unterbrach den Inspektor mit einer unwilligen Handbewegung. »Geben Sie sich keine Mühe, Inspektor«, rief er, »ich beharre auf meinem Standpunkt …«

»Auch wenn wir Ihnen sagen, dass Sie heute Nacht einen Nachfolger gefunden haben, der nun wenige Türen entfernt von Ihnen im Sterben liegt?«, warf Nick Carter ein.

Der Patient schaute ihn fragend an, während sich ein leichtes Befremden in seinen Zügen ausprägte.

»Ja, so«, meinte McClusky, »ich vergaß, den Herrn Ihnen vorzustellen – Mr. Abbott – Mr. Carter, mein Freund …«

»Doch nicht etwa der berühmte Detektiv?«, rief der Kanadier staunend.

»Ich bin Nick Carter, der Detektiv«, versetzte dieser trocken, »und bin gegenwärtig hinter einer Verbrecherin her, die ebenso schön wie gefährlich ist … eine Hochstaplerin, wie sie im Buche steht … bald Mexikanerin von vornehmem Geblüt, dann wieder Polengräfin, die in einem der vornehmen Häuser am Central Park West eine Spielhölle im allerfeinsten Stil betreibt. Ich vermute, sie hat ihre Leute, welche in den Rauchzimmern der feinen Hotels die Bekanntschaft wohlhabender Fremder machen und sie nach jenem Haus verschleppen müssen. Dort nimmt man ihnen durch Falschspiel ihr Geld ab oder lässt sie zunächst gewinnen, um sie nachher auszuplündern …«

»Aber woher wissen Sie …«

»Alles Schema und Schablone, Mr. Abbott«, fuhr Nick Carter lächelnd fort. »Diese Herrschaften arbeiten sämtlich nach demselben bewährten Rezept … manche brutal offen, andere wieder raffiniert elegant und mit solch vornehmem Anstrich, dass selbst das geschorene Lamm an der Hochachtbarkeit der Beutelschneider nicht zu zweifeln wagt – man hat ihm wohl gar das kleine oder große Ehrenwort abgenommen, verschwiegen zu sein … und die schöne Herrin des Hauses hat es nicht an aufmunterndem Entgegenkommen fehlen lassen, eh?«

Der Kanadier wurde sichtlich verwirrt. »Allerdings, ich habe Lord Donesdale mein Ehrenwort geben müssen, das peinlichste Stillschweigen zu bewahren«, stammelte er.

»Schöner Name!«, antwortete der Detektiv, dem Inspektor mit den Augen zuzwinkernd. »Sie lernten den Mann zufällig kennen, Mr. Abbott, eh?«

»Allerdings … im Rauchzimmer des Hotel Netherland … Er schien auch dort zu wohnen …«

Der Detektiv lachte. »Immer wieder der alte, bewährte Trick!«, bemerkte er lächelnd. »Lebemann im großen Stil. Man langweilt sich gemeinschaftlich … alles öde, keine Abwechslung, kein Nervenkitzel … endlich geheimnisvolle Andeutung seitens des neuen Bekannten: Er wüsste vielleicht was … bildhübsches Weib, Rasse, vornehme Herkunft … ganz intimer Salon mit gelegentlichem Spielchen – Einführung nur sehr schwer zu bewerkstelligen. Dann obligate Abnahme des Ehrenworts, eine schmerzlose Prozedur, welche sich wiederholt, wenn man der schönen Herrin des Hauses gegenübersteht. Man amüsiert sich großartig, raucht, trinkt … schließlich wird unverfänglich ein Spielchen vorgeschlagen … und dann geht die Lämmerschur los.« Er lachte kurz auf.

»Ich bin erstaunt, Mr. Carter«, versetzte der nahezu fassungslose Kanadier. »Sie schildern so genau, als wären Sie dabei gewesen.«

Nick Carter lächelte unmerklich; er wusste, dass er seinen Mann nun im richtigen Fahrwasser hatte. »Mein lieber Mr. Abbott, wir haben hier in New York reichlich hundert solcher Spielhöllen vornehmster Art, wie die der Gräfin – der Gräfin – na, wie heißt sie gleich«, unterbrach er sich mit der Hand an der Stirn.

»… Chapska … Gräfin Chapska«, half der Kandier gefällig aus, ohne die ihm gestellte Falle zu ahnen. »Ihr verstorbener Gatte war Pole, aber sie selbst ist Mexikanerin und …«

»Well, da haben wir’s ja«, fiel der Detektiv lächelnd ein. »Sie wohnt irgendwo da am Central Park West …«

»An der 78th Street, das große Eckhaus«, ergänzte der Kanadier. Kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Doch Sie täuschen sich – Ihren Scharfsinn und Ihre Erfahrung in Ehren, Mr. Carter. Doch Gräfin Chapska ist von einer Engelsschönheit und solch echter Vornehmheit …«

»Das gehört zum Geschäft, mein lieber Mr. Abbott«, erwiderte der Detektiv. »Lernten Sie in den Gesellschaftsräumen der edlen Gräfin vielleicht auch einen Mr. Goldthwart kennen?«

Der Kanadier sah ihn betroffen an. »Es ist mir unangenehm, in diese Sache verwickelt zu werden«, meinte er dann, unruhig werdend, »ich gab mein Ehrenwort und …«

»Ich will Sie durchaus nicht zu dessen Bruch veranlassen, Mr. Abbott«, wehrte Nick Carter ab. »Immerhin ist es für einen Gentleman ehrenhafter, die Polizei auf die Fährte von Verbrechern zu weisen, als einer Abenteurerin ein unverbindliches Ehrenwort zu halten!«

»Mr. Carter, Sie gehen zu weit!«, verwahrte sich Abbott. »Sie sprechen von einer Lady, die …«

»… Ihre Verehrung besitzt!«, fiel der Detektiv lächelnd ein. »Ich meinte ja auch nur, ob Sie zufällig einen Mr. Goldthwart kennen gelernt haben … das ist doch unverfänglich gefragt.«

Der Kanadier sann Sekunden hindurch nach. »Der Name kommt mir bekannt vor«, meinte er alsdann zögernd. »Es ist mir auch, als ob ich mich einer Gestalt erinnerte, schwarz gekleidet, aalglatt und gewandt sich bewegend – doch das ist alles schattenhaft verschwommen – aber der Name – Goldthwart – hm, ich möchte behaupten, den Namen in den Salons der Gräfin gehört zu haben … doch ich habe nun einmal mein Ehrenwort gegeben und …«

»Sie wünschen es zu halten – well, Mr. Abbott, das machen Sie am besten mit sich selbst aus«, warf Nick Carter ein, indem er sich erhob und dem Inspektor einen Wink gab, ein Gleiches zu tun.

Als sie sich von dem Kanadier verabschiedet und das Bellevuehospital verlassen hatten, pfiff der Detektiv leise vor sich hin. »Nun, George«, meinte er nachdenklich, »ich denke, wir können zufrieden sein. Der gute Mann aus Kanada hat uns mit herzerfrischender Naivität wertvolle Anhaltspunkte gegeben. Ich werde jetzt eine passende Verkleidung anlegen und dem Eckhaus an der 78th Street einen unauffälligen Besuch abstatten … ich vermute, du hast in deinem Büro zu tun, eh? Richte es ein, dass ich dich jederzeit über den Fernsprecher erreichen kann.«

»Selbstverständlich, Nick – doch was gedenkst du nun zunächst zu tun?«

»Weiß ich’s?«, unterbrach ihn der Detektiv achselzuckend. »Wir haben es mit ebenbürtigen Gegnern zu tun, die alles zu gewinnen und nur ihr elendes Leben zu verlieren haben. Darum heißt es vorsichtig operieren. Lasse dir nicht einfallen, das Haus am Central Park beschatten zu lassen. Eine innere Ahnung sagt mir, dass wir Inez Navarro und Morris Carruthers wieder auf der Spur sind – und ist es an dem, so fangen wir sie diesmal endgültig … aber keine Überstürzung, George, das hieße alles gefährden. Du hast die Sache in meine Hand gelegt – well, ich habe mein verloren geglaubtes Renommee wieder herzustellen, und das soll geschehen – oder ich gehe in diesem Fall zugrunde!«

Damit verabschiedete er sich rasch von dem Inspektor, um auf kürzestem Weg zu seiner Wohnung zurückzukehren.

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