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Die Plauderstube – Der Verstorbene als Bräutigam – Kapitel 4

Der Verstorbene als Bräutigam
Nach dem Französischen des Adrien Paul
7. August 1859

4.

Er nahm sich vor, Qualen und bittere Vorwürfe, die er sich machte, abzubüßen. Er wurde von dem Feuer einer Leidenschaft, die ohne Hoffnung war, verzehrt. Die Heiligtumschändung, die er sich hatte zu Schulden kommen lassen und deren Ende er nicht absah, fiel am härtesten auf ihn zurück. Er war zum Frevler, zum Betrüger geworden und wusste selbst nicht recht wie: Die Umstände hatten ihm eine verbrecherische Idee entgegengebracht, der er sich teils aus Hang zum Abenteuerlichen, teils einem ihm selbst unbewussten Zug folgend, hingegeben hatte.

Doch dachte er nicht daran, seine Rolle weiterzuspielen. Er hätte sich gern eingeredet, dass sein ganzes Benehmen bisher ein wenn auch etwas unzeitiger und frivoler Scherz gewesen sei, wenn er sich nicht selbst hätte gestehen müssen, dass das Maß des Scherzes bereits überschritten sei.

Hatte das Mädchen nicht einen Eindruck auf ihn gemacht und hätte er nicht bemerkt, dass auch er ihr nicht ganz gleichgültig sei, so hätte er sich die ganze Sache weniger zu Herzen genommen. So aber lieferten sich die aufkeimende Neigung und das Bewusstsein, ihr entsagen zu müssen, heilige Kämpfe.

Die Nacht brachte ihm jedoch Rat. Er sah ein, dass er das hübsche Melodram des gestrigen Tages, kaum begonnen, ebenso rasch wieder zum Ende führen müsse. Bevor die Sache tragisch werden konnte, stand es noch in seiner Macht, ihr einen ungefährlichen und humoristischen Ausgang zu verschaffen.

So rasch, wie ihm die Idee zu seiner Personalfälschung gekommen war, so plötzlich kam er auf eine absonderliche Lösung derselben.

Fort musste er, nur wollte er lieber das Andenken eines originellen, wenn auch etwas frivolen Patrons hinterlassen als den eines gemeinen Abenteurers.

Demgemäß hatte er seinen Entschluss gefasst und schritt an die Ausführung.

Den anderen Morgen in der Frühe kam Herr v. Vieuville und schlug ihm einen Spazierritt in das Wäldchen von St. Germain vor.

Eduard dagegen kündigte ihm kurz und bündig an, dass er abreise.

»Und wohin gehen Sie?«, fragte der Schwiegerpapa.

»Ich habe in Paris eine Angelegenheit zu ordnen, die mich zwingt, Sie zu verlassen«, entgegnete der junge Mann.

»Wie? Was für eine Angelegenheit können Sie denn in einer Stadt haben, in die Sie zum ersten Mal kommen, in der Sie niemand kennen?«

»Das alles ist richtig, aber es ist nicht weniger ausgemacht, dass ich unter jeder Bedingung gleich abreisen muss.«

»Am Ende gar … Sie wollen doch nicht Geld bei ihrem Bankier holen, lieber Schwiegersohn?«

Wollte Gott, ich hätte einen!, dachte der junge Mann.

»Das wäre noch schöner!,« fuhr Herr von Vieuville fort. »Als ob meine Kasse nicht die Ihre wäre!«

»Davon bin ich überzeugt, aber …«

»Wenn Sie denn durchaus Geld oder sonst etwas von Ihrem Bankier haben wollen, können Sie denn nicht einen zuverlässigen Bedienten schicken, ohne uns des Vergnügens Ihrer Gesellschaft zu berauben?«

»Sie sind zu liebenswürdig und doch …«

Immer unter diesem Gespräch hatte Eduard unmerklich seinen Schwiegerpapa zu dem Ausgangstor gezogen, dessen Schwelle zu überschreiten er sich eben anschickte.

»Sie sind wirklich entschlossen?«

»Unwiderruflich.«

»Ohne die Damen zu begrüßen?«

»Das würde sie so früh nur beunruhigen.«

»Was für Streiche machen Sie!«

»Ich scheide«, nahm Eduard das Wort, »mit dem lebhaftesten Dankgefühl im Herzen über Ihre wirklich zu freundliche und herzliche Aufnahme …«

»Ich bitte Sie, das versteht sich ja von selbst. Den Schwiegersohn …«

»Auch halte ich es für meine Pflicht, Ihnen etwas anzuvertrauen, über das Sie gewiss staunen werden.«

»Was ist das, Herr Schwiegersohn?«

»Denken Sie sich, dass mir gestern gleich nach meiner Ankunft in Paris ein Unfall zugestoßen ist …«

»Von keiner Bedeutung, hoffe ich.«

»Doch, doch, ein sehr schwerer.«

»Sie erschrecken mich.«

»Ich habe einen Choleraanfall bekommen, an dem ich gestorben bin.«

»Nicht möglich! Sonst nichts?«

»Heute Morgen um zehn Uhr soll ich in Paris begraben werden und Sie begreifen, dass ich dabei sein muss.«

»Tolles Zeug!«

»Durchaus nicht.«

»Was steigt Ihnen denn um Gotteswillen zu Kopf?«

»Ich kann mich dieser Pflicht umso weniger entziehen«, fuhr Eduard fort, »als ich mir in dieser Gegend, wo ich unbekannt bin, den Ruf der Unpünktlichkeit und Leichtfertigkeit zuziehen könnte, wenn ich nicht zu rechter Zeit käme, und das könnte mir doch in der Folge sehr schaden, wie Sie begreifen.«

Mit diesen Worten eilte er davon.

Man denke sich die Verblüffung des Biedermannes. Der Scherz schien ihm zuerst ein wenig unheimlich und von sehr zweideutigem Geschmack. Nach und nach fand er ihn aber so äußerst exzentrisch und närrisch, dass er unter einem lauten Gelächter zu seiner Frau und Tochter zurückkehrte und ihnen die Geschichte erzählte.

»Was für einen amüsanten und witzigen Schwiegersohn werden wir bekommen!«, schloss der alte Herr seine Erzählung und kam nun erst recht ins Lachen hinein.

Clementine ergötzte sich nicht so an diesem originellen Spaß. Sie hätte weniger Witz und mehr Zärtlichkeit vorgezogen.

Jeden Augenblick wurde der spaßige Schwiegersohn zurückerwartet, aber er kam nicht.

Unter ängstlichem Harren war der Tag unterdessen beinahe vergangen und er war noch nicht da.

Es wurde sechs Uhr, dann sieben, dann acht … Man beunruhigte sich zuletzt in allem Ernst, den jungen Mann nicht wiederkommen zu sehen.

Endlich sandte Herr von Vieuville einen Express zu dem Hotel de Richelieu, der die Antwort wiederbrachte: Dass Herr Julius von Cerisy vorgestern gestorben sei, wenige Stunden nach seiner Ankunft, und dass man ihn heute Morgen um zehn Uhr begraben habe.

Drei Monate waren darüber hingegangen, der Lebende kam nicht wieder, der Tote noch weniger.

Die arme Clementine nahm von Tag zu Tag ab, so beunruhigte sie Erinnerung Edwards ihre Tage und quälte ihre Nächte.

Die Familie Vieuville war zu Havre, wo das arme Mädchen Seebäder nehmen sollte, die ihr von der medizinischen Fakultät verordnet waren.

Seebäder, um die Liebeskrankheit zu heilen! Die gute medizinische Fakultät hat einen starken Glauben.

Eines Abends nun, als sie am Hafen spazieren ging, sank das Fräulein Clementine plötzlich in die Arme ihres Vaters und stieß dabei einen jener durchbringenden Schreie aus, die zum Herzen gehen, weil sie vom Herzen kommen.

Das kam daher, weil Edward plötzlich einige Schritte vor ihr wie eine Erscheinung aufleuchtete.

Die Gicht des alten Herrn ruhte sich in der betreffenden Viertelstunde glücklicherweise gerade aus. Er konnte also dem jungen Mann bis in seine Wohnung folgen, trat daselbst zu gleicher Zeit mit ihm ein und bat ihn um eine kurze Unterredung.

Als sie allein waren und einer dem anderen erstaunt und fragend gegenüberstand, wusste keiner, wie er am besten anfange.

Herr von Vieuville brach zuerst das Schweigen und redete Eduard folgendermaßen an: »Wie es scheint, junger Mann, ist Ihre Bestattung ganz gut für Sie abgelaufen?«

Der junge Mann wandte den Blick so fest zur Erde, als wolle er jeden Augenblick in dieselbe versinken. Es gelang ihm kaum, einige unzusammenhängende Worte hervorzustottern.

»Für einen, der so weit herkommt«, fuhr Herr von Vieuville fort, »sehen Sie so leidlich gut aus, gratuliere!«

Endlich gewann der Niedergedonnerte einigermaßen seine Fassung wieder. »Mein Herr«, sprach er, »Sie haben das Recht, mich aufs Härteste anzuklagen; ich habe gegen Sie schweres Unrecht begangen, und dennoch würden Sie mich vielleicht milder beurteilen …«

»Ich wäre wahrhaftig neugierig, zu hören, was Sie zu Ihrer Rechtfertigung vorbringen könnten! Dass Herr Julius von Cerisy wirklich tot ist, dass Sie mit ihm von Marseille nach Paris gereist sind, dass Sie seine Geheimnisse entdeckt, seine Papiere durchstöbert, seinen Platz eingenommen haben … Natürlich habe ich einige dieser Umstände erfahren und die anderen habe ich erraten.«

»Das will ich alles zugeben, aber was Sie nicht haben erraten können, das ist, dass ich in der redlichsten Absicht von der Welt zu Ihnen ging, in der Absicht, was ich für eine heilige Pflicht hielt, zu erfüllen; dass Sie, Ihre Diener und alles im Haus mir nicht die Zeit ließen, dass …«

»Eine schöne Entschuldigung das! Das war doch kein Grund …«

»Nein, Herr von Vieuville, es war kein Grund, um ihr Vertrauen zu täuschen, das gestehe ich zu. Aber es war eine starke Versuchung, die plötzlich an mich herantrat, eine Verführung, der ich momentan unterlag. Wie ich, der Vereinsamte und Verlassene, mich auf einmal in den Schoß einer Familie versetzt sah, die mir mit liebevoller Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegenkam, da hat mich das ungeahnte Glück trunken gemacht und ich habe nicht die Kraft gehabt, den Freudenbecher, der mir winkte, wieder abzusetzen, ohne einmal daran genippt zu haben.«

»Wer sind Sie?«, fragte Herr von Vieuville.

»Ich bin der Sohn des Hauptmanns Berrier. Ich studierte vor vier Jahren Jurisprudenz, als ich das Unglück hatte, meinen Vater zu verlieren. Er hatte kein anderes Vermögen als seine Pension, die natürlich mit ihm zu Ende ging … Was nun tun? Ich war zwar Advokat, aber ich hatte keine Klienten, was bekanntlich wesentlicher ist als der Titel, wenn man von der Advokatur leben will. Ich habe mich mit ungünstigen Verhältnissen lange herumgeschlagen, nur eine Stellung zu gründen gesucht, gekämpft und gerungen – es wollte mir nicht glücken, da wurde ich endlich entmutigt, kurz, ich ging nach Paris, wo ich Hoffnung hatte, in einer Eisenbahnverwaltung untergebracht zu werden … Auf meiner Reise dahin fand ich Gelegenheit, Herrn von Cerisy kennen zu lernen. Das Übrige wissen Sie …«

»Ihre Hoffnung auf eine Anstellung scheint sich nicht erfüllt zu haben, wie es scheint.«

»Ja und nein.«

»Wie? Ja und nein!«

»Das will sagen, dass die Administratoren der fraglichen Eisenbahn mich mit wohlwollendem Lächeln und Versprechungen aller Art abgespeist haben, nur stellte es sich bei all dem zuletzt heraus, dass meine Stiefel bei der Masse von Stiegen und Schritten, welche zu tun waren, zu kurz gekommen wären. Endlich, was blieb mir übrig? Ich habe mich an einen alten Freund meines Vaters, einen Schiffsreeder hier am Ort, gewandt. Das hatte den Erfolg, dass ich Supercargo an Bord eines Handelsschiffes geworden bin und morgen zu den Antillen absegle.«

»Morgen schon!«, rief Herr von Vieuville.

»Mein Gott, ja!«

»Und Sie lassen nichts zurück, was Sie bedauern? Es fesselt Sie gar nichts mehr an Ihre Heimat?«

Julius wurde über und über rot.

»Das ist mein Geheimnis.«

»Und wenn ich Sie inständig bitte, es mir mitzuteilen?«

»Es genüge Ihnen zu wissen, dass mein Vergehen in reichem Maße sich an mir bestraft hat. Ich nehme eine Erinnerung mit mir fort, welche mich vielleicht frühzeitig ins Grab bringt.«

»Bah!«, entgegnete Herr v. Vieuville lachend, »Ihre Art zu sterben, schadet der Gesundheit nicht!«

»Diesmal wird es Ernst werden.«

»So, wirklich? Ei, ei! Das würde mir und meinem Clementinchen recht leidtun! … Wenn sich da nur auf irgendeine Weise vorbeugen ließe!«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts, da Sie entschlossen sind, zu reisen und …«

»O, reden Sie, reden Sie, ich bitte Sie darum!«

»Wenn Sie mir fest versprechen könnten, kein frühzeitiges Grab zu suchen.«

»O, ich fühle wieder neue Lebenskraft in mir!«

»Sind Sie dessen auch gewiss!«

»Ganz gewiss, wenn …«

»Wenn ich Ihnen meine Tochter zur Frau gebe, nicht wahr?«

Die Purpurröte Eduards verwandelte sich plötzlich in Leichenblässe.

»Nun«, fuhr Herr von Vieuville fort, »davon ließe sich ja reden. Da Sie mir mein Kind eigentlich schon genommen haben, so glaube ich fast, werde ich es Ihnen geben müssen … Unter dieser Bedingung kommen Sie also von den Antillen zurück, ohne dort gewesen zu sein!«

Er breitete seine Arme aus und drückte den jungen Mann an seine schwiegerväterliche Brust.«

Wenn nun Eduard nicht zu gleicher Zeit von Marseille abgereist wäre, wie Julius, oder wenn er nur in einen anderen Waggon gestiegen wäre!

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