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Varney, der Vampir – Kapitel 4.2

Thomas Preskett Prest
Varney, der Vampir
oder: Das Blutfest

Ursprünglich als penny dreadful von 1845 bis 1847 veröffentlicht, als es zum ersten Mal in Buchform erschien, ist Varney, der Vampir ein Vorläufer von Vampirgeschichten wie Dracula, die es stark beeinflusst hat.

Kapitel 4.2

Der Tag zog sich hin, und die arme Flora verblieb in einer sehr prekären Situation. Erst gegen Mittag fasste Henry den Entschluss, einen Mediziner zu ihr zu schicken, und ritt in den benachbarten Marktflecken, von dem er wusste, dass dort ein äußerst geschickter Arzt praktizierte. Diesen Herrn wollte Henry unter dem Versprechen der Verschwiegenheit zu seinem Vertrauten machen; aber lange bevor er ihn erreichen konnte, befand er, dass er auf das Versprechen der Verschwiegenheit gut verzichten konnte.

Er hatte nie daran gedacht, so sehr war er mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, dass die Dienerschaft von der ganzen Situation Kenntnis hatte, und dass er von ihnen nicht erwarten konnte, die Geschichte in allen Einzelheiten für sich behalten zu können. Natürlich konnte eine solche Gelegenheit zum Klatsch und Tratsch nicht ausbleiben. Während Henry darüber nachdachte, wie er sich in dieser Angelegenheit besser verhalten sollte, verbreitete sich die Nachricht, dass Flora Bannerworth in der Nacht von einem Vampir heimgesucht worden war – denn die Dienerschaft nannte den Besuch sofort so – in der ganzen Grafschaft.

Als er weiterritt, begegnete Henry einem Herrn zu Pferd, der zur Grafschaft gehörte, und der, sein Ross zügelnd, zu ihm sagte: »Guten Morgen, Mr. Bannerworth.«

»Guten Morgen«, antwortete Henry.

Er wollte weiterreiten, aber der Herr fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige, Sir, aber was ist das für eine seltsame Geschichte über einen Vampir, die in aller Munde ist?«

Henry fiel vor lauter Erstaunen fast vom Pferd. Als er das Tier herumdrehte, fragte er: »In aller Munde?«

»Ja; ich habe es von mindestens einem Dutzend Personen gehört.«

»Sie überraschen mich.«

»Es ist nicht wahr? Natürlich ist man nicht so verrückt, wirklich an einen Vampir zu glauben; aber gibt es denn überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür? Wir finden in der Regel, dass im Grund dieser landläufigen Gerüchten ein Etwas steht, um das sich als Kern das Ganze gebildet hat.«

»Meine Schwester ist unpässlich.«

»Ah, und das ist alles. Nun ist es allerdings zu spät.«

»Wir hatten gestern Abend Besuch.«

»Ein Dieb, nehme ich an?«

»Ja, ja – ich glaube, ein Dieb. Ich glaube, es war ein Dieb, und sie hatte schreckliche Angst.«

»Natürlich, und auf so etwas wird die Geschichte von einem Vampir aufgebauscht; die Spuren seiner Zähne in ihrem Nacken und all die Einzelheiten.«

»Ja, ja.«

»Guten Morgen, Mr. Bannerworth.«

Auch Henry wünschte dem Herrn einen guten Morgen. Sehr verärgert über die Öffentlichkeit, die die Angelegenheit bereits erlangt hatte, gab er seinem Pferd die Sporen, entschlossen, dass er mit niemandem sonst über ein so unangenehmes Thema sprechen würde. Mehrere Versuche wurden unternommen, ihn aufzuhalten, aber er winkte nur mit der Hand und trabte weiter. Er hielt in seinem Tempo nicht inne, bis er die Tür von Mr. Chillingworth erreichte, dem Arzt, den er zu konsultieren beabsichtigte.

Henry wusste, dass er zu dieser Zeit zu Hause sein würde, was auch der Fall war, und bald war er mit dem Mediziner beisammen. Henry bat diesen um Gehör, das ihm gewährt wurde, und erzählte ihm ausführlich, was geschehen war, wobei er nach bestem Wissen und Gewissen keine Einzelheit ausließ.

Als er seine Erzählung beendet hatte, änderte der Doktor mehrmals seine Position und fragte dann: »Das ist alles?«

»Ja – und auch genug.«

»Mehr als genug, würde ich sagen, mein junger Freund. Sie verblüffen mich.«

»Können Sie irgendeine Vermutung zu diesem Thema äußern, Sir?«

»Nicht im Moment. Was ist Ihre eigene Idee?«

»Man kann nicht sagen, dass ich eine darüber habe. Es ist zu absurd, Ihnen zu sagen, dass mein Bruder George von dem Glauben beseelt ist, ein Vampir habe das Haus besucht.«

»Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine überzeugendere Begründung für einen so abscheulichen Aberglauben gehört.«

»Nun, aber Sie können nicht glauben …«

»Was glauben?«

»Dass Tote wieder lebendig werden und so ihre Existenz aufrechterhalten können.«

»Halten Sie mich für einen Narren?«

»Sicherlich nicht.«

»Warum stellen Sie mir dann solche Fragen?«

»Aber die eklatanten Fakten des Falles!«

»Es ist mir egal, wenn sie zehnmal so deutlich wären, ich werde es nicht in Betracht ziehen. Ich würde eher glauben, dass alle verrückt sind, die ganze Familie – dass bei Vollmond alle ein bisschen durchgedreht sind.«

»Und das würde ich auch.«

»Sie gehen jetzt nach Hause, und ich werde in zwei Stunden bei Ihrer Schwester vorbeischauen. Vielleicht taucht noch etwas auf, das ein neues Licht auf dieses seltsame Thema wirft.«

Mit dieser Übereinkunft ritt Henry nach Hause. Er achtete darauf, so schnell wie zuvor zu reiten, um Fragen zu vermeiden, sodass er zu seinem alten Ahnenhaus zurückkam, ohne die unangenehme Tortur durchzumachen, irgendjemandem erklären zu müssen, was den Frieden desselben gestört hatte.

Als Henry nach Hause kam, musste er feststellen, dass der Abend schnell herannahte. Bevor er sich gestatten konnte, an ein anderes Thema zu denken, erkundigte er sich, wie seine verängstigte Schwester die Stunden während seiner Abwesenheit verbracht hatte.

Er stellte fest, dass sich ihr Zustand nur wenig gebessert hatte, und dass sie gelegentlich schlief, dann aber erwachte und unzusammenhängend sprach, als ob der Schock, den sie erlitten hatte, ihre Nerven schwer angegriffen hätte. Er begab sich sofort in ihr Zimmer.

Als er sah, dass sie wach war, beugte er sich über sie und sprach zärtlich zu ihr: »Flora«, sagte er, »liebe Flora, geht es dir jetzt besser?«

»Henry, bist du das?«

»Ja, Liebes.«

»Oh, sag mir, was ist geschehen?«

»Kannst du dich nicht erinnern, Flora?«

»Doch, doch, Henry; aber was war es? Keiner von ihnen will mir sagen, was es war, Henry.«

»Bleib ruhig, Liebes. Zweifellos ein Versuch, das Haus auszurauben.«

»Denkst du das?«

»Ja; das Erkerfenster war für einen solchen Zweck besonders geeignet; aber jetzt, wo du hierher in dieses Zimmer gebracht worden bist, wirst du in Frieden ausruhen können.«

»Ich werde vor Schrecken sterben, Henry. Selbst jetzt starren mich diese Augen so heimtückisch an. Oh, es ist furchtbar, es ist sehr furchtbar, Henry. Hab kein Mitleid mit mir, und niemand soll versprechen, in der Nacht bei mir zu bleiben.«

»In der Tat, Flora, du irrst dich, denn ich beabsichtige, bewaffnet an deinem Bett zu sitzen und dich so vor allem Unheil zu bewahren.«

Sie umklammerte sehnsüchtig seine Hand, als sie sagte: »Das wirst du, Henry. Das wirst du, und es wird dir nicht zu viel Mühe machen, lieber Henry.«

»Es kann keine Mühe sein, Flora.«

»Dann werde ich in Frieden schlafen, denn ich weiß, dass der schreckliche Vampir nicht zu mir kommen kann, wenn du in der Nähe bist …«

»Der was, Flora!«

»Der Vampir, Henry. Es war ein Vampir.«

»Großer Gott, wer hat dir das gesagt?«

»Keiner. Ich habe von ihnen in dem Buch über Reisen in Norwegen gelesen, welches Mr. Marchdale uns allen geliehen hat.«

»Ach, ach!«, stöhnte Henry. »Verwirf, ich bitte dich, einen solchen Gedanken aus deinem Kopf.«

»Können wir Gedanken verwerfen. Welche Macht haben wir, außer der, die wir selbst sind?«

»Gewiss, gewiss. «

»Horch, was ist das für ein Geräusch? Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört. Henry, wenn du gehst, läute zuerst nach jemandem. War da nicht ein Geräusch?«

»Das zufällige Schließen einer Tür, Liebes.«

»War es das?«

»Ja, wirklich.«

»Dann bin ich erleichtert. Henry. Manchmal denke ich, ich liege im Grab und jemand labt sich an meinem Fleisch. Man sagt auch, dass diejenigen, die im Leben von einem Vampir ausgesaugt wurden, selbst zu Vampiren werden und den gleichen schrecklichen Geschmack für Blut haben wie die vor ihnen. Ist das nicht furchtbar?«

»Du zermürbst dich nur selbst mit solchen Gedanken, Flora. Mr. Chillingworth kommt, um dich zu untersuchen.«

»Kann er sich um einen kranken Geist kümmern?«

»Aber deiner ist es nicht, Flora. Dein Geist ist gesund, und so, obwohl seine Macht nicht so weit reicht, werden wir dem Himmel danken, liebe Flora, dass du ihn nicht brauchst.«

Sie seufzte tief, als sie sagte: »Der Himmel helfe mir! Ich weiß es nicht, Henry. Das furchtbare Wesen hält mich an den Haaren fest. Ich muss es ganz loswerden. Ich versuchte, wegzukommen, aber es zerrte mich zurück – eine brutale Sache war das. In dem Moment, Henry, hatte ich das Gefühl, als würde etwas Seltsames in meinem Gehirn vorgehen und ich würde verrückt werden. Ich sah diese glasigen Augen, die sich an die meinen schlossen – ich fühlte einen heißen, verderblichen Atem auf meinem Gesicht … Hilfe … Hilfe!«

»Still! Meine Flora, still! Sieh mich an.«

»Ich bin wieder ruhig. Es biss seine Zähne in meine Kehle. Bin ich in Ohnmacht gefallen?«

»Das bist du, Liebes; aber ich bitte dich, das alles der Einbildung zuzuschreiben; oder wenigstens dem größten Teil davon.«

»Aber du hast es gesehen.«

»Ja …«

»Alle sahen es.

»Wir alle sahen einen Mann – einen Einbrecher – es muss ein Einbrecher gewesen sein. Was ist einfacher, liebe Flora, in dem Wesen einen Einbrecher zu vermuten, eine Verkleidung.

»Wurde etwas gestohlen?«

»Nicht, dass ich wüsste; aber es gab einen Alarm, wie du weißt.«

Flora schüttelte den Kopf, während sie mit leiser Stimme sagte: »Das, was hierher kam, war mehr als nur ein Sterblicher. Oh, Henry, wenn es mich nur getötet hätte, wäre ich zufrieden gewesen; aber ich kann nicht leben – ich höre es jetzt atmen.«

»Sprich von etwas anderem, liebe Flora«, sagte der sehr betrübte Henry. »Du wirst dich noch viel mehr quälen, wenn du dich in diesen seltsamen Fantasien ergehst.«

»Ach, wären es doch nur Hirngespinste!«

»Das sind sie, glaub mir.«

»Es ist eine seltsame Verwirrung in meinem Gehirn, und der Schlaf kommt plötzlich über mich, wenn ich es am wenigsten erwarte. Henry, Henry, was ich war, werde ich nie, nie wieder sein.«

»Sag das nicht. All dies wird wie ein Traum vergehen und eine so schwache Spur in deinem Gedächtnis hinterlassen, dass du dich wundern wirst, dass es jemals einen so tiefen Eindruck auf dein Gemüt gemacht hat.«

»Du sprichst diese Worte aus, Henry«, sagte sie, »aber sie kommen nicht aus deinem Herzen. Ah, nein, nein, nein! Wer kommt?«

Die Tür wurde von Mrs. Bannerworth geöffnet, die sagte: »Ich bin es nur, meine Liebe. Henry, Dr. Chillingworth ist im Esszimmer.«

Henry wandte sich an Flora und meinte: »Du willst ihn sehen, liebe Flora? Du kennst Mr. Chillingworth gut.«

»Ja, Henry, ja, ich möchte ihn sehen, oder wen immer du willst.«

»Führen Sie Mr. Chillingworth hoch«, sagte Henry zum Diener.

In wenigen Augenblicken war der Mediziner im Zimmer und trat sofort an das Bett heran, um mit Flora zu sprechen, deren bleiches Antlitz er mit offensichtlichem Interesse betrachtete, während es gleichzeitig mit einem schmerzlichen Gefühl vermischt zu sein schien -– zumindest zeigte das sein eigenes Gesicht.

»Nun, Miss Bannerworth«, sagte er, »was höre ich da von einem hässlichen Traum, den Sie gehabt haben?«

»Ein Traum?«, sagte Flora, während sie ihre schönen Augen auf sein Gesicht richtete.

»Ja, wie ich hörte.«

Sie erschauderte und schwieg.

»Dann war es also kein Traum?«, fügte Mr. Chillingworth hinzu.

Sie rang die Hände und sagte mit einer Stimme von äußerster Angst und Pathos: »Wäre es doch ein Traum, wäre es doch ein Traum! Oh, wenn mich nur jemand überzeugen könnte, dass es ein Traum war!«

»Nun, werden Sie mir sagen, was es war?«

»Ja, Sir, es war ein Vampir.«

Mr. Chillingworth blickte Henry an, als er auf Floras Worte hin erwiderte: »Ich nehme an, das ist doch ein anderer Name für den Albtraum, Flora?«

»Nein, nein, nein!«

»Glauben Sie denn wirklich an etwas so Absurdes, Miss Bannerworth?«

»Was kann ich schon gegen den Beweis meiner eigenen Sinne sagen?«, antwortete sie. »Ich habe es gesehen, Henry hat es gesehen, George hat es gesehen, Mr. Marchdale, meine Mutter – alle haben es gesehen. Wir konnten nicht alle zur selben Zeit Opfer derselben Täuschung sein.«

»Wie schwach Sie sprechen.«

»Ich bin sehr schwach und krank.«

»In der Tat. Was ist das für eine Wunde an Ihrem Hals?«

Ein wilder Ausdruck kam über das Gesicht von Flora; eine krampfhafte Bewegung der Muskeln, begleitet von einem Schaudern, als ob ein plötzlicher Schauer in ihrem gesamten Blutkreislauf aufgetaucht wäre, trat ein. Sie sagte: »Das ist das Zeichen, das die Zähne des Vampirs hinterlassen haben.«

Das Lächeln auf Mr. Chillingworths Gesicht wirkte gezwungen.

»Ziehen Sie die Jalousie des Fensters hoch, Mr. Henry«, sagte er, »und lassen Sie mich diesen Einstich untersuchen, dem Ihre Schwester eine so außergewöhnliche Bedeutung beimisst.«

 

***

 

Die Jalousie wurde hochgezogen und ein starkes Licht fiel in den Raum. Volle zwei Minuten lang untersuchte Mr. Chillingworth aufmerksam die beiden kleinen Wunden an Floras Hals. Er nahm ein starkes Vergrößerungsglas aus seiner Tasche, betrachtete sie damit und erklärte, nachdem er seine Untersuchung beendet hatte: »Es sind in der Tat sehr geringfügige Wunden.«

»Aber wie sind sie zugefügt worden?«, fragte Henry.

»Von irgendeinem Insekt, würde ich sagen, das wahrscheinlich – es ist die Jahreszeit für viele Insekten – durch das Fenster geflogen ist.«

»Ich kenne das Motiv«, sagte Flora, »das all diese Andeutungen hervorruft, es ist ein gütiges, und ich sollte die Letzte sein, die damit hadert; aber was ich gesehen habe, kann mich nicht dazu bringen, zu glauben, dass ich es nicht gesehen habe, es sei denn, ich bin, wie ich ein- oder zweimal selbst gedacht habe, wirklich verrückt.«

»Wie fühlen Sie sich jetzt in Bezug auf Ihre Gesundheit?«

»Bei Weitem nicht gut. Eine seltsame Schläfrigkeit schleicht sich manchmal über mich. Selbst jetzt fühle ich sie.«

Während sie sprach, ließ sie sich auf die Kissen zurücksinken und schloss mit einem tiefen Seufzer die Augen.

Mr. Chillingworth winkte Henry, mit ihm aus dem Zimmer zu kommen, aber dieser hatte versprochen, bei Flora zu bleiben. Da Mrs. Bannerworth das Zimmer verlassen hatte, weil sie ihre Gefühle nicht kontrollieren konnte, läutete er und bat seine Mutter zu kommen.

Sie tat es, und dann ging Henry zusammen mit dem Arzt, dessen Meinung er nun unbedingt kennen lernen wollte, die Treppe hinunter.

Sobald sie allein in einem altehrwürdigen Raum waren, den man den Eichensaal nannte, wandte sich Henry an Mr. Chillingworth und fragte:

»Was ist nun Ihre ehrliche Meinung, Sir? Sie haben meine Schwester gesehen und diese seltsamen Anzeichen für etwas Unrechtes.«

»Das habe ich. Und um die Wahrheit zu sagen, Mr. Henry, ich bin sehr verwirrt.«

»Das dachte ich mir schon.«

»Es kommt nicht oft vor, dass ein Mediziner zu viel sagt, und es ist auch nicht oft klug, dass er es tut, aber in diesem Fall bin ich zugegebenermaßen sehr verwirrt. Es steht im Widerspruch zu all meinen Vorstellungen über solche Themen.«

»Diese Wunden, was halten Sie von ihnen?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich bin völlig verwirrt, was sie betrifft.«

»Aber sehen sie nicht wirklich aus wie Bisswunden?«

»Doch, das tun sie wirklich.«

»Und insofern sprechen sie tatsächlich für die schreckliche Vermutung, die die arme Flora hegt.«

»Bis zu diesem Punkt sind sie es sicherlich. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass es sich um Bisse handelt, aber wir dürfen nicht vorschnell zu dem Schluss kommen, dass die Zähne, mit denen sie zugefügt wurden, menschlich waren. Es ist ein seltsamer Fall, und ich bin sicher, dass er Ihnen allen viel Unbehagen bereitet, so wie mir auch; aber, wie ich schon sagte, werde ich mein Urteil nicht dem furchtbaren und entwürdigenden Aberglauben überlassen, den alle Umstände, die mit dieser seltsamen Geschichte verbunden sind, zu rechtfertigen scheinen.«

»Es ist ein entwürdigender Aberglaube.«

»Meiner Meinung nach scheint Ihre Schwester unter der Wirkung eines Narkotikums zu stehen.«

»In der Tat!«

»Ja; es sei denn, sie hat wirklich eine Menge Blut verloren, und dieser Verlust hat die Tätigkeit des Herzens so weit herabgesetzt, dass die Schläfrigkeit entstand, unter der sie jetzt offenbar leidet.«

»Ach, wenn ich doch der ersteren Vermutung glauben könnte, aber ich bin überzeugt, dass sie kein Narkotikum genommen hat. Sie könnte es nicht einmal aus Versehen tun, denn es gibt keine Arznei dieser Art im Haus. Außerdem ist sie keineswegs unachtsam. Ich bin sicher, dass sie es nicht getan hat.«

»Dann bin ich ziemlich verblüfft, mein junger Freund, und ich kann nur sagen, dass ich freiwillig die Hälfte meines Vermögens gegeben hätte, um die Gestalt zu treffen, die Sie gestern Abend gesehen haben.«

»Was hätten Sie dann getan?«

»Ich hätte sie um nichts in der Welt aus den Augen verloren.«

»Sie hätten gespürt, wie Ihnen das Blut vor Entsetzen gefriert. Das Gesicht war schrecklich.«

»Und doch hätte ich mich führen lassen, wohin es mir gefiel, ich wäre ihm gefolgt.«

»Ich wünschte, Sie wären hier gewesen.«

»Ich wünschte bei Gott, ich wäre es. Wenn ich auch nur die geringste Aussicht auf einen weiteren Kontakt hätte, würde ich jede Nacht kommen und einen Monat lang geduldig warten.«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Henry. »Ich werde heute Nacht mit meiner Schwester aufbleiben, und ich glaube, unser Freund Mr. Marchdale wird meine Wache mit mir teilen.«

Mr. Chillingworth schien einige Augenblicke lang in Gedanken versunken zu sein, dann richtete er sich plötzlich auf, als sei es ihm entweder unmöglich, zu einem vernünftigen Schluss zu kommen oder, als sei er zu einem gekommen, den er lieber für sich behalten wollte, und sagte:  »Nun gut, wir müssen die Angelegenheit so belassen, wie sie jetzt ist. Die Zeit mag etwas zu ihrer Entwicklung beitragen, aber ich bin noch nie auf ein so offenkundiges Rätsel gestoßen oder auf eine Angelegenheit, in der die menschliche Berechnung so vollständig durchkreuzt wurde.«

»Ich auch nicht – ich auch nicht.«

»Ich werde Ihnen einige Medikamente schicken, die Flora sicher helfen werden. Verlassen Sie sich darauf, dass Sie mich bis morgen früh um zehn Uhr sehen.«

»Sie haben natürlich etwas gehört«, sagte Henry zu dem Doktor, während er sich die Handschuhe anzog, »über Vampire.«

»Ja, das habe ich, und ich weiß, dass der Aberglaube in einigen Ländern, besonders in Norwegen und Schweden, sehr verbreitet ist.«

»Und in der Levante.«

»Ja. Die Gespenster der Mohammedaner sind von der gleichen Art von Wesen. Alles, was ich über den europäischen Vampir gehört habe, hat ihn zu einem Wesen gemacht, das getötet werden kann, aber wieder zum Leben erweckt wird, wenn die Strahlen des Vollmondes auf den Körper fallen.«

»Ja, ja, so viel habe ich gehört.«

»Und dass die grässliche Blutmahlzeit sehr häufig eingenommen werden muss, und dass der Vampir, wenn er sie nicht bekommt, dahinsiecht und das Aussehen eines Menschen im letzten Stadium einer Schwindsucht hat, der sozusagen sichtbar im Sterben liegt.«

»Das ist es, was ich mitbekommen habe.«

»Heute Nacht, wissen Sie, Mr. Bannerworth, ist Vollmond.«

Henry schreckte auf.

»Wenn es Ihnen nun gelungen wäre, ihn zu töten … Pah, was sage ich da. Ich glaube, ich werde närrisch. Der schreckliche Aberglaube fängt an, sich an mir ebenso wie an Ihnen allen festzusetzen. Wie seltsam die Fantasie mit dem Urteilsvermögen auf eine solche Weise Krieg führt.«

»Vollmond«, wiederholte Heinrich, als er zum Fenster blickte, »und die Nacht ist nahe.«

»Verbannen Sie diese Gedanken aus Ihrem Kopf«, sagte der Doktor, »sonst, mein junger Freund, werden Sie entschieden krank werden. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, denn es ist Abend. Ich sehe Sie morgen früh wieder.«

Mr. Chillingworth schien nun darauf bedacht zu sein, zu gehen, und Henry widersetzte sich seiner Abreise nicht mehr; aber als er gegangen war, überkam ihn ein Gefühl großer Einsamkeit.

»Heute Nacht«, wiederholte er, »ist Vollmond. Wie seltsam, dass dieses furchtbare Abenteuer gerade in der Nacht zuvor stattgefunden hat. Es ist sehr seltsam. Lass mich sehen – lass mich sehen.«

Er nahm aus dem Regal einer Bücherkiste das von Flora erwähnte Werk mit dem Titel Reisen in Norwegen, in dem er einen Bericht über den Volksglauben an Vampire fand.

Er schlug das Werk wahllos auf, dann drehten sich einige der Blätter von selbst an einer bestimmten Stelle um, wie es die Blätter eines Buches häufig tun, wenn es an dieser Stelle längere Zeit aufgeschlagen war und sich der Einband dort mehr dehnte als anderswo. An dieser Stelle des Buches befand sich unten auf einer der Seiten eine Notiz, und Henry las wie folgt:

Was diese Vampire betrifft, so glauben diejenigen, die geneigt sind, einem so schrecklichen Aberglauben Gehör zu schenken, dass sie stets bestrebt sind, ihr Blutmahl zur Wiederbelebung ihrer körperlichen Kräfte an einem Abend unmittelbar vor dem Vollmond zu halten, denn wenn ihnen ein Unglück zustößt, zum Beispiel wenn sie erschossen oder anderweitig getötet oder verwundet werden, können sie sich erholen, indem sie sich irgendwo hinlegen, wo die Strahlen des Vollmonds auf sie fallen.

Henry ließ das Buch mit einem Stöhnen und einem Schaudern aus seinen Händen fallen.

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