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Der Detektiv – Die leuchtende Fratze – Teil 6

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die leuchtende Fratze
Teil 2

Es war zwölf – endlich! Ich legte Harst die Hand auf die Schulter. Er war sofort wach.

»Etwas inzwischen geschehen?«, flüsterte er.

»Nein, nichts …«

»Dann dürfen wir es wagen«, meinte er nicht allzu leise. »Irgendjemand ist ja fraglos hier im Schloss gewesen, als die Tür dort irgendwo geöffnet wurde. Der Mensch dürfte sich aber wieder entfernt haben. Vielleicht waren es auch zwei – Vater und Enkel!«

Er kroch unter dem Tisch hervor. Ich folgte. Aber ich folgte ungern. Ich finde heute, wo ich dies niederschreibe, genauso wenig Geschmack an derartigen nächtlichen Gebäudebesichtigungen wie damals.

Auf der Treppe, die aus den Gewölben in eine Art Tempelhalle hinaufführte, bückte Harst sich plötzlich und hob ein winziges Etwas auf, das ihm der Strahlenkegel der kleinen Taschenlampe gezeigt hatte. Was es war, konnte ich nicht unterscheiden. Er steckte den kleinen Gegenstand in die Tasche und schritt weiter.

Wir trugen Leinenschuhe mit dicken Gummisohlen. Dass wir jedes Geräusch vermieden, ist selbstverständlich. Lautloser, als Harst es versteht, Türen zu öffnen und zu schließen, kann es kein Einbrecher. Im Erdgeschoss gab es nichts Bemerkenswertes. Indische Fürstenschlösser kannte ich nun schon zur Genüge. Das Dschemala bot in seiner Inneneinrichtung ganz das Bild einer Art Museum für meine Europäeraugen wie all diese fantastischen Bauten mit ihren seltsamen Möbeln.

Nun ging es in den ersten Stock empor. Eine breite, doppelte Marmortreppe führte aus der Vorhalle in die oberen Gemächer. Die Flure waren sämtlich mit sehr schönen farbenfrohen Läufern aus feinstem Bast belegt. Offenbar ließ der Fürst hier doch wiederholt alles säubern, denn von Staub war nirgends etwas zu erblicken.

Ich hatte längst zu fürchten aufgehört, dass uns hier irgendetwas Unangenehmes zustoßen konnte. Ich ging hinter Harst her, so recht wie einer, der mit seinen Gedanken bereits daheim im bequemen Bett ist.

Das Erwachen aus diesem Zustand von körperlicher und geistiger Abspannung war so blitzartig, dass ich tatsächlich wie gelähmt an der Tür lehnte, die jemand hinter mir zugedrückt hatte, bevor ich es noch tun konnte. Und gleichzeitig war dann auch Harsts Lampe aufgeflammt.

Fast genau in derselben Sekunde ereignete sich aber auch ein Drittes: Von einer altertümlichen, sehr großen Lampe, die erst nachträglich für Petroleum eingerichtet worden war und die einen blutroten Seidenschirm hatte, wurde ein Tuch mit einem Ruck entfernt.

Was ich nun, beleuchtet durch das rötliche Licht und durch den Kegel der Taschenlampe Harsts, gewahrte, erinnerte mich an … ja … an Kinderzeiten, wo ich in einer Rittergeschichte mal eine Schilderung einer Sitzung des Femgerichts gelesen hatte, die auf mich so stark gewirkt hatte, wie später nichts mehr, was ich in Büchern an Geheimnisvollem, Grausigem fand. Jeder wird, wenn er sich nur die Mühe macht, ernsthaft nachzudenken, auf solche Szenen aus Büchern in seinem Gedächtnis stoßen, die sich dem Kindergemüt so fest eingeprägt haben, dass selbst das Erleben und die Lektüre in den reiferen Jahren diese Erinnerung nicht verwischen konnten.

Femgericht! Die heilige Feme. Die Selbsthilfe einer anständig gesinnten Bevölkerung gegenüber Verbrechergesindel war es. Und hier?

Zunächst das äußere Bild: Die rote Lampe stand auf einem langen Tisch. Dieser war mit einer silbern schimmernden Decke verhüllt. Hinter dem Tisch, der links von der Tür schräg ins Zimmer hineinreichte, saßen drei vermummte Gestalten. Ich will hier kein Kapitel aus einem Schauerroman schreiben, sondern ohne jede nervenprickelnde Aufmachung nur die Tatsachen wiedergeben. Die drei Gestalten hatten es sich mit der Vermummung leicht gemacht; sie hatten sich dunkle, farbige, seidene Tischdecken umgenommen, die auch die Köpfe verhüllten. Vor den Gesichtern trugen sie Masken aus geblümter Seide, die offenbar von einem Fenstervorhang stammte.

Die drei Femerichter hatten die Arme aufgestützt und hielten in jeder Hand, die sie gleichfalls mit den Seidendecken vorsichtig verhüllt hatten, einen Revolver, sodass wir uns nun sechs Schusswaffen urplötzlich gegenübersahen.

Ich lehnte wie versteinert an der Tür. Meine Blicke hatten im Bruchteil einer Sekunde dies Bild erfasst und hafteten nun auf Harsts Gestalt, der mir den Rücken zukehrte und in der halb erhobenen Rechten die Taschenlampe so handhabte, dass ihr Lichtschein langsam über die drei Leute dort hinwegglitt.

Ich gebe zu: Nichts hätte mir so schnell meine Ruhe und Besonnenheit wiederverschaffen können, als diese Gelassenheit, mit der Harst den Tisch und die dahinter Sitzenden gemächlich ableuchtete. Ich fühlte, dass mein wilderregter Herzschlag wieder regelmäßiger wurde. Ich dachte sogar blitzartig daran, in die Tasche zu greifen und meinen Revolver zu ziehen.

Da begann der eine der Vermummten schon zu sprechen. Die Stimme war tief und rau. Ohne Zweifel verstellt. Das Englisch aber war tadellos.

»Ich warne Sie beide auch nur die geringste verdächtige Bewegung zu machen«, sagte der Mann mit einer unverkennbar überlegenen Gemütsruhe. »Auf Hilfe haben Sie nicht zu rechnen. Inspektor Shesney ist mit seinen Leuten in die Stadt zurückgekehrt. Das Dschemala ist leer. Nur wir sechs befinden uns hier …«

Sechs? Unwillkürlich blickte ich nun auch nach rechts in die rötliche Dämmerung dieser Seite des großen Gemaches hinein. Dort stand tatsächlich ein vierter Vermummter, der ebenfalls zwei Revolver schussbereit in den Händen hatte.

Auch Harst hatte den Kopf nach rechts gedreht. Dann schaute er wieder den Sprecher an, der der Mittelste der drei am Tisch war, schaltete seine Lampe aus und sagte: »Sie irren sich. Wir sechs sind nicht die Einzigen hier im Dschemala …«

Der Mittelste lachte ironisch auf. »Sie wollen uns einschüchtern! Das wird Ihnen kaum gelingen. Wir haben diese Falle für Sie so sorgsam vorbereitet, Master Harst, dass wir keine Störung irgendwelcher Art zu fürchten brauchen.«

Vor dem Tisch standen zwei geschnitzte Hocker aus Ebenholz mit Elfenbeineinlagen. Der Sprecher befahl uns nun, darauf Platz zu nehmen.

»Jeder Widerstand wäre eine Torheit«, fügte er hinzu. »Wir schießen sofort! Legen Sie beide die Hände flach auf die Schenkel …«

Ich gehorchte. Harst schlug jedoch ein Bein über das andere und faltete die Hände um die Knie. »Sie gestatten«, meinte er. »Ich sitze so bequemer. Was soll nun eigentlich dieser Mummenschanz?«

Ich wunderte mich, dass die Feme diese Eigenmächtigkeit Harsts ungerügt durchließ. Mein Respekt vor den Herrschaften wurde dadurch nicht größer.

»Sie werden sofort hören, um was es sich handelt«, erklärte der Sprecher nach kurzer Pause. »Sie beide haben seit Monaten einen unserer Freunde, den Arzt Doktor Reginald Doogston …«

»Aha!«, machte Harst. »Dachte ich es doch!«

»… Reginald Doogston hartnäckig verfolgt und dadurch, dass Sie sich in seine Angelegenheiten mischten, letztens seinen und seiner Gattin Tod verschuldet.«

»Merkwürdige Auffassung!«, warf Harst ein.

»Mund halten!«, fuhr da der Sprecher auf. »Oder ich sorge dafür, dass er Ihnen gestopft wird! Es ist uns zu Ohren gekommen, dass Sie nunmehr die Absicht haben, dem Freunde Doktor Doogstons, einem gewissen James Palperlon in ähnlicher Weise nachzustellen. Um dies zu verhindern, haben wir beschlossen, Sie beide noch in dieser Nacht gefesselt dorthin zu bringen, wo Sie schon einmal waren: in den Park des Nazar Bagh-Palastes, damit die sechs Tiger des Fürsten Ihnen klarmachen, wie unklug es ist, sich um Dinge zu kümmern, die eine etwas gefährliche Seite haben.«

Harst zuckte die Achseln. »Wie lange soll diese Komödie noch dauern?«, meinte er nun in einem so scharfen, drohenden Ton, dass selbst ich leicht zusammenzuckte. »Sie bilden sich doch nicht etwa ein, dass ich auch nur einen Augenblick darüber im Unklaren sein könnte, was Sie bezwecken! Sie wollen von mir lediglich das feierliche Versprechen erpressen, Palperlon fortan in Ruhe zu lassen. Das ist alles.«

Jetzt erklang vom Femetisch her ein hartes, schneidendes Lachen. Der Mann links von dem Sprecher hatte es ausgestoßen, beugte sich nun zu seinem Nachbar hinüber und flüsterte diesem etwas zu.

Harst saß noch immer mit um die Knie verschlungenen Händen da. Als der Sprecher wieder begann: »Master Harst, Sie werden sehr bald …«

Da ereignete sich das, worauf auch ich nicht im Geringsten vorbereitet war. Harst hatte nämlich mit einem Ruck beide Beine angezogen und stieß mit den Füßen den Tisch mit solcher Kraft um, dass die Lampe im Bogen herabflog und erlosch.

Dann riss er mich zur Seite, zerrte mich zu den Fenstern hin. Ich kam erst halb zur Besinnung, als ich in einer Fensternische hinter einem schweren Vorhang hockte.

In demselben Moment knallten fünf – sechs Schüsse. Glas splitterte. Irgendetwas polterte zu Boden. Dann abermals Schüsse.

Ich sah nichts. Aber ich fühlte Harsts Hand, die meinen Arm umspannte und mich fest in die Ecke drückte.

Den letzten Schüssen folgten Ausrufe der Wut, der Enttäuschung.

»Die Halunken sind ins Nebenzimmer entwischt.«

»Der Schuft hat nur die eingeschaltete Lampe dem Buddha-Standbild in den Schoß gelegt …«

»Ihnen nach! Jetzt wird die Sache kritisch!«

Dieser letzte Ausruf klang so hell und scharf, als sei der, der ihn ausstieß, das Befehlen gewöhnt.

Eine Tür fiel laut ins Schloss. Dann wurde es still ringsum.

»Sie werden nach uns suchen«, flüsterte Harst. »Warte. Ich sperre die Türen ab. Dann müssen wir durchs Fenster. Es kann nicht schwer sein, an der Mauer mit ihren vielen Vorsprüngen hinabzuklettern.«

Er lüftete die übereinander fallenden Vorhänge, huschte hinaus. Wenige Sekunden später aber schon seine laute Stimme: »Schnell, mein Alter, schnell. Die Bande gibt Fersengeld!«

Ich verließ das Versteck. Harst hatte das andere Fenster linker Hand geöffnet. Einige der bleigefassten Scheiben waren offenbar durch Schüsse zertrümmert. Unten auf dem zum Parktor hinlaufenden Weg bemerkte ich im Licht des nun aufgegangenen, fast vollen Mondes vier Männer, die eilig das Weite suchten.

Harst rieb sein Feuerzeug an; die Petroleumlampe, von deren Zylinder nur noch ein kleines Stück erhalten war, brannte nur recht trübe.

Er hob den umgestürzten Tisch auf.

»Ah, sieh da, die vier haben ihre Fememäntel zurückgelassen. Sehen wir nach, ob die seidenen Decken vielleicht …« Er schwieg. Er hatte die eine in den erhobenen Händen ausgebreitet und geschüttelt. Ein blitzender kleiner Gegenstand fiel heraus – eine Krawattennadel, die einen Pferdekopf darstellte. Sie war aus einem Achat künstlerisch geschnitzt. Als Augen waren Türkise eingefügt.

»Ziemlich geschmacklos!«, urteilte Harst. »Für uns aber recht wertvoll. Suchen wir weiter. Vielleicht trug noch ein zweiter der Herren eine Krawattennadel, die in der Decke nachher hängen blieb.«

Wir fanden jedoch nichts mehr. Harst trat nun in den Flur hinaus. Dort lag auf dem Bastläufer seine eingeschaltete, aber nur noch schwach glühende Taschenlampe. Die Batterie war verbraucht.

Harst hatte die Petroleumlampe mitgenommen. Wir stiegen in das zweite Turmstockwerk hinauf. Dieses bildete nur ein einziges quadratisches Gemach. An der einen Wand hing ein kostbarer Spiegel.

»Vor diesem dürfte der Unbekannte Toilette gemacht haben«, meinte Harst befriedigt. »Der Enkel des alten Gärtners hat also nicht gelogen.«

Im Übrigen entdeckten wir auch hier nichts, was darauf hingewiesen hätte, hier könnte jemand längere Zeit heimlich gewohnt haben.

»Was bedeutet dies alles nun eigentlich?«, fragte ich nun, als Harst sich sehr gemütlich eine Zigarette anzündete und auch mir das Etui hinhielt. »Glaubst du, dass einer der vier wirklich Palperlon war?«

»Ja. Und zwar der, der so schneidend auflachte und dann mit dem Sprecher flüsterte. Die Geschichte hier ist doch sonnenklar.« Er hatte sich in einen Armstuhl gesetzt. Er lächelte ein wenig. »Ich werde dir in Gegenwart Shesneys und des Fürsten einen Teil der Geheimnisse des Dschemala und der Vorgänge dieser Nacht erklären. Was noch nicht sonnenklar ist, so zum Beispiel der Zusammenhang des leuchtenden Gesichts mit der Pferdekopfkrawattennadel und dem goldenen Zahnstocher, den ich vorhin hier auf der Kellertreppe gefunden habe. Du besinnst dich, ich hob dort etwas auf, also auch dieser Rest wird sehr bald kein Geheimnis mehr für uns sein. Es ist da fraglos eine große Lumperei im Gange. Ich werde Karl Timoleit … Still! Da knarrte eine Tür!« Er war mit einem Satz an der schweren, geschnitzten Tür des Turmgemachs und drehte den großen, kunstvollen Schlüssel um.

Wir lauschten. Wir hörten sehr bald Stimmen, lautes Rufen.

»Du – dein Name! Es muss Shesney sein!«, flüsterte ich.

Harst schaute mich geistesabwesend an. Dann meinte er langsam: »Es stimmt – Großvater und Enkel! Sehr brav von den beiden!«

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