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Der Detektiv – Die leuchtende Fratze – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die leuchtende Fratze
Lizabet Doogstons Opfer

Teil 4

Ich erwachte erst gegen elf Uhr vormittags. Frau Doogston holte mich dann zum Frühstück in ihr Zimmer hinüber. Ich will über diesen Tag kurz hinweggehen. Ich blieb in unserem Häuschen und die Unterhaltung mit Lizabet Doogston enthüllte mir immer mehr einen Frauencharakter, wie man ihn nicht oft finden wird.

Um halb zehn verließ ich das Häuschen. Es hatte schon vorher sacht zu regnen begonnen. Bei der Siedetemperatur in Baroda konnte man diesen Regen nur freudig begrüßen. Er kühlte die Luft etwas ab. Ich langte bereits eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit bei der Felsenanhöhe an. Auch Shesney stellte sich recht früh mit einem seiner Beamten ein. Die beiden trugen heute die Kleidung der ärmeren Bevölkerung und nicht Uniform. Es war dies auf Harsts Wunsch geschehen, wie der Inspektor mir mitteilte. Weiter erzählte er mir, dass er Harst den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen habe, seit sie sich um neun Uhr früh nach dem Frühstück getrennt hätten.

Harst selbst erschien dann erst kurz vor zehn Uhr. Er hatte gleichfalls Eingeborenentracht angelegt. Er war über und über mit lehmiger Erde beschmutzt und sehr erhitzt.

»Wir können sofort ans Werk gehen«, sagte er nach kurzer Begrüßung. »Die Kerle werden sehr bald wieder Feierabend machen.« Weiter äußerte er sich über seine Absichten nicht.

Wir eilten nun nach Norden zu um die Parkmauer herum, bis wir die Ostseite erreicht hatten. Der Palast erhob sich mit seinen Nebengebäuden nun unmittelbar vor uns. Nur die Mauer und ein Gebüschstreifen von kaum fünf Meter Breite trennte uns davon. Der Hügel fiel hier nach Osten, wie Harst schon erwähnt hatte, ziemlich steil mit seinen lehmigen, harten Wänden ab. Wir mussten mit aller Behutsamkeit abwärts klettern. Dann standen wir – es war infolge des anhaltenden Sprühregens noch dunkler – am Ufer des alten Kanals. Harst schlich nun voran. Wir gingen dicht hintereinander. Der Kanal hatte hier niedrige Ufer, die sanft geneigt und mit Steinen belegt waren. Plötzlich mussten wir uns lang auf den lehmigen Boden legen. Links von uns stieg der Abhang wohl zwanzig Meter empor; rechts befand sich der Kanal. Ich hatte den Platz dicht am Ufer. Und so gewahrte ich denn sehr bald einen Nachen, der halb auf den Steinen der Böschung lag. Nach fünf Minuten bereits stieß mich der neben mir liegende Inspektor an und flüsterte: »Harst wünscht nicht, dass Sie bei der Überrumpelung der drei Kerle mithelfen. Sie sollen nur darauf achtgeben, dass die Burschen nichts ins Wasser werfen.«

Von den folgenden Ereignissen nahm ich nicht viel wahr. Shesney war plötzlich von meiner Seite verschwunden. Dann bemerkte ich links vor mir einige Gestalten, hörte halb unterdrückte Rufe und nun rechts von mir ein platschendes Geräusch im Wasser. Ich schnellte mich sofort vorwärts, sprang in den Kanal hinein, dessen Wasser mir bis zum Gürtel reichte, und erwischte noch glücklich einen Sack, der nur unten ein paar schwerere Gegenstände enthielt.

Dann arbeitete ich mich aus dem schlammigen Kanal wieder heraus und stieß nun an der Böschung auf Harst und die beiden Polizeibeamten, die inzwischen drei Hindu an Händen und Füßen gefesselt hatten. Neben den Gefangenen lag eine längliche Kiste.

Harst öffnete diese, leuchtete mit der elektrischen Taschenlampe hinein und sagte sehr gelassen: »Ganz wie ich es erwartet hatte! Ein Sauerstoffgebläse nebst allem Zubehör zum Schmelzen von Stahlplatten! Die Juwelenkammer des Gaekwar dürfte ausgeräumt sein. Schütte doch mal den Inhalt des Sackes aus, den der Alte wegwarf, Schraut.«

Ich tat es. Heraus fielen ein Dutzend goldene, altertümliche, mit Edelsteinen verzierte Becher, zwei goldene Räucherschalen und noch zehn ebenso kostbare andere Stücke.

»Aha – der Lohn der Helfershelfer!«, meinte Harst. »Nun, sehr glänzend ist dieser Beuteanteil nicht!«

Shesney forderte den Besitzer des Nachens auf, besser sofort ein volles Geständnis abzulegen, um mit einer geringeren Strafe wegzukommen. Der Mann sah seine Sache verloren und gab nun Folgendes an: Vor sechs Tagen sei ein persischer Kaufmann zu ihm gekommen und habe ihn durch Geld und Versprechungen dazu bewogen, bei einem Anschlag gegen die Stahlkammer des Palastes mit seinen Söhnen mitzuhelfen. Er hatte zugesagt und musste nun jeden Morgen kurz vor Tagesanbruch mit seinem Nachen das Sauerstoffgebläse bis hier an den Abhang und weiter dann durch einen bis unter die Gewölbe des Palastes reichenden gemauerten Gang in einen Kellerraum bringen. Der unterirdische Gang war durch Gestrüpp an seiner Mündung am Fuß des Lehmabhangs gut verdeckt und stammte sicherlich noch aus alter Zeit her. Unter Anleitung eines Hindu, der aber ein verkleideter Europäer gewesen war und an der linken Hand nur vier Finger gehabt hatte, mussten die drei Inder dann tagsüber vom Kellerraum aus der Stahlwand der Kammer zu Leibe gehen. Erst kurz vor Dunkelwerden war die Arbeit so weit gediehen, dass sie in die Stahlkammer eindringen und sie ausräumen konnten. Der verkleidete Europäer hatte lediglich die kostbarsten und leichtesten Kleinodien in zwei Koffer gepackt und sie, seine Helfershelfer, dann fortgeschickt. Was aus ihm geworden war, wüssten sie nicht. Der Einbruch in die Stahlkammer musste tagsüber gefördert werden, weil während der Nacht regelmäßig vier Mann von der Leibgarde des Fürsten in den Gewölben patrouillierten. Am Tage waren die Keller nur selten und dann nur von dem neuen Hausmeister betreten worden, der sich aber nie die Mühe gemacht hatte, die Nebenkeller zu durchsuchen. Soweit das Geständnis des alten Spitzbuben. Er und seine Söhne wurden nun in dem Nachen verstaut, den Shesneys Beamter dann allein zur Stadt ruderte, um dort die Verbrecher im Polizeigefängnis abzuliefern.

Harst hatte das Geständnis des alten Hindu nur einmal mit der Frage unterbrochen: »Habt Ihr denn den Perser nochmals zu Gesicht bekommen?«

Worauf der Alte erwidert hatte: »Nein, niemals mehr. Jedenfalls war der Vierfingrige nicht der Perser Sahib!«

Der Nachen mit den Gefangenen war in dem über dem Kanal lagernden Dunkel verschwunden. Harst stand noch immer regungslos da und starrte dem Boot anscheinend in tiefes Nachdenken verloren geistesabwesend nach.

Shesney wurde ungeduldig. »Was fehlt Ihnen, Harst? Sie machen ein Gesicht als ob …

»… als ob die Sache schief gehen wird«, vollendete Harst. »Vorwärts, versuchen wir einzurenken, was noch einzurenken ist. Niemals hätte ich vermutet, das Palperlon so unverfroren sein könnte, sich dort zu verbergen. Ich habe ihn wie eine Stecknadel hier gesucht. Dass er in Baroda sein müsste, nahm ich als bestimmt an. Aber dass er sich im Nazar Bagh-Palast eingenistet hätte, damit habe ich nicht gerechnet.«

Er eilte uns voran. Sobald wir die Höhe des Hügels erreicht hatten, ging es im Trab weiter. Harst war stets einige zwanzig Schritt voraus. Shesney keuchte neben mir her.

»Master Schraut, was meinte er nur mit diesem sich eingenistet haben?«, fragte er.

»Keine Ahnung!«

Wir bogen nun auf den freien Platz vor dem großen, schmiedeeisernen Parktor ein.

Plötzlich Harsts laute Stimme: »Hierher! Schraut, den Weg ihnen abschneiden!«

Ich sah undeutlich einen der plumpen, zweiräderigen Lastwagen, die zumeist nur mit einem Pferd oder einem Kamel in Nordindien bespannt sind. Hier war ein Kamel das Zugtier. Der Wagen kam vom Parktor her, fuhr nun immer schneller. Ich raste nach links hinüber. Ich hatte wenig Hoffnung, der beiden Kerle, die oben in dem Wagenkasten hockten, noch habhaft zu werden.

»Schießen!«, brüllte Harst wieder.

Shesney war nun neben mir, kam mir zuvor. Ich hätte bei diesem Licht und auf solche Entfernung mit dem Revolver wohl auch kaum getroffen.

Der Inspektor feuerte im Laufen. Nach dem dritten Schuss machte das Kamel einen wilden Satz nach vorn.

Dann war der Wagen in dem stärker fallenden Regen außer Sicht.

Harst hatte uns erreicht, trabte gleichmäßig weiter, indem er rief: »Das Tier ist getroffen …«

Wir folgten nun der Hauptstraße zur Stadt zu. Eine Polizeipatrouille kam uns nach etwa vier Minuten entgegen. Die Leute hatten keinen Lastwagen bemerkt.

Mit keuchender Brust berieten wir.

»Die Kerle müssen links in das Eingeborenenviertel eingebogen sein«, meinte Shesney. »Dort haben sie die meiste Aussicht, in den winkligen Gässchen zu entschlüpfen.«

Die Polizeipatrouille – drei Mann – half suchen. Zehn Minuten später war der Wagen gefunden. Leer natürlich. Das Kamel gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich. Es lag noch eingespannt quer über einer engen, dunklen Gasse.

Harst sprach nun so gut wie nichts. Ich merkte ihm an, dass er sehr unzufrieden mit sich war.

»Wo befinden wir uns hier etwa?«, fragte er den Inspektor dann.

»Hm«, meinte Shesney, »dort links muss der alte Kanal liegen.«

»Vielleicht haben die beiden im Haus des Nachenbesitzers Zuflucht gesucht«, sagte Harst etwas lebhafter. »Sie haben ja die beiden Koffer mit den Juwelen bei sich. Damit kommen sie zu Fuß nicht weit …«

Das Grundstück des alten Verbrechers, das links an das Laki Sing Daus grenzte, wurde mithilfe schnell herbeigeholter Polizeiverstärkung umstellt. Harst leitete die Durchsuchung und entdeckte auch einen Geheimkeller, der mit Diebesgut bis oben gefüllt war. Nur die Flüchtlinge fand er nicht.

Inzwischen hatte Shesney nicht nur die ganze Polizeimacht, sondern auch die Leibgarde des Fürsten alarmiert. Mit Autos, Fahrrädern, zu Pferd wurde die Stadt und die Umgebung abgesucht. Harst, Shesney und ich saßen auf der Polizeiwache des Eingeborenenviertels und warteten auf irgendeine günstige Meldung. Harst war niedergeschlagen. Ein Beamter brachte nun vom Nazar Bagh-Palast die Nachricht mit, dass die vier Wachen, die in dieser Nacht dort Dienst gehabt hätten, offenbar durch ein Schlafmittel betäubt in dem vordersten Gewölbe lägen.

Harst begann nun endlich, Shesney und mir zu erklären, weshalb er so gedrückter Stimmung sei.

»Sie sollen jetzt alles wissen«, meinte er. »Ich habe hier eine böse Schlappe erlitten, und hoffte doch, Palperlon für immer unschädlich zu machen und Doktor Doogston dann mithilfe seiner Frau bewegen zu können, zunächst ein Sanatorium aufzusuchen, bis die Untersuchung der Warbatty-Angelegenheit beendet sei. Seine Unschuld ist klar erwiesen – jetzt schon! Es ist anders gekommen, durch meine Schuld. Sie werden bald verstehen, welchen Fehler ich gemacht habe. Als die Leiche Schan Beras mit den Schlüsseln neben sich aufgefunden worden war und ich sofort dabei an einen gewaltsamen Tod des Alten gedacht hatte, war mir auch gleichzeitig der Gedanke gekommen, dieser von mir geargwöhnte Mord könnte vielleicht die Einleitung zu einem gegen die Familienschätze des Gaekwar geplanten Anschlag sein. Dieser Verdacht bestimmte mich, den Palast wiederholt zu umkreisen und mir seine Lage, Bauart und den ihn umgebenden Park aus der Ferne genauer anzusehen. Hierbei stieß ich nun auf Spuren von menschlichen Füßen an jenem Ostabhang der Anhöhe unweit eines Dickichts. Die Spuren schienen mitten in die Dornen hineinzuführen. Kurz: Ich fand den alten Gang, der bis unter die Gewölbe des Palastes führt. Ich drang auch ein, aber eine starke, kleine Eisentür gebot mir dann bald Halt. Mein Verdacht war nun noch reger geworden. Neben dem toten Pförtner hatten doch die Schlüssel gelegen! Von diesen Schlüsseln hatten die Mörder Wachsabdrücke nehmen und sich so Nachschlüssel anfertigen können – auch zu dieser kleinen Eisentür! Die Folge dieser Überlegungen war dann eine nächtliche Wache am Abhang, die mit jener Schwimmtour im Kanal endete, bei der wir – Schraut und ich – ein unerwartetes Wiedersehen feierten. Bis dahin hatte ich auch Doogstons Schlupfwinkel nicht gekannt. Nun kannte ich ihn: Er hielt sich, als ärmlicher Hindu verkleidet, bei dem Nachenbesitzer auf. Das wusste ich nun. Aber wo steckte Doogstons böser Geist, wo steckte Palperlon? Und hier versagte meine Detektivkunst diesmal! Hier beging ich den Fehler, mich nicht um Schan Beras Nachfolger zu kümmern, der ja ein älterer Engländer namens Singkins sein sollte! Dieser Singkins ist fraglos der Perser, fraglos Palperlon gewesen! Der Beamte, der uns die Auffindung der vier betäubten Wachen in den Gewölben des Nazar Bagh meldete, erwähnte ja auch, dass der neue Pförtner verschwunden sei, worauf Sie beide nicht recht geachtet haben! Die Flüchtlinge im Kamelwagen waren Doogston-Warbatty und Palperlon. Ich fürchte nur zu sehr, dass Palperlons überlegene Schlauheit des ganzen Verfolgeraufgebots spotten wird.«

Er stand auf. »Das Warten hier hat keinen Zweck. Wir könnten uns eigentlich einmal die aufgebrochene Stahlkammer ansehen.« Er wollte noch mehr hinzufügen. Die Zimmertür öffnete sich jedoch und ein Beamter schob einen bärtigen, buckligen, kleinen Inder ins Zimmer, der dann sofort auf Shesney förmlich zuschoss, vor ihm mehrmals sehr unterwürfig dienerte und mit offenbar vor Angst schlotternder Kinnlade hervorstieß: »Sahib Inspektor, Diebe, Einbrecher, Mörder …«

Er hielt plötzlich inne, schaute zu uns beiden hin und meinte: »Sahib Shesney, darf ich offen sprechen?«

»Gewiss, Laki Sing Dau, das darfst du. Die beiden verkleideten Sahibs sind meine Freunde, und der kleinere ist der, den die Mem Sahib Doogston ebenfalls in dem Häuschen untergebracht hat.«

So lernte ich meinen Hauswirt, den wackeren Turbanmacher kennen. Sehr wahrscheinlich hätte Shesney noch eine geraume Weile gebraucht, bis dieser kleine Angstmeier von Laki Sing Dau erklärt haben würde, weshalb er vorhin von Dieben, Einbrechern und Mördern gesprochen habe.

Harst mischte sich jedoch ein und fragte den Zwerg: »Hast du Fremde auf deinem Grundstück gesehen oder verdächtige Geräusche gehört?«

Dies kürzte die Sache wesentlich ab, denn der Kleine erwiderte prompt: »Schüsse habe ich gehört – im Nebenhaus, das doch auch mein ist, – dort wo die Mem Sahib Doogston …«

Harst rief schon dazwischen: »Wann und wie viele Schüsse?«

»Vor einer halben Stunde. Und zwei Schüsse waren es. Ich musste mich erst ankleiden, bevor ich …«

Harst winkte uns schon zu. »Vorwärts! Ich ahne Furchtbares …«

Shesney und ich hasteten hinter Harst her. Der Inspektor hatte Laki Sing noch schnell den Haustürschlüssel abverlangt. Nun standen wir drei lauschend im Flur des Nachbarhäuschens vor Frau Doogstons Zimmertür. Harst hatte kräftig angeklopft. Als sich drinnen nichts regte, riss er die Tür auf – die Petroleumlampe brannte auf dem Mitteltisch. An diesem Tisch saß ein ärmlicher Hindu, der die Arme auf die Tischplatte gelegt und das Gesicht darin vergraben hatte. Es war Doktor Reginald Doogston, denn an der linken Hand fehlte der Zeigefinger. Rechts von ihm standen auf dem Fußboden übereinander zwei neue, mittelgroße Rohrplattenkoffer.

Harst, der leise auf den Tisch zugeschritten war, stutzte plötzlich, hob nun den Arm und deutete auf das an der Rückwand stehende Bett, auf dessen dunkler Decke eine Traumgestalt lag, deren weißes, von einer Fülle kastanienbraunen Haares umrahmtes Gesicht uns nun im Lichtschein der Lampe, die ich schnell vom Tisch genommen hatte, ein friedlich stilles Lächeln zeigte. In der uns zugekehrten linken Schläfe aber befand sich ein dunkler, blutiger Fleck – eine Einschussöffnung. Eine Waffe war nirgends zu erblicken.

Der Mann am Tisch regte sich noch immer nicht. Harst legte ihm nun die Hand auf die Schulter. »Doktor Doogston!«, sagte er laut.

Ein gurgelndes Röcheln war die Antwort. Da richteten Harst und Shesney ihn auf. Und nun erst gewahrten wir, dass der schmutzige Kittel Doogstons auf der Brust völlig in Blut schwamm.

Wir legten den Ohnmächtigen auf den Fußboden und schoben ihm eine Decke unter den Kopf. Eine Kugel war ihm über dem Herzen in die Brust eingedrungen und hatte diese quer durchschlagen. Harst gelang es, den Sterbenden nochmals ins Bewusstsein zurückzurufen. Reginald Doogston schlug die Augen auf. Sein ernster, klarer Blick wanderte langsam über uns hin, blieb auf Harst schließlich haften.

»Ich erkenne Sie«, sagte er leise, während ein feiner Blutfaden aus dem einen Mundwinkel das Kinn hinablief. »Sie sind Harald Harst. Dieser Teufel von Palperlon hat jetzt keine Gewalt mehr über meine Seele …«

Shesney hatte in einem Schranke ein Fläschchen Kognak gefunden. Doogston trank gierig. Dankbar nickte er dem Inspektor zu.

»Ich will wenigstens noch die Kraft haben, Ihnen den Ausgang dieser meiner Lebenstragödie zu schildern«, begann er dann wieder. »Vielleicht sind mir diese Minuten noch gewährt. Mein Geist ist völlig klar. Ich bin selbst Arzt und habe mich viel mit hypnotischen Experimenten beschäftigt. Palperlon hatte allmählich eine solche Macht über mich gewonnen, dass es ihm gelang, mich gleichsam in ein anderes Wesen zu verwandeln. Ich lebte zwei Leben. Nur selten geschah es, dass Doktor Doogston undeutlich empfand, noch als andere Persönlichkeit aufzutreten. Die Wissenschaft kennt solche Fälle eines förmlichen Doppellebens infolge Suggestion. Dann hatte der Hypnotiseur stets seinen Einfluss auf das Medium derart gesteigert, dass dieses einen eigenen Willen überhaupt nicht mehr besaß und jeder Befehl so genau ausgeführt wurde, als handle der Hypnotiseur selbst. Hier in Baroda musste ich den Hausmeister des Palastes ermorden, damit Palperlon dessen Stelle erhielt. Er hatte dies so vortrefflich schon seit Monaten vorbereitet, dass es auch vollkommen gelang. Er war überzeugt, Sie, Herr Harst, wüssten nichts von diesen Vorbereitungen für die Ausraubung der Stahlkammer, wüssten auch nicht, dass er im Nazar Bagh nun den Hausmeister spiele. Es beunruhigte ihn nur, dass er Sie hier in Baroda nicht entdecken konnte. Dann schickte ihm einer seiner Spione aus Bombay einen Film, den er Ihnen gestohlen hatte. In den Film waren nachträglich Worte eingekratzt. So erfuhr Palperlon, dass Lizabet in diesem Haus weilte. Er verschwieg es mir aber bis heute. Er hoffte, Sie durch Lizabet hier ausfindig zu machen …«

Blutiger Schaum trat ihm vor den Mund. Er verstummte für eine Weile. Harst kniete nun neben ihm, säuberte ihm mit einem feuchten Tuch die Lippen. Gewiss ein Bild von erschütternder Tragik: Harst, der seinem Gegner Warbatty die letzten Liebesdienste erwies!

»Ich war wieder nur Warbatty«, begann er noch leiser, »war also völlig nur das von Palperlons Willen abhängige Geschöpf, als Sie uns vor dem Eingang des Nazar Bagh überraschten und unser Zugtier den tödlichen Schuss erhielt. Palperlon erkannte, dass wir verloren waren oder die Beute preisgeben mussten, um ohne die Koffer die Flucht fortzusetzen. Da dachte er an Lizabet, da erst erklärte er mir, dass meine Frau sich hier befand. Durch die Nachbarhöfe drangen wir unbemerkt in dieses Häuschen ein. Lizabet war noch wach und angekleidet. Bevor wir eintraten, erteilte Palperlon mir den Befehl, diese Frau Lizabet Doogston zu bitten, uns bei sich zu verbergen. Für mich, für Cecil Warbatty, war Lizabet nichts als ein weibliches Wesen, das mich nichts weiter anging. Ich muss mich kürzer fassen; meine Kräfte schwinden – Lizabet hat dann Palperlon mit dem Revolver dazu gezwungen, mich aus dem hypnotischen Zustand zu erwecken. Palperlon musste gehorchen. Er sah Lizabet wohl an, dass sie ihn sonst erbarmungslos niedergeschossen hätte. Aber heimtückisch wie immer verstand er dann blitzschnell seine eigene Waffe zu ziehen. Er führte eine Mehrladepistole von großer Durchschlagskraft bei sich. Im letzten Moment bemerkte ich, dass er auf Lizabet anschlug, warf mich dazwischen. So streckte die eine Kugel uns beide nieder. Aber im Sturz bekam ich Lizabets Waffe noch in die Hand, feuerte auf Palperlon, muss auch getroffen haben. Er taumelte rückwärts. Und da hörten wir durch die Wand vom Nebenhaus her ein gellendes Geschrei. Es verstummte schnell. Aber es genügte, Palperlon zu verscheuchen. Er floh. Mit letzter Kraft schleppte ich Lizabet dort auf das Bett. Noch einmal öffnete sie die Augen. Unsere Lippen fanden sich in einem langen Kuss letzter Zärtlichkeit. So starb sie. Ich aber wollte hier am Tisch noch ein Geständnis niederschreiben über diese Vorgänge. Ich verlor aber das Bewusstsein.« Die Hand des Sterbenden suchte die Harald Harsts.

»Nur … ein … Mensch … kann meine … arme Frau … und mich … an … diesem … Satan … von Palperlon rächen, … nur Sie, Harst, … nur Sie! Versprechen … Sie mir …« Seine Stimme erlosch. Die Lippen zuckten nur noch. Aber die Augen Reginald Doogstons ruhten mit forschendem Ausdruck in denen Harsts, schienen eine Antwort zu erflehen.

»Ihre Frau und Sie sollen gerächt werden!«, sagte Harst langsam und feierlich.

Doktor Doogstons Augen leuchteten auf. Seine Blicke schienen Harst zu danken. Dann reckte er sich noch einmal krampfhaft – und war tot.

Am Morgen nach dieser Nacht erinnerte Harst sich an das Päckchen, das mir der Kellner auf dem Theseus ausgehändigt hatte. Er öffnete es mit aller Vorsicht. Es enthielt jedoch nur einen in einer flachen Pappschachtel liegenden Zettel, auf dem in einer sehr steilen, großen, schmucklosen Handschrift zu lesen war: Hüte dich! Ich bin stets um dich!«

»Das dürfte eine Drohung Palperlons sein«, meinte Harst. »Seine erste, an mich gerichtete Äußerung. Nun gut, James Palperlon, ich erwidere dir: Hüte dich! Ich bin stets um dich!«

Der Kampf gegen Cecil Warbatty war beendet. Es begann der neue Kampf. Palperlon musste unschädlich gemacht werden. Etwa gleichzeitig mit diesem Vergeltungsfeldzug gegen Warbattys bösen Dämon fing auch Harsts die ganze kultivierte Welt in Spannung haltender Wettstreit mit seinem geheimnisvollen Konkurrenten Lihin Omen an. Es kam jene Zeit, in der wir bald in den Sandwüsten Nordmexikos, bald an den eisstarrenden Küsten Grönlands, bald in dem sonnigen Algerien, dann wieder in den schneesturmdurchtosten Hochtälern Tibets uns befanden. Ich werde die Abenteuer gleichfalls nach meinen Aufzeichnungen der Reihe nach schildern, und ich glaube schon jetzt versprechen zu können, dass auch diese Kämpfe zwischen Harsts hochentwickelter Intelligenz gegen verbrecherische Schlauheit und gegen neidvolle Fallstricke meine Leser nicht langweilen werden.

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