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Der Detektiv – Die leuchtende Fratze – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die leuchtende Fratze
Lizabet Doogstons Opfer

Teil 2

Im Erdgeschoss lag des Turbankünstlers Laden. Die Tür war verschlossen und einen zweiten Eingang gab es nicht. Während ich noch gegen die Tür hämmerte, vernahm ich auf dem Kanal eilige Ruderschläge und das Quietschen von hölzernen Ruderdollen. Ich schaute mich um und gewahrte eines der flachen, indischen Flussboote, die meist sehr leicht gebaut sind und sich ebenso leicht fortbewegen lassen. Da das Boot auf die Uferstelle gegenüber dem Hause Daus zusteuerte, erschien es mir ratsam, mich zunächst ruhig zu verhalten. Zu meinem Erstaunen war der schmale Nachen dann jedoch urplötzlich verschwunden. Er konnte nur, da die Kanalböschung senkrecht etwa zwei Meter tief bis zum Wasserspiegel abfiel und mit Balken verkleidet war, in eine Wasserpforte in eine unter der Straße entlangführende Abzweigung eingebogen sein.

Ich hatte vor der Haustür im Schatten eines verandaähnlichen Vorbaus gestanden. Man konnte mich kaum bemerkt haben. Dies machte mir Mut, so etwas auf eigene Faust dem Boot nachzuspüren. Das Holzgestell mit meinen zwei Warenballen, das ich auf dem Rücken trug, stellte ich nun in eine Ecke des Vorbaus und schlich zu dem Kanal hinüber, legte mich lang hin und versuchte etwas von der Wasserpforte zu erspähen. Es war jedoch so dunkel, dass ich nichts als eine fortlaufende Reihe dicker Balken undeutlich erkannte.

Ich wollte mich gerade wieder aufrichten, als dicht vor mir von der Oberfläche des Kanals eine Stimme leise rief: »Verschwinde gefälligst, lieber Alter. Du bist im Begriff, die Geschichte hier gründlich zu verderben. Mach, dass du ins Haus kommst. Links an der Wand neben der Tür ist ein Glockenzug in den Ranken der Kletterrosen …«

Harst! Aber nur sein Kopf ragte über das übelriechende Wasser hinaus, wurde nun auch schnell undeutlicher und tauchte in der Dunkelheit des jenseitigen Ufers unter.

Gleich darauf hatte ich den Griff der Zugglocke gefunden, und kaum drei Minuten nach dem ersten Läuten tat sich lautlos die Tür auf und eine Stimme flüsterte aus der Finsternis des Flurs heraus: »Schnell, treten Sie ein!«

Das war ein Englisch, wie es nur jemand spricht, der es jahrelang Tag für Tag als Umgangssprache benutzte; und das war eine Stimme, die nur einer Frau gehören konnte. Ich tippte auf Lizabet Doogston.

Ich holte mein Händlertraggestell und ging in das Haus hinein. Ich stand in tiefstem Dunkel, hörte das Rauschen von Frauengewändern und das Zuschnappen eines Schlosses. Dann wurde von einer Petroleumlaterne ein Tuch entfernt. Der rötliche Lichtschein glitt über mich hinweg und die Trägerin der Laterne flüsterte: »Kommen Sie, Master Schraut …«

Ich folgte der Frau. Es war Lizabet Doogston, die unglückliche Gattin des Mannes, den wir seit Monaten als Cecil Warbatty so hartnäckig verfolgt hatten. Durch den Laden und die dahinter liegende Werkstatt ging es über einen kleinen Hof in eine Art Schuppen aus Brettern und luftgetrockneten Lehmziegeln. In dieser elenden Bude hingen an Schnüren lange feuchte Tücher. Laki Sing Dau färbte sein Arbeitsmaterial selbst, wie ich später erfuhr. An der Rückwand des Schuppens standen Kisten und Körbe. Mistress Doogston klemmte sich zwischen diesen und der Wand hindurch, öffnete eine hier verborgene kleine Brettertür und führte mich so in den Hof des Nachbargrundstücks und dann in ein verfallenes Häuschen, das unbewohnt zu sein schien. Ich war daher recht überrascht, als sie mich nun im Erdgeschoss linker Hand in ein Zimmer einließ, das ganz wohnlich hergerichtet war. Eine große Petroleumlampe brannte auf einem sauber gedeckten Tisch, auf dem allerlei kalte Speisen standen.

»Hier sind wir sicher«, sagte Frau Doogston müde und ließ sich in einen Korbstuhl fallen. »Entschuldigen Sie, Master Schraut, ich kann mich aber kaum mehr auf den Füßen halten. Machen Sie es sich bitte bequem. Dort steht auch Ihr Abendbrot bereit. Langen Sie zu. Ich wusste, dass ich Sie um diese Zeit erwarten durfte. Herr Harst hatte es mir signalisiert …«

Die Ärmste sah entsetzlich verfallen aus. In Amritsar war sie noch eine leidlich blühende Frau gewesen. Nun machte sie einen greisenhaften Eindruck.

»Mrs. Doogston«, sagte ich nun und reichte ihr mitfühlend die Hand, »haben Sie denn inzwischen so Schreckliches erlebt, dass …«

Sie hatte qualvoll aufgeseufzt. »Ja, ja«, rief sie leise und rang verzweifelt die Hände. »Grauenhafte Tage und Nächte der Angst und Sorge liegen hinter mir. Ich bin am Rande meiner Kräfte. Es muss ein Ende werden mit alledem – so oder so!«

»Was ist denn geschehen?«, fragte ich vollständig verwirrt von diesem jammervollen Aufschrei einer gepeinigten Frauenseele und den mir unverständlichen Andeutungen.

»Wie, Sie wissen nichts?« Ich sah den Unglauben in ihren weiten, krankhaft schillernden Augen.

»Nein – nichts. Harst tat in Bombay so, als ob er nichts mehr für Sie oder gegen James Palperlon unternehmen wollte«, erwiderte ich etwas kleinlaut, denn ich schämte mich geradezu, eingestehen zu müssen, dass Harst mich so wenig eingeweiht hatte.

Frau Doogston schüttelte nun den Kopf. »Wie unverständlich ist doch Ihres Freundes Tun und Lassen!«, meinte sie trübe und nachdenklich. »Und – wie ist es überhaupt möglich, dass er vor Ihnen verheimlichen konnte, was er inzwischen abermals in aufopferndster Weise in meinem Interesse …«

Sie schwieg plötzlich. Ihr Blick war auf ihre Armbanduhr gerichtet.

»Oh«, rief sie, »beinahe hätte ich die Zeit verpasst. Bitte begleiten Sie mich, Master Schraut. Vielleicht hat Harst auch für Sie besondere Befehle bereit.«

Sie nahm die Laterne, führte mich auf das flache Dach des Häuschens. Die Dachluke war offen gewesen. Der Deckel lag daneben. Es war nun heller geworden. Der Mond stand als fast in voller Scheibe am nächtlichen Firmament, hatte aber einen dünnen Dunstschleier. Um uns herum träumte die armselige Eingeborenenstadt in friedlicher Ruhe. Nur hin und wieder kläfften ein paar Hunde; zuweilen hörten wir auch das Rollen von Eisenbahnwagen und das Pfeifen der Lokomotiven vom Bahnhof herüberschallen.

Frau Doogston wies auf ein etwas höheres, mindestens 200 Meter abliegendes Gebäude.

»Geben Sie Acht«, meinte sie leise. »Von dort her kommen die Lichtsignale.«

Gleich darauf blitzte drüben ein strahlend heller Punkt auf. Frau Doogston hielt schon Papier und Bleistift bereit, notierte nun durch Punkte und Striche die Aufeinanderfolge der langen und kurzen Lichtzeichen. Dann waren wir wieder unten in dem bescheidenen Zimmer. Ich half, die Buchstaben des Morsealphabets ins Englische zu übertragen. Bald war die Arbeit erledigt. Harsts Nachricht lautete: Mut! Zuversicht! Und Geduld! Schraut soll um 2 Uhr morgens an der Westecke der Parkmauer des Nazar Bagh-Palastes sein.

Ich hatte mich bereits vorher über die Sehenswürdigkeiten Barodas aus einem Reisehandbuch genügend unterrichtet. Der Nazar Bagh-Palast liegt hinter dem Schloss des Fürsten auf einer Anhöhe neben der großen Arena für Tier- und Athletenwettkämpfe. Er wird nun nur noch als Schatzkammer der Juwelen der Fürstenfamilie benutzt, deren Wert auf 70 Millionen Mark geschätzt ist. Auch dies hatte mir das Reisehandbuch verraten.

Da es mittlerweile halb eins geworden, zwang Frau Doogston mich nun, noch ein paar Bissen zu mir zu nehmen. Dann geleitete sie mich wieder durch das Grundstück des Turbanmachers auf die Straße, drückte mir nochmals stumm die Hand und kehrte in das baufällige Häuschen zurück.

Die Straße war völlig menschenleer. Trotzdem hielt ich den gespannten Revolver jeden Augenblick bereit. Mir begegneten auch ein paar zweifelhafte Gestalten, die mich jedoch nicht weiter belästigten. Der Hindu hat vor jedem Araber Respekt, fürchtet dessen rücksichtslose Selbstverteidigung. Diese Beobachtung kann man überall in den Hafenplätzen der Westküste Vorderindiens machen.

Sich zu dem Palast durchzufinden, war leicht. Er überragt die ganze, sonst völlig ebene Stadt. Zweimal kamen mir Polizeipatrouillen entgegen. Ich verbarg mich vor ihnen in tiefen Torbögen. Die Polizei in Baroda wird von den Engländern geleitet. Bezahlen muss sie der Gaekwar (Fürst; wörtlich übersetzt heißt Gaekwar seltsamerweise Kuhhirt. Freilich sind in dem Staat Baroda mit seiner hochentwickelten Viehzucht die Kuhhirten seit Jahrhunderten nur Brahmanen, also Zugehörige der vornehmsten Kaste). Als ich dann durch die Anlagen vor dem Schloss nach links abbog, glaubte ich hinter mir auf der frisch gewalzten Straße Schritte zu hören. Ich konnte jedoch nichts Verdächtiges bemerken und setzte mich in Trab, trat nur ganz leise auf und kam etwas atemlos schließlich an der Westecke der weißgestrichenen sehr hohen Steinmauer an, blieb aber vorsichtshalber hinter einem starken Fächerpalmenstamm stehen und beobachtete erst eine Weile die Umgebung, bevor ich auf die Mauerecke zuschritt. Dort wuchsen ein paar jener so überaus stark duftenden, fliederähnlichen Sträucher, die der Inder sehr poetisch Finger des Indra nennt. Ich hätte mir in unmittelbarer Nähe dieser niederen Büsche unfehlbar in Kurzem starke Kopfschmerzen geholt und zog es daher vor, sechs Meter weiter nach Süden mich am Fuß der weißen, sehr hohen Mauer niederzusetzen.

Kaum hatte ich diesen Platz eingenommen, als auch schon über mir eine wohlbekannte Stimme halblaut ertönte: »Gut, dass du da bist. Richte dich auf. Dann kann ich auf deine Schultern steigen.«

Harst schwang sich nun von der Mauerkrone gewandt herab; stand vor mir, reichte mir die Hand.

»’n Abend, mein Alter. Du hast dich bewährt«, sagte er freundlich, aber sehr ernst. »Die Vexierfotografien zu entziffern, war nicht ganz leicht. Ich rechnete damit, dass du hinter diesen Trick kommen würdest. Frage jetzt nichts. Wir haben noch viel zu erledigen. Vorwärts!«

Er schritt voran, bog um die Mauerecke und folgte der Mauer nach Nordost zu. Er trug die gelbe Leinenuniform eines der Polizisten des Gaekwar, dazu einen martialischen schwarzen Schnurrbart und einen langen schmal geschnittenen Vollbart. Etwa achtzig Schritte von der Mauerecke entfernt sprang die Mauer rechtwinklig ein und umging so eine Felspartie, die hier in einem so flachen Land wie Baroda immerhin eine Merkwürdigkeit war.

Harst begann die Felsen zu erklettern. Ich blieb dicht hinter ihm. Bald hatten wir eine Anhöhe erklommen, von der wir über die Mauer in den Park hineinsehen konnten.

Der Mond hatte seine Wolkenschleier gelüftet und zeigte uns sein strahlend-freundliches Gesicht. So konnte ich denn auch wahrnehmen, dass die etwa vier Meter hohe Parkmauer an der Innenkante ein schräges spitzes Gitter besaß, das sehr stark und dauerhaft zu sein schien. Ich bemerkte aber jenseits der Mauer an einer vom Mond hell beschienenen Lichtung noch etwas: schlanke, schmale, große Tierkörper, die mit katzenartigen Bewegungen eine bestimmte Stelle umschlichen.

»Tiger«, sagte Harst leise. »Der Gaekwar lässt seine Schätze nachts von sechs dieser Bestien bewachen. An der Parkmauer sind alle fünfzig Schritt Warntafeln angebracht: Das Betreten des Parkes ist verboten und lebensgefährlich! Nun, so schlimm ist es nicht, wenn man vorsichtig ist. Ich war soeben auf jener Lichtung und habe erst einen, dann noch einen zweiten frisch geschlachteten Hammel dort niedergelegt, um die lieben Tierchen für eine Weile zu beschäftigen. Wie du siehst, haben sich fünf der Tiger bereits um das leckere Mahl versammelt. Der Sechste wird durch den Blutgeruch auch bald angelockt werden. Ich denke, wir können nun getrost versuchen, den Kopf auszugraben.«

»Ah – und der Kopf ist im Parke verscharrt worden?«, fragte ich etwas kleinlaut.

»Ja. Vor sechs Tagen. Es handelt sich um Folgendes. Der Nazar Bagh-Palast steht völlig leer. Nur im Erdgeschoss wohnte ein alter Pförtner namens Schan Bera. Dieser würdige Hindu und erprobte Diener des Fürsten ist vor einer Woche plötzlich verschieden.«

»Wie, und nun willst du den Kopf …«

Harst hatte bereits den Abstieg begonnen, wandte sich halb um.

»Ja, nun will ich den Kopf ausgraben. Ich möchte die Drüsen untersuchen.«

Das war alles, was ich über diese seltsame Angelegenheit vorläufig zu hören bekam.

Harst schritt mir voraus an der Nordseite der Mauer entlang. Dann machte er Halt, holte aus einem Gebüsch einen eisernen Spaten und ein langes Tau hervor, das an einem Ende einen einfachen Eisenhaken hatte.

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