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Der Detektiv – Die leuchtende Fratze – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die leuchtende Fratze
Lizabet Doogstons Opfer

Teil 1

Harst hatte unsere Abreise von Lahore ohne jede Angabe von Gründen so sehr beschleunigt, dass es auf mich ganz den Eindruck machte, als fürchte er irgendeinen raffiniert ausgeklügelten Anschlag auf sein Leben. In aller Stille waren wir abends in einem Mietauto auf Umwegen zu einer kleinen Bahnstation an der Strecke nach Amritsar gefahren und hatten den Nachtzug bestiegen, in dem unser Freund Major Marconnay für uns eine Schlafwagenkabine unauffällig belegt hatte. Ich war recht enttäuscht über diesen Ausgang unseres Abenteuers auf oder besser unter dem Gorannahügel. Ich hatte erwartet, Harst würde so manches, was bei diesem Attentat auf den Gubdu-Stein noch unklar war, schließlich doch noch aufzuklären suchen, insbesondere sich eingehender mit dem geheimnisvollen James Palperlon beschäftigen, dessen Person mir nun weit wichtiger erschien als Warbatty-Doogston.

Wie das so seine Art ist, sprach Harst über die ganze Angelegenheit in den folgenden Tagen kein Wort mehr. Diese Tage waren recht anstrengend, da wir ohne Unterbrechung unsere Reise fortsetzten. Was wir hier in der berühmten Hafenstadt sollten, wo wir schon einmal so wenig angenehme Dinge erlebt hatten, wusste ich nicht. Ich wusste nichts, nicht einmal, ob Harst das ganze Warbatty-Abenteuer endgültig aufgegeben habe. Wir waren in Bombay in einem kleinen, bescheidenen Hotel abgestiegen und ruhten uns nun erst einmal gründlich aus. Wenigstens tat ich dies, denn Harst hatte schon am zweiten Tag nach unserer Ankunft so allerlei vor, was mir keinerlei Interesse abgewinnen konnte. Er ritt und ging viel spazieren, obwohl damals gerade eine unerträgliche Hitzewelle bei völliger Windstille über dem schönen Bombay lagerte. Außerdem war er noch leidenschaftlicher Amateurfotograf geworden, hatte sich eine neue Rollfilm-Kamera gekauft und war nun oft bis nach Mitternacht auf und entwickelte in unserem gemeinsamen Zimmer die am Tage gemachten Aufnahmen. Ich sah mir die Negative davon des Öfteren an, weil ich vermutete, er könnte doch bereits wieder mit Vorbereitungen für eine neue Einkreisung Warbattys beschäftigt sein. Die Bilder zeigten jedoch durchweg nur landschaftlich schöne Punkte der Umgebung.

So vergingen weitere fünf Tage. Ich begann mich zu langweilen. Ich war doch schon zu sehr daran gewöhnt, den dauernden Nervenkitzel einer aufregenden Verbrecherjagd zu schüren, um auf die Dauer eine solche Untätigkeit wie jetzt als angenehm zu empfinden.

Am sechsten Morgen nach unserem Eintreffen in Bombay fand ich beim Erwachen Harsts Bett leer. Er hatte sich lautlos angekleidet und war davongeschlichen. Ich klingelte nach dem Frühstück. Die Hotelbediensteten waren sämtlich Hindu. Unser Zimmerkellner brachte mir dann außer dem Frühstück noch einen versiegelten Brief für mich, der erst vor wenigen Minuten im Hotel durch einen Boten abgegeben worden war.

Die Anschrift auf dem Umschlag war mit Bleistift sehr flüchtig hingekritzelt. Trotzdem erkannte ich sofort Harsts charakteristische Buchstaben. In dem Umschlag steckte eine Fotografie und auf der Rückseite dieses 9 mal 12 großen, unaufgezogenen Bildes stand wieder mit Bleistift: Belege eine Kabine auf Dampfer Theseus, der morgen Mittag nach Suez abgeht, schaffe unser Gepäck rechtzeitig hin und erwarte mich an Bord. H.

Also wirklich — es ging offenbar wieder der deutschen Heimat zu! Harst musste Warbatty-Doogston und dessen heimtückischen Feind Palperlon sozusagen ad acta gelegt haben. Mir wollte dies gar nicht recht in den Kopf! Er, der doch Frau Lizabet Doogston so fest zugesagt hatte, ihren Gatten aus den Händen dieses Scheusals von Palperlon zu befreien, sollte tatsächlich nun auf den ferneren Kampf verzichten?

Ich hatte mich gerade vor dem Spiegel des großen Kleiderschrankes rasiert, als der Kellner erschienen war, setzte nun diese Morgenarbeit fort und kümmerte mich nicht weiter um den braunen Burschen, der nun das Teebrett auf den Balkon hinaustrug und dann im Zimmer ein wenig aufräumte. Den Briefumschlag und das Bild hatte ich auf den Schreibtisch gelegt, der links vor dem zweiten Fenster stand.

Da — fast hätte ich mir eine gehörige Schmarre am Kinn beigebracht! Da sah ich etwas, das mein Zusammenzucken durchaus rechtfertigte. Der Kellner ahnte nicht, dass ich ihn im Spiegel genau beobachten konnte, oder er mag an diese Möglichkeit nicht gedacht haben. Er hatte sich nämlich über den Schreibtisch gebeugt, tat, als ob er von der Platte Staub abwische, und drehte dabei die 9 mal 12 Fotografie, die mit der Bildseite nach oben lag, schnell um und sah sich Harsts Bleistiftzeilen an.

Diese Neugier war umso verdächtiger, als die Hindu zumeist nur lateinische Schriftzeichen kennen. Ein Inder, der auch deutsche Schriftzeichen kann, muss schon ein sehr gebildeter Mann sein.

Ich verriet im Übrigen in keiner Weise, dass ich unserem braunen Ganymed nun misstraute, nahm nachher aber das Bild mit an den Frühstückstisch und betrachtete es mir genauer. Auf dem Balkon war es trotz des Leinendaches sehr hell. Ich hätte mir diese fotografische Aufnahme auch ohne den Zwischenfall mit dem Kellner in Ruhe und eingehender betrachtet, tat es nun aber doch mit einer gewissen argwöhnischen Sorgfalt, die insofern nicht nur berechtigt, sondern auch nötig war, als man bei Harst niemals wissen konnte, ob eine solche Benachrichtigung, die hier doch noch so wenig ihrem Inhalt nach zu ihm zu passen schien, nicht ganz anders gemeint sei.

Das Bild war eine Aufnahme eines Eingangs einer Tempelruine. Links von dem verfallenen Tor war die Mauer mit alten Inschriften und Bildwerken — Tierfiguren und Götzen — geschmückt. Vielleicht wäre einem anderen Betrachter, der nicht gerade wie ich das Glück gehabt hatte, eines Harald Harst Freund, Privatsekretär und Schüler zu sein, die winzige Kleinigkeit gar nicht aufgefallen, die ich nun plötzlich auf der Fotografie entdeckte.

Mitten in den alten indischen Schriftzeichen bemerkte ich nämlich ein deutlich erkennbares deutsches E. Dieser Buchstabe ist für unsere deutsche Schrift charakteristisch. Da er nur geringe Anlehnung an die lateinische als die Vorgängerin der deutschen zeigt. Das lateinische E und das deutsche E besitzen nicht jene Übereinstimmung in der Führung der Hauptlinien, wie zum Beispiel das lateinische F oder das deutsche F, und so weiter.

Das E fiel mir auf. Als ich nun ganz genau hinsah, bemerkte ich auf der haarscharfen Fotografie sofort noch mehr Sonderbares: nämlich noch andere deutsche Buchstaben, die sehr geschickt unter die indischen gemischt waren. Sehr bald hatte ich dann folgenden Satz zusammengestellt: Erwarte dich in Baroda. Sehr vorsichtig bei Hinreise.

Aha — Baroda. Das war die Stadt, in der Warbatty-Doogston nach der bei einem seiner Helfershelfer aufgefundenen Liste ebenfalls eine Gastrolle, und zwar seine letzte in Indien hatte geben wollen! Das bedeutete nichts anderes als die Fortsetzung des Kampfes.

Mit einem Schlag war meine bequeme Gleichgültigkeit dahin. Ich hatte eine Aufgabe — und sicherlich keine ganz einfache. Denn nicht nur Harsts so überaus schlau ersonnene Mitteilung, die einem Vexierbilde glich, sondern auch die Neugier des Kellners bewiesen mir, dass ich von Spionen umgeben war, denen zu entgehen nicht leicht sein würde.

Ich will meinem Freund Harst hier gewiss kein besonderes Loblied singen und seine Erfindungsgabe nicht herausstreichen. Dessen bedarf es nicht. Aber hinweisen möchte ich doch auf diesen geradezu genialen Trick, durch den er mir gleichzeitig zwei Befehle zukommen ließ, von denen der eine, der geschriebene, offenbar für die Spione und der andere, der fotografierte, für mich bestimmt war.

Da ich nun auf diesem Bild so Merkwürdiges herausgefunden hatte, stieg in mir ganz unwillkürlich der Gedanke auf: Vielleicht hat Harsts Filmverschwendung in den letzten Tagen ebenfalls lediglich den Zweck gehabt, sich auch mit anderen Personen auf dieselbe geheime Weise zu verständigen.

Ich holte mir also aus seinem Koffer den Karton, in dem er die hier in Bombay gemachten Aufnahmen aufbewahrte, hervor und sah mir diese Bilder mit Polizeiaugen an.

Und — tatsächlich: Unter den 62 Aufnahmen gab es drei, die gleichfalls zu sehr geschickten Vexierbildern umgewandelt waren, indem Harst in die Negative mit einer Nadel das eingeritzt hatte, was später auf den Positiven als dunklere Linien erscheinen sollte.

Da war zuerst eine Aufnahme einer Parkpartie mit vier abgestorbenen entblätterten Bäumen links in der Ecke. In das Astwerk dieser Bäume war der Satz in lateinischen Buchstaben hineingezaubert: Werde Ihnen beistehen. Weiteres folgt.

Dann seine Aufnahme eines Kistenstapels am Hafenkai. Hier waren in die Signaturen der Kistenwände wieder einige Worte hineingemogelt: Er in Baroda. Bitte abwarten.

Schließlich in die Felstrümmer eines malerischen Abhangs: Nach Baroda zu Laki Sing Dau Turbane.

Diese letzte Benachrichtigung für — ja, für wen wohl, fragte ich mich. Nun, es konnte sich nur um Lizabet Doogston handeln, denn in der ersten dieser drei Mitteilungen stand ja: Werde Ihnen beistehen! Also die letzte Benachrichtigung war mir am wertvollsten? Laki Sing Dau, Turbane, das konnte ja nur irgendein Mittelsmann sein, bei dem Harst mit Frau Doktor Doogston zusammentreffen wollte. Und dieser Laki Sing Dau war fraglos ein Turbanmacher, was dem deutschen ehrbaren, aber durch die moderne Zeit etwas entwerteten Beruf eines Mützenmachers entspricht.

Harsts Fotografierwut hatte nun also eine ausreichende Erklärung gefunden, bewies mir außerdem noch, dass er das Warbatty-Abenteuer nie aufgegeben hatte und dass er triftige Gründe gehabt haben musste, Frau Doogston nur auf diese etwas umständliche Art — durch die Bilder — Nachricht zukommen zu lassen. Jedenfalls befand ich mich nun wieder mittendrin in der gewohnten, nervenaufpeitschenden Tätigkeit als Gehilfe des Mannes, der im Verlaufe eines Jahres wohl der berühmteste Liebhaberdetektiv des ganzen Erdenrunds geworden war.

Meine Abreise mit dem Lloyddampfer Theseus lässt sich in wenigen Sätzen erledigen. Ich vertraute mich dem Kapitän Winter an, bei dem der Name Harst sofort Wunder wirkte. Kurz vor der Abfahrt des Schiffes stand ich an der Reling, so recht sichtbar für auf dem Kai lauernde Spione. Plötzlich tauchte dann neben mir der bewusste Kellner aus unserem Hotel auf.

»Master Harst hat etwas liegen lassen«, erklärte er. »Ich soll es ihm persönlich abgeben.«

»Gut, Kabine Nr. 11. Harst schläft jedoch. Kannst du mir das Betreffende nicht aushändigen? Harst fühlte sich nicht ganz wohl.«

Der Hindu war ein langer dünner Mensch mit einem Paar unheimlichen Glutaugen. Ich fühlte, wie misstrauisch er mein Gesicht beobachtete. Ich spielte aber wohl recht gelungen den lediglich um Harsts Schlaf Besorgten, denn er händigte mir nun das kleine Päckchen aus und verschwand wieder. Das Päckchen war offenbar eine Pappschachtel, die man in braunes Papier gehüllt und versiegelt hatte. Wenige Minuten später wurde zusammen mit einigen Frachtstücken vom Vorderdeck des Theseus auch eine Holzkiste auf den Kai geschafft, in der nicht nur unsere Koffer sich befanden, sondern auch ein Mensch in sehr unbequemer Lage hockte. Und dieser Mensch verließ abermals zwei Stunden später das Haus eines guten Freundes des Kapitäns Winter in der Verkleidung eines arabischen Händlers. Ich war es. Um sechs Uhr nachmittags bestieg ich den Zug in die Hauptstadt Baroda des gleichnamigen Fürstentums, das direkt nördlich von Bombay in der Provinz Gudscharat liegt. Um zehn Uhr abends war ich in Baroda. Der Bahnhof, etwas außerhalb in der modern gebauten Vorstadt gelegen, entspricht in seiner Größe nicht ganz einer Residenz von rund 120.000 Einwohnern. Immerhin gab es vor dem Bahnhofsgebäude genügend sehr gut bespannte leichte Wagen, von denen einer mich zur Basarstraße der Eingeborenenstadt brachte, wo ich bestimmt die Wohnung des Turbanmachers zu erfahren hoffte. Ich hatte mich nicht getäuscht. Schon der dritte Hindu, den ich fragte, wies mich zu einer an einem schmalen, schmutzigen Kanal entlanglaufenden Seitengasse. Das Haus Laki Sing Daus war bald gefunden. Es sah etwas sauberer als die übrige Umgebung aus, wozu nicht viel gehörte, denn das alte Baroda ist, mit Verlaub zu sagen, ein elendes Drecknest.

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