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Die schaurige Geschichte vom Italienerplatz

Die schaurige Geschichte vom Italienerplatz

Wer kennt noch heute von den vielen Bewohnern Tuttlingens droben an der Witthohstraße den Italienerplatz? Fast ist diese Bezeichnung vergessen, denn das äußere Bild hat sich im Laufe der Jahrzehnte mannigfach geändert. Es ist auch kein Flurname im eigentlichen Sinn, dort ungefähr, wo heute jene Schutzhütte steht, die vor dem Abstieg ins Roschdeich den ersten Alpenblick gestattet, also noch Gewann Wagenstelle, aber auf der Seite gegen das Duttental hinunter.

Dort besaß der Tuttlinger Kaufmann Gustav Friedrich Megenhart einen Wald, den er im Frühjahr 1862 aufsuchte. Dabei machte er einen grässlichen Fund: die Leiche eines jungen Mannes, die schon einige Monate gelegen hatte. Der 45-jährige Tuttlinger, der Bruder des damaligen Apothekers, wohnhaft in der Schaffhauser Straße 13, ging erschüttert zur Stadt zurück und meldete, was er gesehen; kränkelte aber von jenem 19. März an und starb schon drei Jahre später.

Der Landjäger Strecker aber machte seine Erkundigungen. Er fand bei dem Toten die Anhaltspunkte, die zur Auffindung der Mörder führten. Wie war es zu dieser schaurigen Tat gekommen? Der Ermordete war ein Südtiroler italienischer Abstammung, mit Namen Chiogna, Steinhauer seines Zeichens, der als Wanderarbeiter bei verschiedenen Bahnbauten diesseits der Alpen tätig gewesen war. Dieser hatte unterwegs andere Arbeiter getroffen, auch italienisch sprechende Südtiroler aus der Nähe von Bozen, aber keine engeren Landsleute. Es waren durchweg arme Schlucker, die der heimische Boden nicht ernähren konnte, und die in der Fremde von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz zogen. So trafen sie sich unterwegs. Seine acht Begleiter entstammten alle dem gleichen Kreis, sahen ihn also mehr oder weniger als Außenseiter an, zumal er als sehr nüchterner und fleißiger Arbeiter es fertiggebracht hatte, sich einige Ersparnisse zusammenzubringen. Aus der Heilbronner Gegend wollten sie weiter nach Schaffhausen. Da führte sie ihr Weg in dem noch eisenbahnlosen Gebiet auch über Tuttlingen. Es war eine bunt gewürfelte Gesellschaft. Da war es einmal die Familie Boso: der 54-jährige Vater Franz, seine 42-jährige Frau Therese und seine Söhne Viktor (21-jährig) und Antonio (17-jährig). Dazu kamen der 48-jährige Baptista Marcon und sein 22-jähriger Sohn Anton, der 27-jährige Steinhauer Orsolin und der 88-jährige Grubenarbeiter Tisott.

Die Armut, ja man kann sagen, das Elend, herrschte bei allen, mussten doch zum Beispiel die Bosos noch einen Teil ihrer ohnedies kümmerlichen Habe zurücklassen, um wenigstens die Mietschulden zu bezahlen. Eugenio Chiogna hatte sich allerdings noch Ende November bei einem Schneider in Hall einen neuen Rock machen lassen und auch bezahlt. Er konnte auch den beiden Marcons ein kleines Darlehen gegen Schuldschein geben. So mutmaßten sowohl die Marcons wie auch die Bosos, dass er noch mehr Geld besitze. Sie schätzten es auf 150 Gulden und kamen überein, sich dieses Geldes zu bemächtigen. Orsolin, der ein Handbeil in seinem Gepäck bei sich trug, wurde mit der Ermordung beauftragt. Von Rottenburg an waren sie auf der Landstraße. Das war am 4. Dezember 1861. Die Alten, vor allem auch die Frau, sparten den Jungen gegenüber nicht an Vorwürfen, weil noch immer das Geld nicht herausgeholt war. Sie schufen sich einen besonderen Aktionsplan, aber es klappte nie auf dem Weg über Hechingen und Balingen. Auch ein Vergiftungsversuch kam nicht zur Ausführung. Therese wurde sehr unwillig. Am 6. Dezember übernachteten sie in Hofen und gingen dort erst spät am Vormittag weg, sodass es schon Abend wurde, als sie in Tuttlingen ankamen. Sie nächtigten hier im Hecht, Chiogna zahlte Orsolin und Tisott ein reichliches Nachtessen, gab aber dem Franz Boso auf dessen Verlangen kein Geld. Man erkundigte sich nach dem Weg nach Schaffhausen, und als sie die bewaldete Höhe des Witthoh sahen, rief Viktor Boso aus: »Das ist ein Platz für morgen!«

Am Sonntagmorgen, es war der 8. Dezember, zog die Reisegesellschaft bei Tagesgrauen südwärts. Das waldige Gelände, der neblige Tag und die fast menschenleere Straße ließen die Tat reifen. Die Jungen gingen voraus. Die Eltern Boso mit ihrem jüngsten Sohn Antonio und dem alten Marcon kamen erst ein Stück hinterher, um etwaige Schwierigkeiten melden zu können. Als die Höhe erreicht war, kam es zu lebhaftem Gespräch zwischen Chiogna, Boso, Marcon und Tisott, während Orsolin hinter ihnen herging und lauernd auf eine günstige Gelegenheit wartete. Dann schlug er von hinten so kräftig zu, dass Chiogna sofort zusammenbrach. Alle packten ihn und schleppten ihn in den nahen Wald. Aber Chiogna war noch nicht tot. Er kam wieder zu sich und bat um Erbarmen. Als Antwort zertrümmerten sie ihm den Schädel vollends. Der Gerichtsarzt stellte später 49 Teile fest. Die Leiche wurde ausgeplündert, alles was halbwegs von Wert war, wurde eingesteckt. Orsolin legte die Leiche in ein Gebüsch, das Beil an ihre Seite, legte die Arme des Toten in Kreuzesform übereinander, kniete nieder und sprach die Sterbegebete.

Inzwischen gab es eine große Enttäuschung. Man fand keine größere Geldsumme. Das gab neuen Streit. Orsolin und Tisott kehrten von Biesendorf aus nochmals zurück, durchsuchten die Leiche, fanden aber nichts. Schwer enttäuscht trafen sie die anderen in der Talmühle und zogen dann nach Schaffhausen weiter. Am 9.  Dezember kamen sie dort an und fanden Arbeit. Als aber am 19. März 1862 der Landjäger Strecker die Leiche durchsuchte, fand er wohl keine Wertsachen mehr, aber Briefe, die an Chiogna gerichtet waren und die Schuldscheine der Marcons. Die Einträge im Tuttlinger Fremdenbuch vom 7. Dezember taten noch ein Übriges, und so wurden alle schon am 25. März gefangen genommen und von Schaffhausen nach Tuttlingen gebracht. Bei Therese Boso hatte man 120 Goldfranken gefunden. War das wohl das nicht aufgefundene Geld? Die Frage konnte nicht geklärt werden. Nach längerem Leugnen haben dann Orsolin und Tisott gestanden, dass sie zusammen mit den zwei anderen Jungen die Mörder seien, von den Alten aber dazu aufgestachelt worden seien.

Erst am 27. März 1863 begannen die Verhandlungen vor dem Geschworenengericht in Rottweil. Nach 35-tägiger Verhandlung, die naturgemäß in italienischer und deutscher Sprache geführt werden musste, kam es zum Urteil am 1. Mai. Orsolin, Tisott, Viktor Boso und Anton Marcon wurden wegen Mordes im Komplott zum Tode durch Enthauptung verurteilt; das Urteil wurde dann am 6. Juni im Hof des Gefängnisses in Rottweil vollzogen. Die Anstifter Franz Boso und Battista Marcon bekamen eine Zuchthausstrafe von 22 Jahren, Therese Boso eine solche von 23 Jahren. Sie wurden schon am 6. Mai nach Gotteszell eingewiesen. Über den noch jugendlichen Antonio Boso wurde kein Urteil gefällt.

Die Zeitungen der damaligen Zeit haben sich des Falles in reichlichem Maße angenommen, und es kam zu einer achtseitigen Broschüre über die letzten Tage und Hinrichtung der Raubmörder, die man noch bis vor dem Ersten Weltkrieg in Tuttlinger Buchhandlungen kaufen konnte. Die schauerliche Begebenheit, die Gemeinheit des Mordes aus purer Geldgier haben einen so tiefen Eindruck hinterlassen, dass selbst jetzt nach 160 Jahren die Erinnerung lebendig ist.

Der ehemalige Polizeidirektor Manfred Teufel aus Wellendingen beleuchtet dieses Verbrechen in seinem jüngsten Werk Ein schauderhafter Kameradenmord im 19. Jahrhundert unter den Aspekten der historischen Kriminologie. Mithilfe akribische Sichtung von Zeitungsberichten und weiteren Originaldokumenten aus jener Zeit widmet sich der Autor dieser Thematik, nimmt den geneigten Leser auf eine Reise zurück in die Vergangenheit und lässt ihn in die Geschehnisse – vom Raubüberfall bis zur Vollstreckung der Urteile – eintauchen.

Das Buch

Manfred Teufel
Ein schauderhafter Kameradenmord im 19. Jahrhundert

Historische Kriminalgeschichte, Taschenbuch, Softcover, VERRAI-VERLAG, Stuttgart, Dezember 2020, 207 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 9783948342289

Synopsis:
Kriminalität hat die Menschen schon immer fasziniert. Daher umso erstaunlicher, dass sich vergleichsweise spät eine Wissenschaft der Kriminologie entwickelt hat. Und zu den Anfängen geht Manfred Teufel mit seinem Buch Ein schauderhafter Kameradenmord zurück. Zunächst bringt er dem Leser die wichtigsten Grundlagen dieser Wissenschaft näher und beschreibt dann ausführlich einen wirklichen Kriminalfall aus dem 19. Jahrhundert. Dabei geht es um den Mord an einem italienischen Wanderarbeiter auf dem Witthoh, einer Anhöhe bei Tuttlingen im Jahre 1862, der auch heute noch im Kollektivgedächtnis der Region verankert ist. Hierzu hat er akribisch entsprechende Zeitungsberichte aus der Zeit im Original zusammengetragen, anhand deren man sehr gut nachvollziehen kann, wie der Prozess im Detail ablief und letztendlich zu einem Urteil gekommen wurde. Insgesamt eine bewegende Reise in die Kriminologie der Vergangenheit, woraus Lehren auch für heute gezogen werden können.

Der Autor

Manfred Teufel war annähernd 40 Jahre Angehöriger der Kriminalpolizei in Baden-Württemberg. Zuletzt leitete er als Kriminaldirektor eine Polizeidirektion.
Seit Anfang der 60-er Jahre publizierte er viele polizeifachliche Abrisse in deutschen und ausländischen Fachzeitschriften (einschließlich BKA-Sammelbände), zuerst aus dem Terrain der Wirtschaftskriminalität und späterhin vorzugsweise aus der Polzeigeschichte. Seine differenzierte Dokumentation über die Südwestdeutsche Polizei im Obrigkeits- und Volksstaat 1807-1932 und die profunde Illustrierte Zeittafel 40 Jahre staatliche Polizei in Baden Württemberg 1945-1985 fanden bei der geneigten Leserschaft viel lobenswerten Widerhall. In der landeskundlichen Literatur sind von ihm zahlreiche, in sich geschlossene Titel zu finden.
Über zwei Jahrzehnte war er Chefredakteur der Zeitschrift Die Kriminalpolizei und Herausgeber des Taschenbuchs für Kriminalisten. Geraume Zeit nahm er einen Lehrauftrag für Polizeigeschichte an der Fachhochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen wahr.

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Quellen:

• Tuttlinger Heimatblätter 1961(19/21), 95ff.
• Schwarzwälder Bote vom 17. Dezember 2020, Autorenfoto Copyright © Dezember 2020 by Patrick Nädele
• Pressemitteilung bookcommunication.de

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