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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Im Wettlauf mit der Zeit – Teil 4

Pillbury bremste seine Harley und richtete einen Halogensuchscheinwerfer auf die Hausfassade. Die Augen einer Katze funkelten im Licht, dann fauchte es wütend, und ein schwarzer Schatten sauste über die Straße. »Hier müsste es sein«, stellte Pillbury fest. Neben der Haustüre hing ein großes Messingschild, das mit zwei überkreuzten Klebestreifen versehen war. Dennoch konnte Tony das Wort Privatklinik entziffern. Er war sicher, dass das Messingschild frisch poliert war. Tony klingelte. Pillbury stellte inzwischen seine Maschine ab und trat neben Tony.

»Keiner zu Hause«, mutmaßte er. »Für den Notfall kenn ich auch noch jemanden, der dich wieder zusammenflickt, Alter.«

»Daran, dass du jemanden kennst, Pillbury, der so was macht, hatte ich auch nie Zweifel. Aber ich hoffe doch erst mal, dass hier noch einer aufmacht.«

»Is jedenfalls ‘ne schniecke Gegend hier. Downing Street gleich um die Ecke. Ah, da kommt tatsächlich jemand.«

 

Der Mann, der die Tür aufschloss, war mittelgroß und mit einem mäßigen, aber dennoch unübersehbaren Bauch behaftet. Er trug einen weißen Arztkittel und Gummihandschuhe, als hätte man ihn zu dieser nächtlichen Stunde direkt aus seiner Praxis geholt. Er strömte einen deutlichen Geruch nach Cognac aus. Zu deutlich, um ihn zu ignorieren. Dennoch klang die Stimme des Mannes klar und verständlich und ohne eine Spur von Trunkenheit.

»Tut mir leid«, sagte er knapp, »ich kann Ihnen nicht helfen. Wenn Sie es eilig haben, kann ich Ihnen einen Krankenwagen rufen. Ansonsten, gute Nacht.«

»Ich komme auf Empfehlung von John Tanner«, sagte Tony und trat einen schritt näher.

Der Arzt wich entsprechend zurück.

»John Tanner? Der gute alte John.« Der Mann streckte den faltigen Hals, schob den Kopf vor wie eine Schildkröte und betrachtete aufmerksam Tonys Gesicht. Harvey Grands war an die Siebzig, hatte die rötliche Gesichtsfarbe und die wässerigen Augen eines Säufers und das etwas zeremonielle Gehabe eines sehr konservativen Akademikers. Auf seinem Schädel klebten einige weiße Locken, die an die Wattebärte von Kaufhaus-Weihnachtsmännern erinnerte.

Tony ertrug nur mit Mühe die Alkoholfahne, die ihm aus dem Mund Grands entgegenwehte. Dennoch registrierte er mit einer Beobachtungsgabe, die er sich in den letzten Monaten erworben hatte, dass die Wangen des Harvey Grand messerscharf rasiert waren, dass die Nasenhaare gestutzt waren und sich in den Cognacgeruch auch der Duft eines teuren Herrenparfums mischte.

Der Alte räusperte sich, zögerte und sagte dann: »Du bist Tony, Johns Junge, stimmt’s? Du erinnerst dich nicht an mich. Warum auch. Aber du bist mir damals auf den Knien rumgekrabbelt und ich musste mit dir auf dem Bauch liegen und mit Matchboy-Autos Rennen spielen. Waren bessere Zeiten damals. Oder auch nicht, was soll ‘s. Ich hab dich sofort erkannt, obwohl – du ähnelst deinem Vater kein bisschen – danke Gott auf den Knien dafür. Haha. Also, der alte John hat dich geschickt. Wir telefonieren manchmal miteinander. Einer der wenigen Kumpel, die mich nicht abserviert haben. Zumindest im Charakter solltest du deinem alten Herrn ähneln, wenn du auch nicht so ein hässlicher Vogel zu sein brauchst. Nun denn, hereinspaziert!«

 

Sie betraten den Hausflur. Bevor er die Türe leise zugleiten ließ, warf Pillbury noch einen vorsichtigen Rundblick auf die stille Straße. Tony hatte so etwas wie eine gutbürgerliche Umgebung mit deutlichen Anzeichen des Verfalls erwartet – durchgetretene Perserteppiche, verschlissene Tapeten und gelbstichige Gardinen. Stattdessen betrat er ein Haus mit hellen, freundlichen Farben. Durch eine halb offene Tür konnte er auf eine Suite sehen, die jedem Grand Hotel Ehre gemacht hätte (und in dieser Hinsicht billigte sich Tony Tanner einen Expertenblick zu). Ledersessel waren auf dem Flur zu Sitzgruppen zusammengestellt, an den Wänden hingen Werke moderner Kunst, die, auch das erkannte Tony sofort, farblich mit dem Ambiente harmonierten, und ein kleiner Marmorbrunnen plätscherte. Man musste erwarten, dass im nächsten Moment einer der Patienten, oder eher einer der Gäste dieser Privatklinik um die Ecke biegen würde. Grands bemerkte Tonys umherschweifende Blicke.

»Ja, das war alles ein wenig anders geplant. Acht Betten mit allem Schnickschnack an Komfort. Sollte die beste Klinik in ganz London werden. Na ja, war dann wohl nichts. Aber ich sorge zumindest dafür, dass der Laden in Schuss bleibt. Hab ja sonst nichts zu tun.«

»Flicken Sie meinen Kumpel, Doc«, sagte Pillbury, »dann haben Sie genügend zu tun.«

»Es ist wirklich eine sehr exklusive Umgebung«, lobte Tony.

»Ach lass, Tony, du bist ja irgendwie im Touristikgeschäft gelandet oder so. Ich erinnere mich, dass dein Vater mir mal was darüber erzählt hat. Freut mich, dass diese Bude vor den Augen eines Kenners bestehen kann. Na ja, wär von dir ja auch unvorsichtig, mich jetzt nicht zu loben, was? Scherz beiseite, die Planung stammt von meiner Frau. Das heißt, zumindest ein Teil, das was sie noch durchführen konnte, bevor sie starb. Den Rest habe ich dann gemacht. Ich bin sicher, dass sie es genauso gemacht hätte. Ist schon seltsam, man lebt jahrzehntelang miteinander und dann ist der andere weg und irgendwie bleibt er doch, weil er zu einem Teil von einem selbst geworden ist.«

Die letzten Sätze murmelte Grands vor sich hin. Es war offensichtlich, dass er sie mehr zu sich selbst gesprochen hatte. Oder vielleicht wollte er auch nur prüfen, ob Tony sich die Mühe des Zuhörens machte.

»Hier geht es in den Keller mit Schwimmbecken und Fitnessräumen. Und hier sind wir in meinem eigentlichen Reich.«

Grands stieß eine Tür auf und führte sie mit »Padadam« in einen großen Raum, der ein Mittelding zwischen Labor und Behandlungszimmer darstellte.

Mit einiger Beruhigung stellte Tony fest, dass alles vor Sauberkeit blitzte und blinkte, und dass die Unzahl an Geräten und Apparaturen so aussah, als sei sie direkt von einer Messe für Medizintechnik hierhin gekommen.

Sogar ein Rechnermonitor flimmerte auf der anderen Seite des Raumes und zeigte unverdrossen eine gezackte Kurve.

Grands schob Tony in einen Polsterstuhl, dessen Hydraulik an ein Flugzeugfahrgestell erinnerte. Er hantierte an diversen Knöpfen, fuhr den Stuhl in die passende Position und zog eine starke Leuchte heran.

Pillbury platzierte sich unterdessen auf eine Rollbahre. »Was ‘n das, Doc«, fragte er.

»Eine Ratte. Oder zumindest das, was ich von ihr übrig gelassen habe.«

»Verstehe. Ihr Abendessen?«

»Mein Forschungsobjekt. Eine richtig stinkige Kanalratte. Die Bazille, die so ein Viech umbringt, muss erst noch gebacken werden. Aber darüber können wir uns später unterhalten.«

Grands untersuchte Tonys Wunden. »Prügelei?«, fragte er. »So eine Art Boxkampf. So eine Art Boxkampf ohne Handschuhe, stimmts? Du brauchst nicht zu glauben, dass du mich verarschen kannst, mein Junge. Das hier – halt still, wenn du mich schon belügen willst, dann tu es wenigstens mit Anstand – ist nämlich weder Faustschlag, noch Kopfstoß, sondern Knie oder Ellbogen. Und wenn ich mir deinen Ellbogen anschaue, dann weiß ich auch, womit du dich zur Wehr gesetzt hast.«

»Sein Ellbogen war große Klasse«, meldete sich Pillbury aus dem Hintergrund. »Sagen Sie mal Doc, was ist denn dieses gelbe Ding?«

»Das ist die Leber einer Kanalratte. Eines der genialsten Entgiftungsorgane, das die Natur je geschaffen hat. Im Grunde müsste alleine schon diese Leber auf die Sondermülldeponie, soviel Gift ist darin abgelagert und neutralisiert. Macht euch nichts vor – was wir erleben, ist die Eroberung neuer Lebensbereiche durch die Tierwelt. Der Mensch vergiftet die Erde, aber die Natur erschafft sich Wesen, die trotzdem damit leben können. Die ersten Kleinkrebse im Bodensee haben schon gelernt, giftige Algen als Nahrung zu nutzen. Und diese Ratte da hat in einer Umgebung gelebt, die jedes andere höhere Tier umbringen würde. Aber für solche Erkenntnisse ist die heutige Wissenschaft ja blind. Das passt nicht ins Schema.«

 

Grands rollte grummelnd auf seinem Schemel zu einem Schrank und begann, die benötigten Dinge auf einen fahrbaren Schrank zu legen. Zwischendurch holte er ein Tablettenröhrchen aus der Tasche, ließ drei weiße Pillen auf seine Handfläche rollen und verschluckte sie dann. Der Bewegung, mit der er die Hand zum Mund führte und zum Schlucken den Kopf in den Nacken legte, war anzusehen, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Dann rollte er zurück zu Tony und begann mit dessen Versorgung. Er stopfte Tony Mullrollen in die Nasenlöcher – ein Anblick, der an einen neuguineischen Kopfjäger im Sonntagsschmuck erinnerte – und eine dickere Rolle hinter die Unterlippe. Er reinigte und desinfizierte die Wunden, dann begann er, sie zu nähen.

»Was ist mit einer Betäubung«, nuschelte Tony gepresst.

»Pah, die wenigen Stiche. Wenn du dich derart prügeln kannst, dann kannst du auch die Stiche wegstecken. Im Übrigen hilft der Schmerz bei der Heilung. Er macht deinen Organismus klar, dass er sich gefälligst auf die Hinterbeine zu stellen hat, weil was nicht stimmt.«

»Interessante Theorie. Sie würden wohl auch einen Blinddarm ohne Narkose entfernen?«

Grands würdigte Tonys rebellisches Genuschel keiner Antwort, sondern arbeitete schnell und mit routinierter Sicherheit weiter. Plötzlich unterbrach er sich. »Ich vermute, dein Vater hat dir gesagt, dass ich ein alter Säufer bin, Tony?«

»Um ehrlich zu sein, er sprach von Medikamentenschrank.«

»Guter alter John. Immer die Dezenz in Person. Du weißt gar nicht, was für einen guten Fang du mit deinem alten Herrn gemacht hast. Wirklich, der Mann hat Stil. Eine Dame, die auf einer Beerdigung was anderes als Perlen trägt, ist für ihn keine Dame, und Tapferkeit oder Zuverlässigkeit sind für ihn weder Tugenden noch Sekundärtugenden, sondern Selbstverständlichkeiten. Das, mein Junge, ist das Holz, aus dem das alte Empire geschnitzt war, glaub es mir. Der Stoff für Offiziere mit Schmiss und Politiker mit Weitblick. Egal, ich will hier weder Selbstbezichtigung spielen noch ein Seminar abhalten. Ich brauche schlichtweg den einen oder anderen Snifter, sonst werd ich rappelig und meine Hände zittern.«

»Könnten Sie nicht vielleicht erst mal die letzten Stiche machen«, bettelte Tony und sprang fast von seinem Stuhl.

Grands schüttelte nur den Kopf und machte sich an einem Schrank zu schaffen, schob Flaschen mit Jod zur Seite, um dann einen Erlenmeyerkolben mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit zum Vorschein zu bringen. »Papperlapapp, ich will jetzt einen kippen. Auch einen, Tony? Nein? Dachte ich mir, so etepetete wie deine Mutter. Aber Sie nehmen einen Schluck mit mir, was? Sie haben Lust drauf oder ich habe keine Menschenkenntnis mehr.«

Pillbury zierte sich nicht lange.

Grands kratzte sich am Kopf. »Verflixt, ich habe keine Gläser. Ich trinke im Normalfall aus der Flasche, aber zur Feier des Tages … da wollen wir doch die Form wahren.« Er öffnete weitere Schränke, schaute hinter Türen und fand schließlich zwei schmale Reagenzgläser. Er füllte sie bis zum Rand, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten und stieß dann mit Pillbury an. »Auf das Leben und den guten alten John Tanner.«

»Auf das Leben und dem Tony Tanner seinen linken Hammerellbogen.«

Sie leerten die Gläser, beide schmatzend und mit Genuss. Grands legte vorsichtig sein Glas zur Seite, Pillbury versuchte, seine Zunge in die Öffnung zu bringen, um den letzten Rest herauszubekommen, dann ließ er ein elefantöses Rülpsen hören und kippte mit seligem Lächeln und einem »Heissahoppsassa« zur Seite.

»Mein Gott, Sie haben ihn vergiftet«, rief Tony. So sollte es klingen, wegen der Mullverbarrikadierung seiner Riech- und Sprechorgane kam lediglich ein »Meifossiehamminferffifef« heraus.

»Unfug. Es ist die Wirkung meiner Hausmarke. Der kommt schon wieder.«

 

Während Grands eine Salbe auf Tonys blaue Flecken strich, meldete sich Pillbury mit Schnarchtönen. Dann richtete er sich wieder auf, als hätte man ihn durch Zündung eines Treibsatzes wieder in die Senkrechte katapultiert.

»Mann, Doc, krieg ich noch einen? Was für ein affengeiles Gesöff! Wenn ich das verscherbele, dann könnten wir beide in zwei Wochen Millionäre werden.«

»Wenn ich Millionär werden wollte, brauchte ich bloß meine Pfandflaschen zum Saveways zu tragen«, antwortete Grands trocken.

Er befahl Tony strengstens, ruhig liegen zu bleiben und trank mit Pillbury die zweite Runde. Dieses Mal blieb die vorherige Wirkung aus, aber Pillbury begann nach kurzer Zeit, an den Längsstangen der Rollbahre wie an einem Gasgriff zu drehen und die Geräusche eines Motorrades zu imitieren.

Tony Tanner versuchte durch wilde Blicke, Pillbury von seinem unziemlichen Tun abzuhalten, aber der winkte nur freundlich und begann, sich in imaginäre Kurven zu legen. »Wenn ich die nächste Schikane schaffe, ohne mich auf die Fresse zu legen, krieg ich noch einen, abgemacht, Doc?«

Pillbury schaffte die nächste Schikane nicht, sondern krachte mitsamt Rollbahre auf den Boden. Bevor Tony oder Grands eingreifen konnten, hatte er sich wieder aufgerappelt und fuhr sein Rennen weiter.

»Lassen Sie ihn«, beruhigte Grands den schwitzenden Tony. »Die Wirkung meiner Hausmarke ist bekannt. Die Salbe habe ich übrigens auch selbst gemischt.«

»Brennt wie Feuer. Muss das so sein?«, zischte Tony.

»Exakt. Jetzt wird der ganze Müll an subkutan ausgelaufenem Blut abtransportiert und die zerstörte Gewebsmasse wird wieder repariert. Das passiert viel schneller, als es normalerweise geschehen würde, dafür musst du das Brennen in Kauf nehmen.«

»Wenn Sie mit dem Zeug eine alte Lady einwickeln, dann würde sie wohl als Miss Frühlingsfrisch wiedererstehen. Brauchen Sie eigentlich Ihren Papierkorb?« Pillbury geriet soeben wieder in eine gefährliche Schräglage.

»So wäre das. Warum hätte diese Klinik wohl so ein Erfolg sein können? Na ja, aber so eine Ganzkörperbehandlung würden die Nieren wohl nicht durchhalten. Tony, du musst auch gleich noch ein Wässerchen trinken, um damit du keine sauren Nierchen bekommst. Den Papierkorb, Mister Feuerstuhl? Nein, nicht so wichtig.«

»Ich weigere mich, diese Teufelsstrecke ohne Kopfschutz zu fahren«, krähte Pillbury unter dem Papierkorb hervor und kippte wieder mitsamt Rollbahre um. »Verflucht, schon wieder dieselbe Stelle«, ärgerte er sich.

Für eine dritte Runde Hausmarke war nicht genügend Material vorhanden, und so schnappte sich Grands eine Nierenschale und begann unter Assistenz des stark interessierten Pillbury mit der Mischung von Nachschub.

 

Unterdessen hatte Tony einige Fotografien entdeckt, die neben der Eingangstür hingen.

Um sich von den brennenden Schmerzen an den eingesalbten Stellen abzulenken, schälte er sich ächzend aus dem Sitz und trat vor die Fotos. Eines zeigte einige Studenten vor einer gotischen Kapelle. Es fiel Tony nicht schwer, den schlaksigen jungen Mann am Rand der Gruppe als seinen Vater auszumachen. Und derjenige, der neben John Tanner stand und hinter dessen Hinterkopf zwei Finger als Hasenohren in die Höhe hob, das musste Harvey Grands sein.

»Wir beide sind am linken Rand, dein Vater und ich«, erklärte Grands aus dem Hintergrund. Er war gerade damit beschäftigt, einen giftgrünen französischen Likör als weitere Ingredienz in die Nierenschale zu träufeln.

»Die kleine Rotzbacke, die auf dem nächsten Foto zwischen den Beinen der Erwachsenen durchkriecht, bist du übrigens. Warst ein wirkliches niedliches Kind. Wenn du heute so oft auf den Schoß genommen wirst wie damals, dann aber hallo – dann möchte ich deine Memoiren lesen!«

»Ich kann mich gar nicht mehr an diese Riesenpuppe erinnern.«

»Die? Das war dein Mister White. Der musste überall hin. Irgendwann wurde es deiner Mutter zu viel und Mister White ging den Weg alles Irdischen, via Mülltonne. Deine Mutter sagte, du hättest ihn immer mitgeschleppt und als deinen Bruder bezeichnet. So als ob du noch einen Zwilling von dir suchen würdest.«

Tony starrte auf den Boden und lauschte in sich, ob nicht irgendwo noch ein Klang zu hören war, der ihn mit diesem Foto verband. Dann schaute er auf die Fotografie und versuchte, Bilder und Eindrücke damit zu verknüpfen. Aber der Versuch misslang, er griff jedes Mal nur in eine Leere. Vielleicht hatte auch diese Leere, dieses Nichterinnern eine Bedeutung, sagte sich Tony. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Pillbury und Grands die neue Hausmarke zur Probe verkosteten.

Das Ergebnis war unklar, also mussten sie eine weitere Probe nehmen. Schließlich fiel Grands ein, dass auch Tony noch einen Trank zu nehmen hatte und er holte eine Flasche aus einem Kühlschrank. Der Inhalt war von derart penetrant gelblicher Farbe, dass Tony der Assoziation mit einem verstopften Bahnhofspissoir nicht entgehen konnte. Er weigerte sich standhaft, dieses Zeug zu trinken, bis Grand ihm schließlich die Nase zuhielt und ihm die Flüssigkeit gleichzeitig in den Rachen schüttete.

Tony hustete und prustete, als wäre er soeben aus einem Salzsee aufgetaucht. »Wenn das Zeug so wirkt, wie es schmeckt, hat Superman morgen Konkurrenz«, krächzte er.

»Der Doc macht gute Medizin«, schmetterte Pillbury in Rednerpose. »Medizin, die dich schneller durch die Kurven treibt. Medizinmann gut! Roaarrrr …«

 

Während Tony zuverlässig und dezent rülpsend seinem Auftrag, drei Literflaschen Mineralwasser zu leeren, nachkam, stieg bei Pillbury und Grands die Stimmung. Sie vertilgten den Inhalt der Nierenschale und Pillbury begann, unter den Argusaugen seines Lehrers Grands, mit der ersten eigenen Herstellung der Hausmarke. Das Ergebnis war zur beiderseitigen Zufriedenheit und wurde mit einem Enthusiasmus gefeiert, der lauter und echter war als der Rummel, der jährlich um den Beaujolais Primeur gemacht wird.

»Auf das Leben und die Mädels mit den langen Beinen«, brachte Grands einen Toast aus.

»Auf das Leben und die Mädels mit den langen Beinen und den dicken Möpsen«, trompetete Pillbury.

»Auf das Leben und die Mädels mit den schönen Augen«, wagte sich Tony mit einem Trinkspruch vor.

»Schnauze, Echo!«, juchzte Pillbury.

Grands machte sich anheischig, seine Putzfrau zum Zwecke einer Orgie herbeizutelefonieren.

Pillburys Begeisterung und Tony Tanners Panik schwanden, als Grands – auf Pillburys Nachfrage, die gewisse Erfahrungen vermuten ließ – das Geburtsjahr der betreffenden Dame mit Irgendwann in den 1920ern umschrieb.

Stattdessen forderte Pillbury den Doktor zu einem Rennen mit Rollbahre und Schemel heraus, was dieser auch sofort akzeptierte.

Bevor Tony einschlief, glaubte er zu hören, dass Grands dem Sieger ein »leckeres Rattenschnitzel« in Aussicht stellte.

 

Die Kollegen, die Tony Tanner am nächsten Tag auf dem Flur begegneten, konnten in dessen Gesicht kaum Spuren der Verwüstungen erkennen, die noch vor einigen Stunden von seinem nächtlichen Abenteuer zeugten.

Tony selbst wurde allerdings von einem ständigen Aufstoßen geplagt und schwor sich, nie wieder Mineralwasser auch nur anzusehen. Seine Aufgabe an diesem Tag bestand darin, aus einer Gästeliste alle diejenigen Namen zu streichen, deren Träger schon einmal durch unmoralischen Lebenswandel, unziemliche Skandale oder antiroyalistische Äußerungen aufgefallen waren. Die meisten Paradiesvögel kannte er aus dem Gedächtnis, bei anderen war ein Blick in das Archiv vonnöten.

Die Tätigkeit war nicht besonders aufregend und zu anderen Zeiten hätte sich Tony Tanner gefragt, ob hier nicht schon das erste Beben spürbar war, das durch das Auftauchen eines neuen leitenden Angestellten ausgelöst wurde. Wer wusste schon, was Heathercroft, aus den innersten Tiefen der unteren Chefgedärme heraus, an Einflüsterungen vorgenommen hatte?

Andererseits bot ihm dieses langweilige Durchsortieren und Im Privatleben schnüffeln Gelegenheit, über die letzten Tage nachzudenken.

Es kam ihn manchmal vor, als sei er ein Tourist, der im Schnelldurchgang durch eine Stadt gefahren wird, und der eine historische Monument nicht einmal genau angeschaut hat, bevor ihn der Fremdenführer auf das nächste aufmerksam macht. Da war die Geschichte mit Serebriakoff – und diese Geschichte war noch nicht einmal beendet. Im Gegenteil, sie bedeutete eine weitere Aufgabe, die ihm im Moment noch unerfüllbar schien. Wie sollte er den Maler Gainsworth und dieses Mädchen aus der geschlossenen Abteilung herausbekommen?

Und wie sollte er die grinsende Visage Heathercrofts ertragen, der ihm soeben wieder mit unerträglicher Süffisanz gemeldet hatte, dass sein Bekannter mit seinem Motorrad den Chefparkplatz nutzte?

Tony Tanner wählte die Mischung aus Bluff und harter Tour. Er drehte gelangweilt die Augen zur Decke und erklärte gravitätisch: »Pass auf, du Schleimer. Wenn du von dem Bedürfnis gequält wirst, deinem neuen Lieblingschef den Parkplatz zu retten, dann schicke ihn gefälligst zu mir, verstehst du. Sag einfach Großer und herrlicher Chef, ein Kumpel des nichtsnutzigen Tony Tanner belegt mit seinem Motorrad, das ungefähr genauso viel kostet, wie Ihr, oh göttergleicher Chef, dessen Arsch mir Heim und Heimat sei, in zwei Jahren verdient, Euren herrlichen und zu lobenden Parkplatz, der nur Euch allein zusteht und für den ich kämpfe mit dem Mut des Löwen, wenn er sich einem drei Tage alten Aas nähert, obwohl doch jeder weiß, dass Ihr stets zu Fuß zu kommen beliebt und Euch dieser Parkplatz völlig am Arsch vorbeigeht, was mich wiederum, der ich selbigen bewohne, molestiert.

Sollte sich dein herzensliebster Chef dann tatsächlich in jene nebligen Niederungen begeben, in denen Kreaturen wie ich vegetieren, dann bin ich gerne bereit, ihm persönlich näher zu bringen, dass mein Bekannter jedes verdammte Recht hat, dort zu stehen und auf Anfrage auch gerne bereit wäre, gegenüber deinem von dir angeheizten Chef dieses Recht zu belegen.

Könnte nur ein bisschen peinlich werden. Du weißt ja, wie die Jungs vom MI5 sind. Immer ein wenig mit der Nase oben, na ja dafür lauschen sie ja auch prinzliches Liebesgesäusel ab. Sonst noch Fragen?«

 

Heathercroft versuchte, seinen arroganten Gesichtsausdruck zu konservieren, wenn auch sein Kinn deutliche Schwerkraft-Effekte zeigte. Er schlenderte bewusst lässig zum Fenster und schaute hinaus.

Der Zufall war Tony günstig gesinnt, und daher stand Pillbury in diesem Moment neben seiner Maschine, in einer Rüstung aus altem Leder, die Arme verschränkt, die Beine leicht gespreizt, das Kinn energisch vorgeschoben und die Stirn in düstere Falten gelegt. Er lechzte gerade intensiv einigen kürzestberockten Sekretärinnen nach, die sich auf den Weg in ihren wohlverdienten und sicherlich anstrengenden Feierabend begaben.

Heathercroft konnte dies allerdings nicht erkennen, und so wirkte die Position Pillburys auf ihn wie eine Mischung aus Napoleon und Mussolini, jedenfalls als Lebensäußerung eines Mannes, den Körperkraft, Rücksichtslosigkeit, Brutalität, Macht und Geheimnis wie ein Aftershave umwölkten.

Tony konnte die Szenerie nicht einblicken, musste aber schließen, dass draußen ein enorm eindrucksvoller Anblick zu sehen gewesen war, denn ein sichtlich erschrockener Heathercroft verzog sich wie ein geprügelter Hund und ohne ein weiteres Wort aus dem Büro.

Die Sonne war schon versunken und ließ hinter dem Horizont noch einmal den Himmel leuchten. Im Osten lagerten einige Wolkenbänke, Gebirge aus Wasserdampf ballten sich empor und saugten ein gelblich-dumpfes Licht aus dem Sonnenuntergang. Ein Düsenflugzeug flog hoch oben in Richtung Westen. Der Rumpf erglänzte in den letzten Sonnenstrahlen, ein flirrender Nagel von Licht in den reinen Himmel geschlagen, und hinter dem Silberpunkt spreizte sich das V der Kondensstreifen, die in mattem makellosem Weiß aufleuchteten, bevor sie sich auflösten.

Tony Tanner war gebannt von diesem Augenblick einer magischen Schönheit, die sich im Gewand der Alltäglichkeit über die Stadt bewegte und ihn zu ihrem Auserwählten gemacht hatte, dem sie sich enthüllte. Es ist wie ein Engel, fuhr es ihm durch den Kopf. Wie ein Engel, gekleidet und gerüstet in himmlischen Glorienschein, der herniederstößt auf diese Stadt der Sünde und der Unwissenheit, um sie zu geißeln und zu strafen. Oder war es ein Engel, der sich niederließ in den Straßen um, hinter die Gesichter der Vorbeihastenden nach jener Sehnsucht und Weichheit und Güte zu schauen, die unter Staubschichten von Werktagen, Sorgen, Rechnungen und billigen Ablenkungen verschüttet waren? Oder war es jener Aufrührer, der sich, aus dem Himmel gestürzt, hohnlachend dieser Stadt bemächtigte, um sie zu seinem Bollwerk zu machen?

»Was guckste denn, Alter? Du kriegst noch ‘ne Nackensteife«, meldete sich Pillbury.

»Ich ergötze mich an der vergänglichen Schönheit des Augenblicks, die mich auf den Weg der Betrachtung der ewigen Dinge führt.«

»Alter, du bist doch nicht etwa schicker oder so? Hör mal, Alkohol können wir jetzt absolut nicht brauchen. Das heißt, du kannst ihn nicht brauchen, ich komm ja nicht mit.«

Das werden wir ja mal sehen, dachte Tony. Laut sagte er: »Du hattest doch gestern mindestens drei Promille. Wieso bist du jetzt eigentlich so fit, Pillbury?«

»Tja, großes Geheimnis. Der Doc und ich haben hinterher noch sein Spezialgesöff gekippt. Irre Mischung, ich war schlagartig nüchtern und hatte nicht mal ‘ne Fahne. Das Zeug säuft der Doc jeden Tag und er sagt, dass seine Leber topp in Ordnung ist, obwohl er ansonsten säuft und Tabletten schluckt wie der Teufel. Wollte mir das Rezept aber nicht verraten. Medizinmann gut, aber geizig. Egal. Ich mach erst mal ‘n Geschäft mit seiner Hausmarke. Doc’s Hammer, wie findest du das?«

»Könnte die Leute neugierig machen.«

 

Sie standen am Ufer der Themse, unterhalb einer Schnellstraße. Aus der Böschung ragte ein übermannshohes Betonrohr, das mit einem Gitter verschlossen war. Es war trocken, abgesehen von einem dünnen Rinnsal, das das Rot der Abenddämmerung widerspiegelte.

Tony schaute immer wieder in die Röhre hinein, konnte aber nach einigen Metern nichts mehr erkennen. Ein unangenehmer fauliger Hauch wehte ihm entgegen.

Stromaufwärts ragte ein kurzer Steindamm in den Fluss, und in dessen Schutz hatte das Wasser eine kleine Sandbank aufgehäuft, auf der Tony Tanner und Pillbury standen. Einige Meter über ihren Köpfen rauschte der Feierabendverkehr, der Gestank der Auspuffgase trieb abwärts und vermischte sich mit dem muffigen Dunst des Wassers. Lastwagen fegten mit heulenden Rädern vorbei, Motorräder knatterten, manchmal erklang im Vorbeirasen dumpf der Bassrhythmus eines laut abgespielten Techno-Titels aus einem Wagen. Plastikflaschen, trockenes Gras und Gestrüpp säumten die Sandbank. Eine Baustellenlampe lag halb im Sand vergraben und gab dennoch unverdrossen, wenn auch schon matt, gelb blinkende Signale.

Pillbury trat auf eine Zeitung, die vom Wind herangeweht wurde. Er hatte sein Motorrad in der Stadt auf einem bewachten Parkplatz abgestellt, sodass Tony seinen Rucksack und die Blicke der anderen Buspassagiere hatte ertragen müssen, bis Pillbury das Zeichen zum Aussteigen gegeben hatte und sie noch eine gute Strecke zu Fuß zurücklegten, wobei sie sich zuletzt zwischen Uferböschung und Leitplanke entlangdrückten.

Tony Tanner hatte sich dem Anlass gemäß ausgerüstet und bot sich dem Auge des Betrachters als eine Mischung aus Delta-Force-Kämpfer und Bergsteiger dar. Er trug eine schwarze Hose, deren insgesamt neun Taschen er nach längerer Überlegung nutzbringend mit Schokoriegeln, Erfrischungstüchern, Ersatzbatterien, Ersatzbirnen, Ersatzleuchten, chemischen Leuchtstäben, Seidentaschentüchern mit TT-Monogramm und Erste-Hilfe-Paketen gefüllt hatte. Das Ganze drückte an manchen Stellen unangenehm auf die Schenkel, aber Tony verabscheute jene Sorte von Feierabend-Abenteurern, die Hosen mit vielen Taschen tragen, ohne deren Kapazität zu nutzen. Dazu hatte Tony eine ebenfalls schwarze M-65-Feldjacke angezogen, die er sich mal auf einem Flohmarkt zugelegt hatte, weil er das Ding so zünftig fand. Auch hier fanden die zahlreichen Taschen ihren Inhalt, was im Endeffekt den Eindruck erwecken musste, dass Tony von einer Krankheit befallen war, die ihn allseits mit Beulen und Auswüchsen schlug.

Zuletzt hatte Tony einen Rucksack gepackt, ebenfalls in modischem Schwarz, in dem sich weitere Nahrungsmittel befanden, dazu Getränke, Medikamente, eine dritte Mag-Lite und eine Rapid-Fire-Leuchte, mit der man im Dunkeln jeden potenziellen Gegner derart blenden konnte, dass er für zehn Minuten außer Gefecht gesetzt war. Eine schwarze Strickmütze und derbe schwarze Schuhe vervollständigten die Ausrüstung eines Mannes, der sich bereit machte, die Tiefen der Unterwelt Londons zu erforschen.

Soweit, und das war Tony unausgesprochene, aber dennoch heiße Hoffnung, die ganze Aktion nicht doch noch platzte.

 

Pillbury kniete im Sand und las sich fasziniert einen Zeitungsartikel durch.

»Eyh, Alter, das musst du dir mal reinziehen. Also, so ‘n Ami-Schauspieler, wie heißt der Sack, Schorsch Cloney, klingt wie Clown, also der sagt, er hat schon tausend Frauen gehabt. Mal abgesehen davon, dass das keine Sau interessiert und überhaupt hat er die Schlunzen ja nicht gehabt, sondern nur ge…, ist ja klar, er hatse ja nicht geheiratet, muss du dir das mal vorstellen. Also, wie alt ist der Sack?«

Pillbury tauchte wieder nach unten und suchte, die Nase an das Zeitungspapier gedrückt, im schwindenden Licht nach der Altersangabe. »Achtunddreißig ist der alt. Achtunddreißig.«

Pillbury sprach die Zahl aus, wie eine Nonne das Wort ‘Sexualität’ sprechen würde. »Achtunddreißig. Also – lass uns mal rechnen, Alter. Also sagen wir mal, er ist mit achtzehn bereit für den ersten Stoß, obwohl der normale Brite in diesem Alter, aber na ja, er ist ja ein Ami, also achtzehn. Und jetzt isser achtunddreißig, macht zwanzig Jahre, macht zehn mal gleich …« Murmelnd und kopfkratzend vollführte Pillbury seine Rechnung, nur um sich schließlich laut lachend auf die Schenkel zu schlagen.

»Siebentausenddreihundert Tage, das muss mal sich mal vorstellen. Wenn diese Ami-Großschnauze also nur jeden dritten Tag eine Alte flachgelegt hätte, was ‘ne absolut Scheiß-Statistik ist, wenn ich das mal so sagen darf, dann wäre er auf über zweitausend Törtchen gekommen. Haha, ich krieg die Krise. Was will uns also dieser Penner sagen? Er will uns sagen, dass er sexuell unterversorgt ist. Oder er bringt’s einfach nicht. Kriegt nur alle drei Tage einen hoch. Tausend Frauen. Man müsste ihm mal ein paar Schwestern rüberschicken. Dass er nicht vor Langeweile abkratzt, ist doch alles. Der Typ ist doch ein echter Ascot.«

»Das heißt Asket, Pillbury.«

»Komm, stress hier nich rum, Alter, was du meinst, ist Schwer-Asket, klaro?«

»Schwer-Athlet, Pillbury, Schwer-Athlet.«

Pillbury stemmte die Hände in die Hüfte und schob den Kopf kampflüstern vor. »Hör mal, Alter, bist du heute mies drauf oder was? Zu wenig gepennt oder wie? Du willst mich wohl hochnehmen. ‘n Athlet ist doch so eine dicke Schwarte mit nur Landkarten drin, das kenn ich doch aus der Penne. Ich hab auch die Ohren offen gehalten, du!«

»Du hast recht, Pillbury, ich bin heute nicht so gut drauf. Liegt wohl an der schwülen Luft.«

»Ach, mach nichts, Alter! Wir alle haben mal einen miesen Tag. Man muss nur dazu stehen, wenn man Schrott labert. Tu ich ja auch. Ist auch wirklich was schwül geworden in den letzten Stunden.«

»Meinst du, der Typ kommt noch? Es ist schon fast dunkel.«

»Der kommt. Wenn er noch lebt, kommt er.«

»Wo hast du ihn überhaupt kennengelernt?«

»Er hat mich kennengelernt. Auf einer Müllkippe.«

»Oh, hast du da Kräuter gesucht?«

»Nee, nich’ so ganz. Man hat mich abgelegt, damit ich dort die Augen auf Null stellen sollte. Is’ ‘ne lange Geschichte, jedenfalls haben mich da ein paar Jungs zusammengefaltet und auf die Kippe gebracht. Und ich wär hopsgegangen, wenn mich Stalka nicht gefunden hätte. Er hat mich mitgeschleift und dann so eine Notrufsäule umgehauen. Da kam dann die Polente und hat mich aufgelesen. Stalka war natürlich weg, aber als ich wieder auf den Beinen war, bin ich wieder zu der Kippe, ‘ne ganze Woche hintereinander und da ließ er sich mal blicken. So lernten wir uns kennen.«

»Und dann?«

»Was dann?«

»Ich meine, ihr habt euch kennengelernt und was dann?«

»Na ja, ich hab’ ihm von Zeit zu Zeit ein paar Sachen besorgt. Medikamente oder was zu Mampfen oder ein paar Klamotten.«

»Wieso geht dieser Stalka nicht zu irgendeiner Wohltätigkeitsorganisation, statt auf Müllkippen zu wühlen.«

Pillbury zupfte sich an der Nase und überlegte. »Tja, weißt du, Alter. Das ist eben nicht so ein normaler Penner. Der ist ein bisschen härter drauf, verstehst du? Der lebt wirklich nur im Kanal und hat Angst vor Menschen. Kann sein, dass ich und du dabei die einzigen Ausnahmen sind.«

»Soll das heißen, dass es von diesen Typen noch mehr gibt?«

»Zwangsläufig. Stalka hat mir gesteckt, dass er dort unten geboren worden ist!«

Tony Tanner senkte resigniert den Kopf und drehte sich zur Seite. »Ich kann es nicht glauben. Das ist mir einfach zu abgefahren. Ich meine, wir stehen hier, über uns fahren die Autos, man kann Flugzeuge hören und Schiffe und du willst mir weismachen, dass hier irgend so ein Völkchen im Kanalsystem unter London haust?«

»Exakto Bingo, Alter. Sie nennen sich übrigens Olms – findest in keinem klugen Buch und in keinem Athleten. Und jetzt halt die Klappe, ich höre was!«

 

Vielleicht hatte Pillbury wahrhaftig das bessere Gehör, vielleicht lag es aber auch an der Mütze, die sich Tony über die Ohren gezogen hatte, dass er noch kein derartiges Geräusch vernahm. Ein Frachtkahn zog, begleitet vom Hämmern seines Schiffsdiesels, vorbei und warf kleine, eilige Wellen an die Sandbank. Die Hoffnung, dass sich Pillbury getäuscht hatte, verflog in dem Moment, in dem auch Tony deutlich Schritte aus der Röhre hören konnte. Es waren kleine, hastige Schritte, die sich schnell näherten und achtlos durch das Wasser am Grund der Röhre patschten.

»Griessä«, tönte eine Stimme aus der dunklen Röhre.

Bevor Tony seine Lampe in Position bringen konnte, drückte Pillbury seinen Arm herunter. »Lass mal, Alter, wenn du mit deiner Festbeleuchtung ankommst, kriegt er nur ‘n Schreck.«

So wartete Tony in der Dunkelheit, die durch das nebelhafte Vorbeirasen der Scheinwerfer auf der Straße nur noch dichter wirkte. In diesem Moment hasste er diese dichte schwarze Watte, in die er hilflos eingesponnen war. Er hörte, wie das Absperrgitter quietschend hochgeklappt wurde, als wäre es eine Türe. Die Schritte tappten über das restliche Stück der Röhre und knirschten dann über den Sand.

Tony konnte die Gestalt nicht sehen, aber er konnte sie riechen. Ein deutlicher Geruch von Ammoniak ging von ihr aus.

»Griessä«, wiederholte Stalka. »Hasse Licht? Musse nich in meine Richtung tun, is sonst mies für die Gucker.«

Tony nickte, und als er sich bewusst wurde, dass keiner im Dunkeln diese Kopfbewegung erkennen konnte, sagte er laut: «Alles klar. Darf ich jetzt Licht anmachen?«

»Mach ma.«

Den Lichtkegel seiner Lampe nach unten, auf den schmutzigen Sand gerichtet, hatte Tony noch einmal Gelegenheit, sich Stalka anzuschauen. Seine gestrigen Beobachtungen schienen ihm nun recht lückenhaft, durch die Umgebung beeinflusst oder auch durch den Umstand, dass ihm die Nervosität angesichts eines Kampfes durch die Adern pulste. Jetzt bemerkte er, dass Stalkas Gesicht Züge aufwies, die an einen australischen Ureinwohner oder an einen Bewohner Neuguineas erinnerten. Aber die breite Nase mit den riesigen Öffnungen war ungewöhnlich flach und dazu so hoch im Gesicht, dass sie fast zwischen den Augen stand. Dafür war der Bereich zwischen Nase und Oberlippe außerordentlich weit und wurde noch durch zahlreiche senkrechte Falten beiderseits der Mittelkerbe betont. Unter dem breiten Mund hing ein gewaltiges Kinn, das jeden Urgeschichtsforscher in Verzückung versetzt hätte.

»Gehnwa«, sagte Stalka knapp und wendete sich dem Eingang der Röhre zu.

»Halt, halt«, Pillburys Stimme hatte einen eifrigen Klang, »ich komme nicht mit. Ist ja auch gar nicht nötig.«

»Sicha kommsse mit, bissen Gutboi.«

»Ja, freut mich, dass ich ein Gutboi bin, du bist auch ein guter Kumpel, aber der hier ist auch ein Gutboi, schließlich hat der seinen Kopf riskiert, um dich aus dieser miesen Lage rauszukriegen.«

Inzwischen hatten sich Tonys Augen an das spärliche Licht der abwärts gerichteten Lampe vollständig gewöhnt. Er sah, wie sich Stalka ihm zudrehte und ihn musterte.

Stalka tat das ohne Misstrauen und Hast, mit der Selbstverständlichkeit eines Kindes. Er blickte Tony unverwandt aus seinen rötlichen Augen an. Dann verzog er den faltenumgebenen Mund zu einem Lächeln. Er hatte ein vollständiges Gebiss mit kräftigen Zähnen, unter denen besonders die Eckzähne durch ihre Übergröße auffielen.

Paviangebiss, dachte Tony.

Stalka klopfte Tony auf die Schulter. »Bissen Gutboi und nich son Oberste. Abba du komms auch mit«, fügte er zu Pillbury gewandt hinzu.

Pillbury begann sich zu winden. »Ist doch nicht nötig, und ich bin heute auch nicht so fit und …«

»Kommse mit, sons is nich. Zwei Gutboi is genug nich, müssen drei Gutboi sein, sons is sichanich, wo Miese inner Gegend sin.«

»Miese sind in der Gegend!«, keuchte Pillbury.

»Miese sind da, is schnuppe wennse drei Gutbois has, aber zwei sin gutnich.«

»Alles klar, ich habe also wieder mal die Arschkarte. Wieso mache ich das jetzt eigentlich? Ich bin schweinereich, ich hab die Lizenz für Doc’s Hammer und überhaupt und sowieso und außerdem. Na ja, ich bin einfach zu gut für diese Welt. Schieb mal ‘ne Leuchte rüber, Alter. Na, was ist, können wir jetzt endlich gehen?« Pillbury spuckte kräftig aus.

 

Sie betraten die Röhre und tappten in die Dunkelheit. Stalka zog eine winzige zerbeulte Lampe aus seiner Tasche, deren Glühfaden ein schwaches Licht aussandte. Er wandte sich an seine Begleiter. »Hier is gut, aber weiter weg müssma vorsichtn, wo Miese vielleicht sind. Wennse n Miesen seht, müsster höppseln oda droscheln. Imma hinta mich her, dann is alles fein.«

»Was ist höppseln und was ist droscheln?«, flüsterte Tony in Pillburys Ohr.

»Merk dir die Ausdrücke besser, Alter. Du bist hier nicht mehr in London, du bist hier im Dschungel. Ich hab mich bisher nur ein paar Meter weit in das Kanalsystem getraut, aber das weiß ich immerhin schon. Höppseln bedeutet, dass du abhaust, so schnell du kannst. Und droscheln bedeutet, dass du dich zum Kampf stellst.«

Stalka hatte das geflüsterte Gespräch verstanden, obwohl er schon etliche Meter weiter gegangen war. »Höppseln is bessa«, sagte er. »Wennse weißt, dann machse Höppseln und tus dir nich an. Rennse n paar Schritte un alles fein. Olmse machn Höppseln. Gibt aba n paa Gutbois, wo Droscheln mehr lieb tun. Gutnich, ich tu mehr lieb. Höppseln. Un nu is stillen, ich muss guthörn tun.«

Der Röhreneingang hinter ihnen war nur noch als grauer, nadelgroßer Punkt erkennbar.

Tony fror, obwohl die Luft von einer dumpfen, klebrigen Wärme war. Sie legte sich schwer auf die Lungen und hinterließ einen öligen Geschmack auf der Zunge. Die Schritte der drei Männer hallten von der Betonröhre wieder und pflanzten sich als vibrierendes Echo in die Dunkelheit fort.

Stalka blieb stehen, Tony konnte noch anhalten, aber Pillbury lief auf ihn auf und fluchte, was sein Cockney-Slang hergab.

»Mensch Alter, was musst du auch rumrennen wie ein Beerdigungsunternehmer. Schwarz, so ein Schrott.«

»Ich dachte, das wäre praktisch«, lautete Tonys lahme Verteidigung.

»Du glotzt zu viele Schrottfilme, Alter. Das ist dein Fehler. Hier geht es nicht darum, dass du dich im Dunkeln an einen Gangster ranschleichst und ihm eins überbrätst, hier musst du gesehen werden. Und die Klamotten, egal ob Schwarz oder Rosa oder Weiß, musst du hinterher sowieso dreimal hintereinander in die chemische Reinigung geben, darauf kannst du einen lassen.«

Ein leises Geräusch wurde vernehmbar. Im Näherkommen wurde es zu einem Rauschen, das lauter und lauter wurde und schließlich dröhnte wie ein Gebirgsbach, der nach einem Gewitterregen zu Tal stürzt.

»Wennse da reinkomms, bisse n Langschläfa«, erläuterte Stalka.

Tony leuchtete in den Seitengang, aus dem das Donnern erklang. Ein feuchter Nebel stieg aus der Öffnung. Im Lichtkegel seiner starken Lampe sah er einige Meter unterhalb ihres Standortes einen ovalen Tunnel, durch den mit gewaltiger Wucht bräunliches Wasser schoss, sich in einem Becken zu einem gurgelnden Strudel verwirbelte und dann über einige mannshohe Stufen weiter in die Tiefe rauschte. Von den Seiten ergossen sich baumstarke Wasserstrahlen in den Hauptstrang. Gelblich-braune Schauminseln trieben auf der Oberfläche und wurden in den Strudel gesogen.

Fasziniert und zugleich angewidert schaute Tony auf das Schauspiel. Dann bemerkte er, wie sich der Nebel auf seinem Gesicht niederschlug und er wandte sich mit einem Schaudern ab und trabte hinter Stalka her.

Der schlug nun ein scharfes Tempo an, bei dem Tony und Pillbury schon bald in Schweiß ausbrachen.

Pillbury keuchte noch lauter als Tony. Seinen Schritten war anzumerken, dass er seine Kräfte allmählich schwanden.

Stalka wandte sich zu den anderen beiden, ohne dabei auch nur um einen Schritt langsamer zu werden: »Müssma flotten, weils n weiter Weg is.«

Sie folgten der scheinbar endlosen Röhre bis zu einer Verzweigung. Dort krochen sie ein steiles, enges Rohr hinauf und trabten einen Abwassertunnel entlang. Links und rechts des oval gemauerten Tunnels waren schmale Gehwege. In der Mitte rauschte das Abwasser. Ein lauwarmer Dunst schlug sich auf dem Glas der Taschenlampen nieder. Die Ziegel der Tunnelwände glänzten vor Feuchtigkeit. Aus Nebenröhren rieselte und pladderte schmutziges Wasser. Die glühenden Augen von Ratten erschienen am Rand des Lichtkegels, bevor die schwarzen Schatten pfeifend und quiekend in Ritzen verschwanden oder sich mit einem laut schallenden Platschen ins Wasser flüchteten.

Einmal entdeckte Tony etwas anderes – zuerst waren nur Wellen zu sehen, die die glatte dunkle Oberfläche des rasch strömenden Abwassers durchbrachen. Dann wurde ein lang gestreckter Rücken sichtbar. Bevor Tony mit dem Lichtkegel der Lampe folgen konnte, schoss das Wesen aus dem Wasser, rannte mit dem Patschen breiter Tatzen über den Gehweg der anderen Seite und stürzte sich in einen Nebengang, sodass Tony gerade noch den Eindruck mitnehmen konnte, hier habe sei eine Welle lebendig geworden.

»Was war das?«, fragte Tony. Er bemühte sich erst gar nicht, seiner Stimme die Besorgnis zu nehmen.

»Was wohl? ‘ne Ratte«, knurrte Pillbury zwischen keuchenden Atemzügen hindurch.

»Das Vieh war so groß wie ein Hund«, gab Tony zu bedenken.

»Weißt du eigentlich, wie fett Londoner Kanalratten werden können? Da ist ein Ferkel nichts dagegen.«

»Das Vieh hatte aber mindestens Schäferhundgröße«, beharrte Tony.

Pillbury gab keine weitere Antwort, und auch Tony hatte kein Bedürfnis darüber nachzudenken, welche Fauna sich im System des urbanen Untergrundes entwickelt haben mochte.

»Nu mach aba ma«, trieb Stalka sie an. Alleine schon die panische Angst, ihren Führer zu verlieren, trieb Tony und Pillbury weiter.

Fionulla, du dreckige V… stand mit einem spitzen Gegenstand in die Ziegel gekratzt, daneben die Jahreszahl 1879. Auch Pillbury hatte die Schrift gesehen und machte sich laut keuchend Gedanken darüber, dass hier der Urvater aller Graffitikünstler gefunden worden sei, während Tony ein derartig öffentliches Intim-Bekenntnis als Vorläufer aller Fernseh-Talkshows dieser Welt wertete.

 

Das Gespräch lenkte sie für eine Weile wohltuend ab, dann verfielen sie wieder in Schweigen und konzentrierten sich darauf, Schritt vor Schritt zu setzen und auf dem glitschigen Untergrund nicht auszurutschen. Zeitgefühl und Orientierung waren Tony schon längst verloren gegangen. Der Schweiß rann ihm in die Augenwinkel, sein Rucksack drückte und scheuerte an dem schweißdurchnässten Rücken der Jacke. Er verfluchte die vollgepackten Taschen seiner Hose und seiner Jacke, mit denen er beständig hängen blieb und an der Wand entlangscheuerte. Einmal wäre er deswegen fast in die Abwasserrinne geglitten, als er an einem vorspringenden Stein ausweichen wollte, einen unbedachten Seitschritt machte und abrutschte.

Pillbury hatte zum Glück blitzschnell den Rucksack zu fassen gekriegt und Tony wieder in das Gleichgewicht gebracht.

»Mein neuer Extremsport – ich schwimme in Scheiße«, lautete Pillburys feinsinniger Kommentar.

»Musse vorsichtn«, mahnte Stalka, der die Szene aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, zu Tony. »Fluss is so«, und Stalka hob die rechte Hand am ausgestreckten Arm waagerecht über den Kopf. Von jetzt ab warf Stalka ihm von Zeit zu Zeit wachsame Blicke zu und warnte mit einem »Musse vorsichtn. Is festnich« vor unsicheren Stellen.

Sie wechselten mehrmals die Gänge, waren gezwungen, längere Strecken in gebückter Haltung zurückzulegen, wobei ihre Schultern an den Wänden entlangscheuerten und jedes noch so leichte Kopfheben zum sofortigen schmerzhaften Anstoßen an der glitschigen Decke führte, kletterten auf allen vieren schräge Verbindungsrohre hoch und zwängten sich bäuchlings durch verschlammte Durchbrüche.

Tony spürte, wie der stinkende Schlamm seine Kleidung durchdrang und mit der Nässe der verschwitzten Wäsche verschmolz. Er lag ausgestreckt in völliger Dunkelheit, die Arme nach vorne gestoßen wie ein Springer und versuchte durch robbenartiges Zusammenkrümmen und Vorwärtsschieben mit den Schuhspitzen weiterzukommen. In den Händen hielt er die Lampe, die hier völlig nutzlos war, und mit ihr schubste er den Rucksack Stückchen für Stückchen vor sich her. Er wusste nicht, wie lange er sich noch derart weiterquälen musste, denn er hatte nicht genügend Platz, um den Kopf zu heben.

Plötzlich verharrte er zur Salzsäule erstarrt. Die Röhre vibrierte. Er konnte es deutlich spüren. Die Vibration erfasste die gesamte Wand und pflanzte sich in seinen Körper fort, sodass er mit verkrampften Nackenmuskeln den Kopf an die Decke presste, um nicht mit dem Gesicht in den Schlamm gestoßen zu werden. Dann hörte er ein Geräusch. Es war ein hartes metallisches Rauschen, unterlegt mit einem harten, polternden Rhythmus.

»Was ist das?« Seine Stimme klang dumpf und dröhnte ihm selbst schmerzhaft in den Ohren. Er musste einen Anfall von Panik unterdrücken und robbte und zuckte dann umso hektischer weiter.

Schließlich verschwand der Rucksack, Stalkas Hände ergriffen Tonys Hände und zogen ihn aus dem Rohr. Pillbury hatte sich noch rechtzeitig an Tonys Schuhen festgeklammert und wurde mit herausgezogen.

»Was war das?«, wiederholte Tony seine Frage.

»Hamm wa hiern Echo? Mensch Alter, schon mal was von U-Bahn gehört? Du hast mir mit deinem Gegröle fast das Trommelfell zerfetzt! Wenn du keine Nerven hast, dann geh’ zu den Mädchen, Ringelrein spielen!« Pillbury war höchst ungnädig, was Tony nähere Informationen über die Phonstärke, die er eben erreicht hatte, gab.

»Rednich, gehnwa!«

Wasser tröpfelte von oben. Immer wieder war das Huschen und Rascheln von Ratten zu hören. Stalka machte urplötzlich zwei große Schritte, wütendes Quieken erklang, das sich zu schriller Panik steigerte und mit einem Knochenkrachen abbrach. Stalka wog etwas in der Hand und steckte es dann in seine Tasche.

Tony verzichtete darauf, nähere Überlegungen über die Art dieses Gegenstandes anzustellen. Er konzentrierte sich nur noch darauf, seinen Ekel unter Kontrolle zu halten und ihm nicht zu erlauben, vollständigen Besitz über seine Gedanken zu bekommen. Es fiel ihm nicht leicht.

Seine Kleider war steif von angetrocknetem Schlamm, auf seinen Fingern und der Gesichtshaut klebte eine Schmutzschicht, seine die Haut juckte. Im Licht der Taschenlampe schienen die Finger nur noch aus abgestorbenem schwarzem Gewebe zu bestehen. Tony lenkte die Lampe zurück auf die feuchte Mitte der Röhre. Blätter, Gras und anderer Unrat hatten sich zu knotigen Haufen ineinandergeschlungen, die immer wieder als Stolperfallen wirkten.

Schlimmer noch war ihre Wirkung auf die Einbildungskraft, denn im schwankenden Licht riefen sie immer aufs Neue Bilder kauernder Tiere und anderer Schreckgestalten hervor. Bei jedem Schritt musste Tony diese Bilder zurückdrängen. Und dennoch spürte er, wie sie sich näherten.

Es schien, als wären sie in das Reich dieser Alpträume eingedrungen und als forderten die Schrecken des menschliche Unbewussten drängend und immer drängender ihren Wegzoll.

 

Das Licht der Lampe war der letzte Anker, der die Gedanken noch zurückhielt, bevor sie wie steuerlose Schiffe jenem Abgrund zutrieben, den die alten Seefahrer nur zu genau kannten – dem Abgrund am Ende der Welt, hinter dem der Sturz in die ungemessenen Tiefen des Schreckens wartete, wo kein menschliches Wissen und keine Theorie kluger Köpfe auch nur ein Hohnlachen wert waren. Die Schatten der drei Gestalten tanzten in absurden Verrenkungen über die Wände. Manchmal zuckte Tony zusammen, weil Pillbury die Position seiner Lampe geändert hatte und ihn der eigene Schatten plötzlich an unerwarteter Stelle begleitete. Eingekesselt in eine Blase von Licht schoben sie sich wie Taucher in der Tiefsee vorwärts.

Dann konnte Tony Verkehrsgeräusche unterscheiden. Er lauschte mit neuer Konzentration. Tatsächlich, direkt über ihnen dröhnte der Verkehr. An einigen Stellen, wo Zugangsschächte nach oben führten, konnte er sogar den gelben Schein von Straßenlampen erahnen. Die Nähe zur Oberfläche hatte etwas Beruhigendes. Allerdings ließ Tony Tanners Beruhigung merklich nach, als er den blauen Abgasdunst sah, der durch die Kanaldeckel nach unten waberte und den Lichtkegel seiner Lampe in breite Streifen zerfaserte. Hinter ihm begann Pillbury zu husten. Die anderen mussten stehen bleiben, während er um Luft rang und lautstark Schleim ausspuckte.

Stalka schüttelte den Kopf. »Is gutnich. Musse vorsichtn. Bisse leisenich un alle Miesen hörn dich! Spakkenboi!« Stalkas Stimme verriet Nervosität.

Ganz ruhig bleiben, immer schön die Gedanken beisammen und eins und zwei, Mary had a little Lamb, welche Maße hat Lollo Ferrari und wie waren noch die Ergebnisse des letzten Spieltages der Premier League? Tony klopfte Pillbury auf den Rücken und versuchte mit ernsthafter Konzentration, sich an die letzten Spiele zu erinnern.

Dann zuckte er zusammen, als direkt über ihm die Räder eines Lastwagens über einen Kanaldeckel ratterten.

Pillbury spuckte und drückte dann den Daumen an einen Nasenflügel. Mit trompetendem Geräusch blies er die Nase frei und entledigte sich mit einem wütenden Handschlenkern der grünlichen Masse, die seine Atemwege verstopft hatten.

»Gehnwa. Un nu is leise, sons is gutnich un wir müssn höppseln.«

Und so gingen sie weiter, durch enge Stollen, durch Tunnel und Röhren und über Leitern immer tiefer in die Erde.

Tony überkam die Vision, dass er in einem riesigen, schwarzschlammigen Laufrad war, in dem er sich Ewigkeiten vorwärtsbewegen konnte, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen.

Er schaute auf die erleuchtete Wegstrecke vor sich, versuchte, den Hindernissen auszuweichen und dem leisen Schrecken, der in ihren unklaren Konturen, in ihrem springenden Schatten lag, zu begegnen.

»Simmer da«, sagte Stalka.

 

Tony Tanner war derart auf sein eigenes Gehen konzentriert, dass er sich wie in einer Taucherglocke vorwärtsbewegt hatte. Die Worte Stalkas brachten diese Schutzhaut zum Zerreißen. Tony ließ den Lichtkegel umherschweifen. Das blauweiße Licht fiel auf Pillbury.

»Mensch Alter, nimm die Funzel runter, ich bin schon halb blind. Wo bin ich denn jetzt reingelatscht? Oh Gott – mir wird schlecht.« Pillbury warf die Lampe weg, stemmte sich breitbeinig mit beiden Armen gegen die Wand und wurde von Krämpfen geschüttelt, während er sich erbrach. Tony senkte die Lampe. Ihr Lichtkegel entriss der Dunkelheit etwas, was Tony zwar sah, aber nicht verstand. Die Bilder drangen nicht bis zum Ort der Verstehens vor. Sie spazierten durch seine Augen und füllten seinen Kopf und stauten sich wie die giftig braunen Fluten eines geschwollenen Flusses, bevor sie den Deich zertrümmerten. Atemlos blieb er auf der Stelle stehen und drehte sich um die eigene Achse.

Er durfte es nicht verstehen. Etwas, – etwas, das wie ein Beschützer seines Verstandes wirkte – stemmte sich gegen die Tatsachen. Dieses Etwas wollte die Bilder verschwinden lassen, ihre Fluten umlenken in die endlosen Kavernen des Vergessens, wo sie ruhen mochten bis zum Ende des Daseins von Tony Tanner, machtlos und ungefährlich und gerade gut, um unruhige Nächte mit einem Alptraum zu vergiften.

Tonys stieß den Atem aus. Eine weiße Wolke schwebte durch das Licht. Warum war es hier so kalt? Ihm schauderte. Aber warum? Woher diese Kälte? Seit Stunden (oder waren es Tage – oder nur Minuten?) stolperten sie durch die laue Wärme eines Gewächshauses, und nun überfiel ihn diese Kälte. Pillbury würgte und stöhnte. Stalka zog sich in einen Nebenstollen zurück, griff in die Tasche und nagte schmatzend an seiner Jagdbeute.

Tony schaute sich hilflos um. Langsam begann die Situation die kristallene Härte des Wirklichen zu erlangen. Die Wirklichkeit begann zu wachsen. Sie wuchs herab von der Kuppeldecke, unter der er stand, kam ihm näher, drückte mit Gewalt auf seinen Schädel und sickerte in seine Gedanken. Tony bewegte vorsichtig einen Fuß. Sein Körper gehorchte ihm.

Er stellte es mit Befriedigung fest, in die sich Verwunderung mischte, so als hätte dieser Ort tief in der Erde alle Selbstverständlichkeiten und jede Gewissheit aufgesogen. Seine Hand begann zu zittern und teilte dem Lichtkegel der Lampe ihre Zuckungen mit. Das Licht sprang über ein menschliches Bein, ertastete einen Oberkörper und blieb auf einem halb abgenagten Schädel fixiert.

Der Mund war eine klaffende Spalte, aus der ein immerwährender, unhörbarer Schrei zu entspringen schien. Ein daumendicker schwarzer Käfer, dessen Panzer im Licht bunt schillerte, krabbelte zwischen den Zahnreihen hervor und flüchtete sich zurück in die Dunkelheit.

Jetzt bemerkte Tony auch den Geruch – süßlich und in der ersten Sekunde an den Duft eines Blütenfeldes im Sommer erinnernd, um dann umzuschlagen in eine Quelle des Ekels und des Abscheus. In dem Moment, in dem sich Tony des Fäulnisgestanks bewusst wurde, drückte er in seine Nase, als würde ihm jemand ein damit getränktes Tuch gegen das Gesicht pressen.

 

Tony atmete hektisch durch den Mund. Sein Atem kondensierte und stieg als träge Wolke empor. Er befand sich in einem großen Kuppelraum. Rundum lief ein senkrechter Streifen von Mannshöhe, auf dem die Wölbung der Wände ansetzte. Oben bildete ein runder Stein den Abschluss der Kuppel. Zahlreiche Stollen mündeten in den Raum. Da sie zu zweit, manchmal sogar zu dritt übereinander die Wände durchbrachen, vermittelten sie den perversen Eindruck eines von Galerien umzogenen Kirchenraumes. Der Boden war von Leichenteilen bedeckt.

Als Tony eine ruhige Hand gewonnen hatte und den Lichtschein wandern ließ, schienen die halb verwesten Glieder wieder zum Leben zu erwachen. Zuerst glaubte Tony, es seien die Schatten, die die Täuschung einer Bewegung hervorriefen. Dann sah er in den Augenwinkeln etwas zucken und huschen. Sein Herz blieb fast stehen, um im nächsten Moment loszupoltern.

Es war eine Ratte. Eine von einigen Dutzend, die sich hier zum Fraß niedergelassen hatten und mit trägem Desinteresse auf die Störung reagierten. Das Licht der Lampe ließ ihre Augen kalt und boshaft leuchten. Ihre Nasen hoben sich und witterten zuckend, die Barthaare vibrierten. Mit Erschauern stellte Tony fest, dass einige Exemplare die Größe eines Terriers erreichten.

»Stalka!« Tonys begann mit einem krächzenden Flüstern, dann bekam seine Stimme einen kreischenden Ton. »Stalka, tu was, scheuch diese Viecher weg!«

Stalka knurrte aus seinem Stollen heraus und schien nicht zu reagieren. Dann schleuderte er sich mit einer einzigen Bewegung in die Luft und landete direkt hinter der größten Ratte.

Bevor das Tier reagieren konnte, hatte Stalka es im Nacken gepackt, schüttelte es und hielt es hoch. Die Ratte begann schrille, quiekende Geräusche auszustoßen. Die hastig ausgestoßenen Töne schmerzten in den Ohren. Tony wollte sich instinktiv die Hände vor die Ohren pressen, schlug sich dabei selbst die schwere Lampe vor die Schläfe und stürzte den Raum in Dunkelheit, als der Lichtkegel gegen die Decke taumelte. Mit einem Mal gab es ein Rauschen und Huschen, ein kaum wahrnehmbares Wispern und Knistern, und die Nager verschwanden.

Stalka schleuderte die Ratte in den Stollen, in den die anderen Tiere geflohen waren, und zog sich wieder zurück. Man konnte das hektische Kratzen von Krallen auf dem Ziegelboden hören, tappende Sprünge, dann herrschte Stille. Wo bin ich, diese Frage hämmerte durch Tony Tanners Kopf. Die banale Antwort Irgendwo im Londoner Kanalsystem zählte nicht.

Nein, er war anderswo. Dieser Ort hatte nichts mehr mit der Erde zu tun, die die Menschheit erforscht, erobert und bewohnt hatte. Dieser Ort gehörte zu einer anderen Welt, zu einem Kontinent des Bösen, an dem alle menschlichen Möglichkeiten des Verstehens scheiterten.

Diese Erkenntnis erhöhte Tonys Hilflosigkeit bis ins Erstickende.

Pillbury stöhnte und lehnte sich schwer gegen die Wand. Du musst dich zusammenreißen, hämmerte es durch Tonys Gedanken. Er durfte sich nicht anstecken lassen von dem Pesthauch, der durch diesen Raum zog. Vernünftig handeln, nachdenken, Schlüsse ziehen. Er musste seinen Verstand beisammenhalten. Wie viele Menschen mochten hier gestorben sein?

Mechanisch und pflichtgemäß stellte sich Tony die Frage und erkannte, dass sie nicht zu beantworten war. Menschliche Arme und Beine, Köpfe und Rümpfe waren wie Puppenteile verstreut. Die Ratten hatten die Überreste zum Teil bis auf das weiß schimmernde Knochenskelett abgenagt, teils ragten diese Knochen wie Stäbe aus einer blasigen, faulig schimmernden Masse verwesenden Fleisches heraus.

Es waren nicht die Aasfresser gewesen, die die Arbeit des Zerstückelns übernommen hatten.

Tony erblickte einen Arm, der noch im Stoff eines Jacketts steckte. Der Saum zeigte, dass hier brutale Gewalt gewirkt hatte und nicht die Nagezähne von Ratten. Tony stolperte durch den Raum, klammerte sich an seine Lampe und suchte in den Resten von Kleidungsstücken nach Ausweispapieren. Er hatte nicht damit gerechnet, fand aber tatsächlich ein halbes Dutzend Personalausweise. Manche waren angenagt, aber alle waren noch lesbar.

»Wir müssen irgendetwas machen«, sagte Tony.

»Ja, Alter, wir müssen die Kurve kratzen, bevor ich mich selbst auskotze«, würgte Pillbury.

»Wir müssen ein Gebet sprechen oder so etwas.«

»Du willst doch nicht diesen Fleischsalat bepriestern, Alter. Lass uns abziehen, damit können wir der Menschheit einen echten Dienst erweisen.«

»Gehnwa«, meldete sich Stalka. »Hier is gutnich und wir ham n langen Rückweg.« Ohne sich umzudrehen wandte er sich einem Stollen zu und lief voran.

»Wir sind aber durch einen anderen Gang gekommen«, rief Tony.«

»Hasse recht, aba is gutnich, zweimal gleichgehn!«

 

Nach wenigen Schritten umfing sie wieder die dumpfe Wärme, die sie bisher stets begleitet hatte. Stalka führte sie durch einen halb eingestürzten Schacht nach oben. Sein Rucksack war wieder für Tony alles andere als eine Erleichterung. Immer wieder rammte er damit gegen vorstehende oder herabhängende Wandstücke, wurde brutal zurückgerissen, wenn der Rucksack hängen blieb, und dann lief Pillbury auf ihn auf und hauchte ihm seinen, säuerlich nach Erbrochenem stinkenden Atem ins Gesicht. Sie gelangten zu einem Stollen, durch den Rohrleitungen führten. Im Vergleich zu den Wegen, auf denen sie bisher gegangen waren, wirkte dieser Stollen wie eine Autobahn.

Manchmal war von fern oben der Lärm des Straßenverkehrs oder eines Schienenfahrzeugs zu hören. Die Rohrwände waren trotz einer Isolierschicht so warm, dass Tonys Hand bei einer Berührung instinktiv zurückzuckte. Das Metall knackte, und regelmäßige pochende Geräusche erklangen aus dem Inneren der Rohre.

Dann blieb Stalka unvermutet stehen und hob die Hand vor den Mund. Er lauschte und wendete dabei langsam den Kopf, als müsste er sich über eine Richtung klar werden.

Jetzt hörte Tony es auch. In das regelmäßige Pochen mischten sich andere Klänge. Drei Schläge, Pause, drei Schläge, Pause – Tony atmete auf. Es klang mechanisch. Es musste etwas Mechanisches sein. Irgendeine Pumpstation oder eine Entnahmestelle der Rohrleitungen.

Drei Schläge. Die nachfolgende Pause war länger als die vorigen, dann begann ein schneller Schlagwirbel. Für einige Sekunden schaffte es Tony, sich der Erkenntnis zu verschließen, dass die Geräusche näher kamen.

»Miese«, sagte Stalka. »Gehnwa schnellmehr.« Er setzte sich in Bewegung und Tony und Pillbury versuchten, Anschluss zu halten.

»Was sind Miese« keuchte Tony zu Pillbury gewandt.

»Wenn wir hier jemals rauskommen, kannst du dir mein Schienbein anschauen.« Pillbury stieß die Worte zwischen einzelnen pfeifenden Atemstößen hervor. Tonys Unverständnis war ihm wohl am Hinterkopf anzusehen, denn Pillbury bemühte sich um eine weitere Erklärung, die allerdings für Tony immer noch schwer verständlich ausfiel. »Hab dir doch von der Müllkippe erzählt, Alter. Da war ‘n diese Miesen und haben mich schon angeknabbert. Na ja, ich hab geblutet wie Sau und da haben sie mich erst mal abgeleckt. Bis Stalka dann auftauchte. Hat mich wohl schreien gehört. Kann froh sein, dass keine Tussi in der Nähe war. Hätte sich rumgesprochen und ich wär bei allen Mädels unten durch gewesen. Bin nicht der Typ, der sich heldenhaft auffressen lässt.«

Tony wünschte, er wäre nicht so neugierig gewesen. Mit eingezogenen Köpfen rannten sie jetzt an den Rohren entlang. Die Klopfsignale steigerten sich zu einem scheppernden Wirbel, der an Kriegstrommeln erinnerte. Und mit jedem Schritt kamen sie der Quelle dieser Signale näher. Die Schläge dröhnten durch den Stollen, rauschten an ihnen vorbei und verloren sich in der Dunkelheit. Sie vereinten sich mit dem hämmernden Pulsschlag in Tonys Kopf, während er durch das Dunkel rannte und im schwankenden Licht versuchte, Stalkas Gestalt nicht entwischen zu lassen. Das alles wirkte wie ein schlechter Traum, das Alles war nur in seinem Kopf und er brauchte nur die Kraft zu finden, den Schlaf von sich zu schütteln und zu erwachen.

Pillbury warf sich gegen Tony Rucksack. »Mach hinne, Alter, jetzt ist nicht die Zeit für Päuschen!«

 

Stalka verschwand in einem Seitenstollen. Tony wäre fast an dem dunklen Loch vorbeigerannt und musste abrupt bremsen. Fluchend rammte ihn Pillbury ein weiteres Mal.

Es ging schräg herunter. Sie rutschten, auf Füße, Gesäß und Hände gestützt, verloren die Kontrolle, wurden von der Geschwindigkeit mitgerissen und landeten in einer aufspritzenden Lache aus kotigem Schlamm. Sie rappelten sich auf und liefen durch den niedrigen Stollen, immer wieder auf dem schlüpfrigen Untergrund ausrutschend und nach Halt suchend. Dann hielten sie an. Ihr keuchender Atem war so laut, dass kein anderes Geräusch durchdringen konnte und so ließen sie sich in den Schlamm fallen und versuchten, wieder zu Kräften zu kommen. Auf ein Zeichen Stalkas hielten sie den Atem an und lauschten. Weit entfernt war noch ein Klopfen vernehmbar.

Befriedigt nickte Stalka mit dem Kopf. »Könnwa jez gehn, müssma abba anders gehn.«

Ein anderes Geräusch drang an Tonys Ohr. Ein fernes Grollen war es und er wusste jetzt, dass die Untergrundbahn irgendwo in der Nähe gefahren war. Der Gedanke, dass jetzt sauber gekleidete Nachtschwärmer auf Plastiksitzen durch unterirdische Röhren transportiert wurden, hatte einen durchaus beruhigenden Reiz.

Sie folgten dem verschlungenen System der Kanalisation, stiegen die großen Tunnel entlang, durch die das Abwasser wie ein schwarzer Fluss gurgelte, und drängten sich wieder durch enge Zuläufe nach oben. Wasser rieselte platschend aus Deckenrohren. Die Luft war feucht und schwer von süßlicher Fäulnis.

Die Schuhe platschten durch Wasserlachen. Dann schien sich das Geräusch des Rieselns zu steigern. Es rauschte und pladderte, Wasser sprühte in funkelnden Tropfen durch das Licht, lief über die Stirn und in den Nacken.

Tony wischte sich mit der Hand die Augen frei, als hinter ihm der gellende Schrei Pillburys ertönte.

»Sie sind hinter uns!«

»Weiß ich schon, du Spakkenboi«, rief Stalka von vorne zurück.

Von hinten drängte Pillbury in Panik, Tonys Ellbogen schrappte an der Wand entlang und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er taumelte und stürzte. Er wollte sich auf den Händen aufstützen, aber Pillbury purzelte über ihn hinweg und drückte ihn in das Wasser, das jetzt schon kniehoch stand und eine merkliche Strömung entwickelte. Triefnass und schnaufend kam Tony wieder hoch und wurde von Pillbury emporgerissen.

»Mach jetzt kein’ Scheiß, Alter, für solche Rentnerspiele haben wir keinen Bedarf!«

Bevor Tony antworten konnte, war Pillbury schon weiter und aus dem Lichtkegel verschwunden.

»Eilig, ihr Spakkenbois«, tönte Stalkas Stimme aus der Röhre.

In diesem Moment, und so laut, dass es die Rufe Pillburys und Stalkas übertönte, hörte Tony ein Geräusch hinter sich.

Und er war sich sicher, dass dieses Geräusch nicht von einer Ratte stammte. Er drehte sich um und leuchtete, sein Atem ging keuchend und sein Herz raste. Nichts. Nur Wasser, das auf seiner Oberfläche den Lampenschein in trübe Flecken widerspiegelte. Und eine Röhre, in der sich das Licht verlor. Tony wendete sich um und lief weiter. Wo waren die anderen?

Das Wasser stieg weiter, spielte um seine Knie, griff nach seinen Schenkeln. Irgendwo rollte eine Dröhnen durch die Röhren der Kanalisation. Tony zwang sich, ruhig zu bleiben.

Das Wasser rauschte und gurgelte und übertönte jedes andere Geräusch. Aber da war dieses laute Platschen – jemand rannte durch das aufschäumende Wasser. Aber wo? Vor ihm oder hinter ihm? Und war hinter ihm? Aus den Augenwinkeln bemerkte Tony einen schwachen Lichtschein. Er hielt an und orientierte sich.

»Tempo, hierhin«, brüllte Pillbury aus dem Nebenstollen.

Guter alter Pillbury. Sie hatten ihn nicht vergessen. Gegen den Widerstand der Strömung gestemmt rettete sich Tony in den Nebenstollen und rannte ihn entlang. Es gab zwei, drei Zuläufe und hinter jedem Zulauf schien das Wasser höher zu stehen und heftiger an seinen Schenkeln zu zerren. Das Rohr mündete in einen Tunnel. Dunkelheit, Rauschen von Wasser.

 

Da, das Licht!

Pillbury winkte und deutete in einen Abzweig. Tony schrie eine Antwort und bewegte sich in die Richtung. Da, hier musste es sein. Aber dann erkannte er, dass sich der Abzweig gleich hinter der Einmündung teilte. Die klassische 50-50-Chance, bei der Tony Tanner immer in den Eimer mit dem Pech griff. Er musste warten. Nur wenige Sekunden, dann würden sie bemerken, dass er noch nicht Anschluss gefunden hatte. Das Wasser zerrte und riss ihn fast um. Dann ertönte ein Grollen, und Tony richtete seine Lampe in diese Richtung. Er sah, dass der Tunnel dort zu Ende war, verschlossen von einem Pfropfen, und dann wunderte er sich, dass er von dort gekommen sein sollte. Dann erkannte er eine Ratte, die strampelnd vorne an dem Verschlusspfropfen saß – und dann erkannte er, dass hier eine Wasserwelle durch den Tunnel schoss.

Die Flut erreichte ihn und riss ihn mit. Er verlor sofort das Gefühl für oben und unten, wurde umhergewirbelt, prallte gegen eine Wand oder eine Decke. Wieder und wieder drehte er sich, schleifte mit dem Rucksack an etwas Festem entlang, wurde gezogen, gezerrt und gestoßen. Er versuchte, sich strampelnd an eine Oberfläche zu retten, von der er nicht einmal wusste, wo sie war, dann krümmte er sich zusammen wie ein Embryo und versuchte derart, sich vor den Stößen und dem Aufprall zu schützen. Seine Lunge begann zu schmerzen, sein Schädel dröhnte.

Tony klammerte mit verkrampften Fingern die Lampe fest, als wäre dieses Licht seine letzte Gewähr für eine sichere Rückkehr an die Oberfläche. Etwas klatschte gegen sein Gesicht, legte sich auf Mund und Nase und blieb dort kleben. Ein Stofffetzen vielleicht oder ein Blatt. Hektisch und gleichzeitig ungelenk versuchte Tony, das Gesicht freizubekommen.

Seine Fingernägel gruben Rillen in seine eigene Haut und das Abwasser füllte die Wunden mit einem feurigen Schmerz. Dann bekam er das Ding zu packen. Es schien sich festgesaugt zu haben, als hätte es Saugnäpfe, aber nun war die Nase frei und Tony konnte immer noch nicht atmen. Er würde hier ertrinken, viele Meter tief unter der Oberfläche würde er ertrinken, im kotigen Abwasser einer Stadt.

Sekunden noch konnte er durchhalten, noch hämmerte dieses Mach nur nicht den Mund auf durch seinen Kopf, noch hatte er die Kontrolle, aber mit jedem Wirbel, der seinen Körper herumwarf und mit jedem Herzschlag, der dem Ende entgegenpochte, näherte sich der Moment, in dem sich Tony Tanner den letzten vergeblichen Atemzug gönnen würde.

Dann schleuderte ihn etwas in die Luft, er holte mit offenem Mund Atem, wie ein Raubfisch, der seine Beute schnappt. Einige Herzschläge lang waren seine Ohren frei, und das Rauschen eines Wasserfalls drang in sie hinein. Ein Sturz, ein klatschender Aufprall, ein Strudel packte ihn, wirbelte ihn herum und zog ihn in die Tiefe. Er gehörte nicht mehr sich selbst. Er war nicht mehr wert als ein Stück Dreck, das durch den Gully gefegt worden ist.

Tonys Kopf knallte gegen eine Kante, Funken tanzten vor seinen Augen. Er riss den Mund auf, und eine faulig schmeckende Abwasserbrühe füllte ihn und brannte in seinem Gaumen. Tony strampelte und trat um sich und dann lag er auf dem Rücken und spuckte Galle und Wasser aus. Seine Arme und Beine zuckten und schienen ein eigenes Leben zu führen.

Etwas trat schmerzhaft gegen seine Seite und etwas anderes drückte seine Beine gegen den Boden und nestelte an seinen zerfetzten Hosenbeinen. Es gelang ihm, die Lampe in Position zu bringen. Er musste träumen. Oder er war tot, elendiglich ersoffen zwischen Rattenkadavern und menschlichem Auswurf und nun in die Hölle geworfen zur ewigen Strafe seiner Sünden? So musste es sein. Es gab keine andere Erklärung.

Und das Wissen, dass er eine Erklärung gefunden hatte für diese Wesen, die gekrümmt, in Fetzen gekleidet und mit krumm-kralligen Fingern an ihm zerrten, diese Wissen war die letzte Gnade, die Tony Tanner zuteilward. Er hörte leise Stimmen wispern, roch Aas und stinkenden Atem, fühlte, wie sie ihn umrundeten, traten, abtasteten und einschätzten wie ein Fleischstück. Ihr Wispern steigerte sich zu einem schrillen Kreischen, Tony verstand nicht, was dort stattfand, er hörte hastige Schritte, jemand trat ihn und schließlich entdeckte er Pillbury, der die bewährten Schlagstock-Eigenschaften einer Mag-Lite in Szene setzte und auf einen Krummen einhieb, der sich quietschend ins Wasser fallen ließ.

»Das war für mein Schienbein, du Oberarsch«, brüllte ihm Pillbury hinterher. »Jetzt kann ich zwar immer noch keine Shorts tragen, aber es wird mir weniger ausmachen.«

Stalka reichte Tony die Hand und zog ihn hoch. Tonys Knie gaben nach, er rutschte an der Wand entlang, bis er auf den Hacken saß.

»Bissen Spakkenboi«, schimpfte Stalka. »Musse doch imma hinter mir her und nich son Spakkes machn.«

Schuldbewusst rappelte sich Tony wieder auf. In diesem Augenblick wurde ihm auch klar, woher das Dröhnen stammte, das er weiter oben gehört hatte. Es war das Donnergrollen eines Sommergewitters.

»Geht’s wieder, Alter?« Pillbury tastete Tony besorgt ab, als könnte irgendwelche Gliedmaße verloren gegangen sein. Tony nickte.

»Geht schon wieder.«

»Dann gehnwa. Müssnwa erst ma zur Mitte, weil Wasser die Wege zumacht un die Miesen unterwegs sin. Macht aber nix. Runwa uns aus un dann gehnwa weita.«

Nach einer Weile, in der sie Stalka hinterher getrabt waren, wandte sich Tony an Pillbury.

»Was genau heißt eigentlich Spakkenboi

»Spakkenboi? Alter, ein Spakkenboi ist ein Heini, der Doofmann der Kompanie, der Verlierer des Tages, so was ungefähr.«

»Na, das passt ja dann doch irgendwie«, stellte Tony fest. Er konnte sich keine Vorstellung von dem machen, was Stalka unter Mitte verstanden hatte. Aber nun drängte er sich durch einen Spalt, der offensichtlich nicht von Menschenhand gemacht worden war, sondern auf eine Erdverwerfung zurückgeführt werden musste. Dahinter öffnete sich ein Tunnel, der auf beiden Seiten durch Ziegelmauerwerk abgeschlossen wurde. Der Boden fiel in einzelnen Stufen bis zur breiteren Mitte ab, durch die ein Rinnsal plätscherte. Einige Öllampen spendeten trübes Licht und ließen die Umrisse der Gestalten hervortreten, die einzeln oder zusammengedrängt in Gruppen auf den Stufen hockten. Einige Kinder spielten im Wasser.

»Hia is die Mitte vonne Olmsen«, erklärte Stalka, und Tony war sich sicher, dass er Stolz in der Stimme gehört hatte. »Kommter mit, ich bring euch zum Olmsenboss.«

 

Tony hatte befürchtet, dass ihr Auftreten Unruhe hervorrufen würde, aber er hatte sich getäuscht. Gerade mal, dass ein neugieriger Blick die kleine Gruppe streifte, die sich einem einzeln sitzenden Mann näherte. Stalka und der Mann klopften sich zur Begrüßung gegenseitig auf die Schultern und nach dieser kumpelhaften Geste deutete der Mann auf die Stufe neben sich. Tony und Pillbury setzten sich, während sich Stalka zu einer anderen Gruppe gesellte.

Nach einiger Zeit kam ein jüngerer Mann. Er trug eine Schale, die Tony bei näherem Hinsehen als Radkappe eines Automobils identifizierte. Der Junge setzte sich neben denjenigen, den Stalka als Olmsenboss bezeichnet hatte, holte etwas aus der Radkappe, biss ab und begann schmatzend zu kauen. Mit einer schnellen Kopfdrehung rettete Tony seinen Mageninhalt.

Trotzdem war er sich sicher, dass der Junge gerade herzhaft in eine Ratte gebissen hatte.

Die letzten Zweifel beseitigte Pillbury, der lässig aufstand, nach unten zu dem Rinnsal trat, sich breitbeinig über das Wasser stellte und sich ein weiteres Mal erbrach. Die Kinder, an denen das Ergebnis von Pillburys innerer Säuberungsaktion als grünlicher Schaum vorbeizog, kümmerten sich gar nicht um den Fremden und seinen Auswurf, sondern planschten weiter.

Nach einer Weile wagte Tony einen Blick zur Seite. Der Junge kaute genüsslich das Fleisch, spuckte es dann auf seine Handfläche und der Alte saugte und schlürfte es von der ihm vorgehaltenen Handfläche in seinen fast zahnlosen Mund. Der Junge ähnelte von Typ her Stalka. Er hatte dieselbe Figur, dieselbe breite, fast zwischen den Augen sitzende Nase, dasselbe Paviangebiss. Und er hatte riesige spitze Ohren, die er in verschiedenen Richtungen wenden konnte und er konnte damit anscheinend so gut hören, dass er über die Gespräche einer entfernt sitzenden Gruppe kichern konnte. Wenn Kichern zu seinen Fähigkeiten gehörte.

Der alte Mann allerdings passte nicht in dieses Schema. Unter einer Schmutzschicht, die den Eindruck einer Reptilienhaut erwecken musste, bemerkte Tony ein schmales, fein geschnittenes Gesicht.

Der Mann beendete seine Mahlzeit und bedankte sich bei dem Jungen, der mit seiner Radkappen-Schale zu der Gruppe ging, bei der auch Stalka saß.

»Wie beginnt man unter diesen Umständen ein Gespräch?« Die Stimme klang belegt und krächzend, zugleich undeutlich nuschelnd und hatte doch einen eindeutig erkennbaren Cambrigde-Akzent. Tony konnte vor Überraschung zuerst nicht antworten.

»Stalka scheint großes Vertrauen zu Ihnen zu haben, sonst hätte er sie nicht in die Mitte geführt.«

»Vielleicht sah er keine andere Möglichkeit, wegen des Gewitters, und weil die Kanäle vollliefen …« Tony hatte plötzlich das Gefühl, Stalka in Schutz nehmen zu müssen.

Der Alte verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Stalka hätte noch tausend andere Möglichkeiten gefunden.«

Während Tony sich eine Antwort überlegte, schwebte im Hintergrund die Angst, dass man ihn nun nicht mehr herauslassen würde, dass er Zeit seines Lebens das Dasein dieser Wesen teilen müsste.

»Sie überlegen sich die ganze Zeit, wie ein Wesen, das die Eigenschaft menschlich für sich in Anspruch nimmt, hier existieren kann, nicht wahr?«

»Ich hätte es vermutlich etwas vorsichtiger ausgedrückt«, antwortete Tony, »aber darauf läuft es hinaus.«

»Wissen Sie, dass die Mütter der Olms, wenn die Kinder allzu ungehorsam sind, was selten vorkommt, weil Gehorsam hier nicht viel gilt, dass diese Mütter ihren Kindern damit drohen, sie zu den Obersten zu schicken? Also dorthin, wo Sie herkommen, junger Mann. Und ich sage Ihnen, das wirkt immer. Denn die Welt dort oben ist so scheußlich, dass keiner dorthin will.«

»Ihre Mutter hat Ihnen das mit Sicherheit nicht angedroht …«

»Meine Mutter?« Die nuschelnde Stimme des Alten wurde noch undeutlicher. Er starrte eine Weile stumm vor sich hin, bevor er weitersprach. »Nein. Hat sie tatsächlich nicht. Aber die Drohungen der Mütter dort oben sind schrecklich und zugleich banal, wenn man dazu den Vergleich nimmt, wie das Leben einen anpackt.«

»War das, was Sie hierhin geführt hat, banal?«

»So banal, dass man sich schämen sollte, es auszusprechen. Alles verlief nach Plan – Studium, Sportveranstaltungen, Ruderbootfahrten auf der Themse, die naturnotwendigen Liebeleien, Promotion, Professur, dann stellt man fest, dass sich die Ehefrau vom besten Freund begatten lässt, Tuscheln unter den Kollegen, Scheidung, gesellschaftliche Ächtung, Alkohol, Verlust des Arbeitsplatzes, Schulden, Verlust der Wohnung, noch mehr Alkohol, schließlich lebt man auf der Straße, und zuletzt war ich jahrelang in den Metrostationen und schlief im Winter auf den Entlüftungsgittern. Und dann wäre ich fast gefressen worden.«

Der Alte hob eine Hand und Tony erkannte, dass alle Finger bis zum Knöchel fehlten.

»Es waren die hier, die mich retteten. Und so blieb ich. Ich habe mich lange genug in meiner eigenen Kotze gewälzt, um das hier mit anderen Augen zu sehen.« Sie schwiegen eine Weile. »Es gibt einige, die auf diesem Weg hierhin gekommen sind. Das heißt, es gab. Die meisten haben nicht lange überlebt.«

»Und was ist mit denen, die nicht von oben kommen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nachgefragt, aber keiner wusste eine Antwort. Es war schon immer so, heißt es. Sie haben eine Erzählung, dass sie einst in der Oberwelt lebten, aber weil diese Oberwelt verdorben wurde, flüchteten sie sich in die Tiefe. Aber wann das war und warum und ob diese Geschichte stimmt – ich werde es nicht mehr herausfinden.«

»Wie sind Sie zu Ihrem Boss geworden?«

»Das? Ach, das hat nichts zu bedeuten. Es ist eine Art Ehrentitel, den ich trage, weil ich Ihnen am besten Geschichten erzählen kann.«

»Geschichten von der Oberwelt?«

»Richtig. Geschichten aus der fürchterlichen Oberwelt, wo das Licht in den Augen brennt und die Haut verätzt. Das sind die besten Horrorgeschichten für die Olms. Nichts schafft mehr Wohlbehagen als der Blick auf eine andere Welt voller Scheußlichkeiten.«

Tony ließ die Blicke durch den Raum schweifen. »Auf die Gefahr hin, unhöflich das wirken – DAS hier ist für mich Horror«, sagte er dann.

Der Alte lachte, bis sich das Lachen in einem Husten auflöste. »Ich will Ihnen weder Ihre warme Dusche schlecht machen, noch Ihre Deodorants, Mülltüten, Gewerkschaftsfunktionäre und Umweltschützer. Leben Sie in Ihren Welt und erfreuen Sie sich der Sonne. Manchmal überkommt selbst mich so etwas wie Sehnsucht nach einem Eichenwald im Sommer – wo Vögel zwitschern und die Blätter in einem lauen Wind rauschen. Aber ich müsste einen Preis bezahlen, der mir zu hoch erscheint.«

»Welcher Preis? Sich wieder mit Menschen abgeben zu müssen …?«

»Sie verstehen nicht allzu viel. Der Preis ist Angst. Die Antwort auf die Frage, wie man länger als eine Stunde bei diesen Wesen in diesen stinkenden Kloaken aushalten kann, lautet ganz schlicht: Hier gibt es keine Angst.« Tony schaute zur Seite, aber er spürte, wie die Augen des alten Mannes auf ihm ruhten.

»Sie«, fuhr der Mann neben Tony fort, »Sie haben Angst. Sie haben Angst, wenn Sie morgens die Augen öffnen, wenn Sie sich die Zähne putzen und wenn Sie sich mittels chemischer Mittel vor Achselschweiß schützen. Alles was Sie tun, dient nur dazu, diese Angst zu vergessen.

Hier unten gibt es keine Angst. Man muss manchmal aufpassen, aber das war es dann auch schon. Die Olms leben ohne Angst, sie schlafen ohne Träume, wie die Kinder, sie leben ohne Krankheiten, und wenn sie sterben, dann legen sie sich schlafen und wachen nicht mehr auf. Lachen Sie ruhig über mich, aber ich bin sicher, dass die paradiesische Lebensweise nicht auf irgendeiner Karibikinsel zu finden ist, sondern hier.«

»Nun ja«, Tony faltete seine verdreckten Hände und legte sie auf seine Knie, »ich nehme an, Sie haben selbst nicht damit gerechnet, mich zu überzeugen.«

»Weiß Gott nicht. Das wäre auch wenig sinnvoll, schließlich brauchen wir euch da oben ja, damit die Welt hier unten funktioniert. Nun, bis die Kanäle wieder frei sind, wird es noch eine Weile dauern. Also kann Stalka Ihnen noch etwas zeigen …«

 

Stalka wurde herbeigerufen und plumpste neben Tony auf die Sitzstufe. Inzwischen war sich Tony sicher, dass er hier in einem Themsetunnel hockte, der im letzten Jahrhundert fertiggestellt und dann aus unerfindlichen Gründen nicht in Benutzung genommen worden war.

»Zeig ihm den Fluss«, wurde Stalka aufgefordert, und dieser nickte nur mit dem Kopf und sagte in Tonys Richtung sein schon bekanntes Gehnwa. Obwohl sich Tony in seinen stinkenden Kleidern, die durch den langsam trocknenden Schlamm steif wurden, als bestünden sie aus Pappe, alles andere als wohlfühlte, war er doch neugierig genug, um ohne weitere Aufforderung hinter Stalka herzugehen. Der zwängte sich durch den Eingangsspalt und führte Tony ein weiters Mal kreuz und quer durch das Gewirr von Tunneln, Schächten und Stollen.

Es bedurfte einer Orientierungsfähigkeit, die weit über jedem menschlichen Normalmaß lag, um sich hier zurechtzufinden. Schließlich gelangten sie in einen Tunnel, dessen Boden von trockenem Schutt und Geröll bedeckt war. Stalka kletterte auf einen Steinhaufen und verschwand in einer Spalte, die in halber Höhe in der Wand klaffte. Mit einiger Mühe kraxelte Tony hinterher. Er musste unterwegs die Batterien seiner Lampe erneuern und sang innerlich immer noch ein Loblied auf perfekte, überflüssige Plastikverpackungen, die ihren Inhalt sauber und trocken hielten, auch wenn sie einen Schleudergang im Kanal zu überstehen hatte.

Nach einigen Metern war ihm klar, dass sie sich nicht mehr im Kanalsystem befanden, sondern durch eine natürliche Höhle abwärtsstiegen. Stalka legte sich der Einfachheit halber auf den Bauch und rutschte wie auf einem Schlitten über den lehmigen Boden abwärts, wobei er Rufe ausstieß, die entfernte Ähnlichkeiten mit ersten flachländischen Jodelversuchen aufwiesen.

Für Tony war die Sache weniger vergnüglich, er schleppte sich immer noch mit dem Rucksack ab, fühlte sich erschöpft und steifgliedrig. Der Weg wurde oft begangen, wie die abgeschliffenen Kanten und Ecken deutlich zeigten.

Durch den vielfach gekrümmten Verlauf des Abstiegs verschwand Stalka bald aus dem Blickfeld. Für Augenblicke überkam Tony dann das Gefühl, er befände sich in einer kleinen Kammer in einem Keller und er brauchte nur durch die Tür zu gehen und die Treppe hoch und dann wäre er draußen auf dem Hof und die Sonne schiene ihm ins Gesicht. Eine halbe Stunde oder noch länger rutschte und kroch Tony Tanner abwärts, zählte nicht einmal mehr, wie oft er mit seinem Rucksack hängen blieb oder sich irgendwo einen weiteren blauen Flecken stieß.

Der Gang erweiterte sich trichterförmig und bildete dann einen langen gewundenen Gang, dessen Querschnitt einem Dreieck glich. Im Lampenlicht glitzerten winzige Kristalle, Kalkablagerungen schimmerten in mattem Weiß. Ein dunkler Fleck an der linken Wand erregte Tonys Neugier. Es schien sich um ein Einsprengsel im Gestein zu handeln, um eine Blase fremden Minerals, das durch irgendein Erz seine besondere Farbe erhalten hatte. Von Interesse für einen Geologen, mehr nicht.

Aber Tony blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und leuchtete mit seiner Lampe die Umrisse ab. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit dem Finger über den unteren Rand des Flecks, den er gerade noch erreichen konnte. Woher kam diese Faszination dieser dunklen Fläche? Sie war wie eine Mahnung, eine Störung in der hellen, glatten Wand.

Da war etwas und Tony war wie ein Mann, der die zerrissenen Reste auf einer Plakatwand betrachtet und versucht, das Ereignis, die Katastrophe, die Sensation, die darauf beschreiben wurde, zu erkennen.

Er wechselte die Position, ging in die Knie, leuchtet in einem anderen Winkel auf die Wand. Diese Erhebung war etwas – aber was – eine Kralle? Eine Kralle! Und wenn dies eine Kralle war, dann befand sie sich an einem Bein und dann … Er trat zwei Schritte zurück und stieß hart an die Gegenwand. Als hätte er einen verborgenen Code gefunden, entfaltete sich die dunkle Fläche vor ihm und enthüllte in obszöner Offenheit die Gestalt eines Sauriers.

Reste der Hautschuppen, ein geringelter Schwanz, das Haupt mit aufgerissenem Maul, verkrüppelt scheinende Vorderglieder mit gewaltigen Krallen, die Hinterbeine mit prall geschwollenen Muskelwülsten.

Aus irgendeinem Grund, der mit blindem Zufall oder göttlicher Vorsehung zusammenhängen mochte, standen die versteinerten Überreste des Sauriers frontal zum Gang, so als würde er im nächsten Moment brüllend aus der Wand herausbrechen, um sein Werk der Vernichtung weiter zu verfolgen. Es musste die Feuchtigkeit sein, die sich am Fels niedergeschlagen hatte, jedenfalls glaubte Tony, in dem grotesk zerdrückten Schädel noch das böse Funkeln der Augen erkennen zu können.

Da stand er nun und vor sich zwei Millionen Jahre oder drei oder was weiß ich für wie viele Jahre, Tonnen versteinerter Muskelnatur vor sich, verschüttete Raubgier, Geschlechtstrieb, Fortpflanzungstrieb, Revierverhalten – ein Wunderwerk der Natur, Krallen von Unterarmlänge, Knochen brechendes Gebiss; Sinne, die aus dem fernsten Astknacken das Bild der Beute entstehen ließen, die den kleinsten Windhauch einfingen und ihn in breiten Nüstern entfleischten, um auch den leisesten Geruch nach Lebendigen, nach Blut, nach Fleisch, nach Fressen herauszulecken – und dann ein Erdrutsch oder ein unvorsichtiger Schritt im Sumpf, und dieses Wesen von unbeschreiblicher Schrecklichkeit war nur noch ein Fleck an der Wand, als hätte ein Riese dort eine Stubenfliege zerschlagen.

Die Natur schuf sich ihre Herrscher und ließ sie jämmerlich ersticken. Tony senkte die Lampe. Es schien, als seien zwei Millionen Jahre nur eine dünne, durchsichtige Haut, durch die der heiße Hauch des Monsters spürbar wurde. Aber dann, als er noch einmal das Licht erhob, fand er nur noch eine dunkle Fläche und fragte sich, ob alles nur ein Spiel seiner eigenen Ängste war, die hier eine Bühne gefunden hatte, um sich selbst zu inszenieren, oder ob seine Augen ihm einen Streich spielten.

Aber war das wichtig? War überhaupt etwas wichtig, im Angesicht der Nutzlosigkeit aller Kraft, aller Gerissenheit, aller Gewandtheit? Sei so stark, wie du sein willst, und dann schiebt ein Wurm ein Sandkorn zur Seite und dieses Sandkorn bringt einen Stein aus dem Gleichgewicht und dieser Stein rollt gegen einen anderen und dann gegen den nächsten und dann donnert ein Erdrutsch auf dich nieder und du bist nicht mehr Herrscher der Welt, sondern eine Kuriosität an einer Höhlenwand, gefangen unter der Erde.

 

Diese Erkenntnis traf Tony Tanner tiefer als es jede Versteinerung einer vorsintflutlichen Fressmaschine je gekonnt hätte. Und die Frage blieb. Warum das alles? Warum nicht vor dem Fernseher sitzen bleiben und auf den ganz persönlichen, unvermeidlichen Erdrutsch warten, auf die genussreich verfetteten Adern, das müde gewordene Herz, statt weiterzustrampeln und den Bildern uralter Vernichtungsgier zu begegnen, die sich den eigenen Ängsten zugesellte und mit ihnen tief hinten, in den hallenden Sälen des Bewusstseins, den immer gleichen Tanz aufführten? Alles, was er tat, war vergeblich. War es das? Konnte es das gewesen sein? Durfte es das gewesen sein? Nein, sagte er sich, und wurde sich klar, dass er um ein Haar das letzte Opfer des Reptils geworden wäre, die endgültige Jagdbeute nach Jahrmillionen. Nein, verdammt noch mal, nicht mit mir, sagte er sich. Wenn dieses Monster sich in seiner muskulösen Arroganz weigerte, Erdrutsche oder Sümpfe zu beachten, dann war das seine Sache.

Aber das Säugetier Tony Tanner würde weiterstrampeln. Wie eine Ratte im Laborversuch.

Solange er lebte, würde er sein Ding durchziehen, würde zur Sonne zurückkehren, sich in Gefahr begeben und sich täglich rasieren. So war es. So musste es sein.

Als Tony den Gang weiter hinunterging, waren seine Schritte fest und entschlossen, und er empfand eine wilde Freude, als hätte er eben einen wichtigen Sieg errungen. Ein heller, auf und ab schwellender Gesang drang an sein Ohr. Und unter dem Rankwerk dieser Töne, wie ein dunkel getönter Hintergrund, war ein Rauschen.

Plötzlich stand Tony im Dunkeln. Er erschrak und hatte einige Momente aufkommender Panik, bis er begriff, dass er aus dem Gang herausgetreten war und die hellen Wände das Licht nun nicht mehr zurückwarfen, sondern sich der Lampenschein in einem riesigen Gewölbe verlor. Er nestelte an einer Tasche und holte eine weitere Lampe heraus.

Nun konnte er hoch oben das Dach des Gewölbes erkennen und er sah auch die Kaskaden, durch die sich ein Fluss seinen Weg in diese unterirdische Kathedrale bahnte. Auf

dieser Seite gab es einen breiten Sandstrand, auf der anderen Seite des Flusses ragten pfeilerartige Steinrippen direkt aus dem Wasser empor und verloren sich in der Höhe des Daches.

Stalka tanzte bucklig und tappend im Kreis und ließ seinen Singsang hören. Es wirkte wie eine schlechte Kindergartenaufführung von Häuptling Rote Nase macht den Regentanz, und trotzdem wagte Tony nicht zu stören und blieb in respektvoller Entfernung. Schließlich beendete Stalka seinen Rundtanz mit einem schrillen Juchzer – es klang, als säße er auf einer Achterbahn und jetzt würde sich der Wagen in die Tiefe stürzen – und trottete zu Tony.

»Das isse schwaaze Themse«, erklärte er. »Die fließt richtig rum, die da oben bei die Obersten fließt richtignich. Bei die Obersten is nix richtich. Die sin ja auch alle zur Strafe da ohm. Kommse ma mit.« Er winkte Tony und ging auf die Kaskaden zu.

Das Wasser schoss turbinenartig beschleunigt als riesiger weiß schäumender Strahl durch eine Öffnung in der Felswand, prallte auf eine Klippe, beruhigte sich in einem Becken und sprang dann über einige Stufen hinab in das Flussbett.

»Wo fließt die schwarze Themse hin?«

»Kannse nich sehen. Musse n Stück laufen bis zur Wand, da isn Mund und der schlucktse.«

»Und dann?«

»Dann kommtse innen Bauch.«

»In einen Bauch? Ich verstehe nicht.«

»Innen Bauch, wo alles Wassa drin is, wo gibt, wenn nich das Wasser wo gutnich, wo von oben kommst vonne Oberste.«

Stalka musste von einem unterirdischen Meer reden, vermutete Tony. Dann sah er auf einem Podest, der durch die natürliche Form der Steine gebildet wurde, etwas Weißes.

Er leuchtete dorthin. Kein Zweifel, es waren Skelette. Zwei oder drei mussten es sein. Sie waren bar jedes Fleisches und wirkten so sauber wie die Schaustücke in schulischen Biologieklassen. Ein Gerippe war klein und durch den im Verhältnis zu großen Kopf als Kinderskelett erkennbar. Ein anderes existierte nur zur Hälfte. Das allerdings sah derart nach Kannibalismus aus, dass Tony die Angelegenheit in Augenschein nahm. Das Rückgrat war sauber durchtrennt, am unteren Rand war der Knochen abgeschliffen.

»Musse nich anfassen«, warnte Stalka. »Das sin die Langschläfer, wo die Ängels schon fast mitgenommen ham.«

»Was sind Ängels und was sind Langschläfer?«

Stalka zeigte große Geduld, wenn er auch angesichts einer derartigen Mischung aus Neugier und Unwissenheit die Augen etwas verdrehte. »Langschläfer sin die, wo nich mehr aufwachn. Die tunmer hierhin. Und dann komm die Ängels ausm Bauch und nehm se mit. Damit se wiederkomm könn als klein Schnucki, weil Olmse Spass ham am Leben und nich damit aufhörn wolln.«

Als Tony bei Klein Schnucki verständnislos schaute, legte Stalka die Arme zusammen, machte eine wiegende Bewegung und nuschelte eine Art von Heidideidi.

»Und die Ängels, was sind die?«

»Ängels sin Ängels. Sin Lebenddinger, wo ausse schwazze Themse komm. Und drum müssma nu gehn, weilwerse sonst stöan. Aba vorher musse nommal hörn, weil dä Fluss jäz was sacht.«

 

Tatsächlich drängte sich durch das Rauschen des Wassers ein weiteres Geräusch. Tony konnte es nicht genau benennen. Es war wie ein hallendes Gluckern, ein unregelmäßiges Dröhnen. Er lauschte, immer intensiver und faszinierter – und wahrhaftig schien eine Stimme zu sprechen, die mächtige männliche Stimme eines Wesens, das sich unter dem Wasser befand und dem Zuhörer eine Mitteilung machte. Immer wieder glaubte Tony Worte unterscheiden zu können, nur um im nächsten Moment diese Gewissheit zu verlieren und erneut gespannt weiterzulauschen. Es war, als fehlte nur eine Winzigkeit, ein Staubkorn an Wissen und Verständnis und man könnte die Rede des Flusses verstehen.

»Was sagt die schwarze Themse, Stalka? Kannst du es verstehen?«

»Fluss sacht, das Sachen gutnich sin. Sin Sachen inne Welt, wo gutnich und wo inne alte Tage nich warn. Kommn Miese und anere, wo Spakkenbois fressn un vorher nich da warn un inne Erde isn Knistern, wo gutnich ist un so.«

»Das sagt der Fluss?«

»Das sach ich, weil dä Fluss ja anners red, du Spakkenboi.«

An dieser Logik scheiterte Tony. Er stellte fest, dass er bohrenden Hunger hatte. Er war jetzt schon seit vielen Stunden unter der Erde und sein Magen meldete sich. Wieder einmal hatte die moderne Verpackung über die Umstände gesiegt und er konnte einen zwar weichen, aber sauberen Schokoriegel verzehren. Der Höflichkeit halber bot er Stalka auch einen Riegel an. Der ließ sich nicht lange bitten.

»Wasn das?«, fragte er dennoch zur Vorsicht.

Tony leuchtete auf die Inhaltsangabe auf der Verpackung. »Es ist ein Gemisch aus Zucker, Haselnüssen, Mandeln, Kakaopulver …«

»Häääh?«

»Nenne es einfach Schokolade!«

»Schokki, wa? Schokki isn Leckerschmeck«, stellte Stalka noch einigen Versuchsbissen fest und sein Gesicht, soweit Tony das bei dessen gnomenhaften Zügen erkennen konnte, zeigte Anzeichen von Verzückung.

»Es schmeckt noch besser, wenn du die Verpackung nicht mitisst!«

»Wassenich sachs!« Stalka pulte sich Papier zwischen den Beißern heraus und porkelte dann den Rest des Riegels aus der Verpackung. »Hasse recht«, bekundete er nach der Gegenprobe.

Tony verteilte einen weiteren Riegel, aber als Stalka verkündete, der sei ‘halb fürn Olmsenboss und halb füre Bälgers’, war er so gerührt, dass er seinen gesamten Vorrat herausrückte. Außerdem strömte Stalka einen derartigen Ammoniakgeruch aus, dass Tony der Appetit schnell wieder vergangen war. Erfreut verstaute Stalka alles in seinen Taschen, die als einzige Bestandteile seiner Kleidung keine Löcher aufwiesen. Dann drängte er zum Aufbruch.

 

Er durchschritt vor Tony die Schwelle zum Gang. Aus einem Impuls heraus, den er selbst nicht verstand, dem er aber spontan folgte, schaltete Tony für einen Moment die Lampen aus.

Dunkelheit umgab ihn, zementierte ihn ein wie ein fester Stoff.

Dies war die wirkliche Dunkelheit, tief in der Erde, geschaffen, um niemals vom Strahl der Sonne durchschnitten zu werden. Er hörte das Rauschen des Wassers und spürte den Hauch von Feuchtigkeit in der warmen Luft. Und dann überkam ihn etwas – keine Vision, eher eine zwanghaft einschießende Kette von Assoziationen, als müsste er sich an eine ihm besonders peinliche Sache erinnern und alles noch einmal erleben.

Er empfand die Dunkelheit, dachte an sein Verlies in Nizza und an den Sonnenuntergang, das Flugzeug mit seinem Kondensstreifen und das Bild eines stürzenden Engels, das er damit verbunden hatte. Und es reihte sich ein Bild an das andere, ein Riegen, ein Karussell, das ihn mitnahm – der Sturz des Engels, die hilflos tobende Wut des gescheiterten Empörers, den die Erdenschwere ergriffen hat, ein Aufprall, Zerstäuben von Hass in einem Regen kristalliner Splitter, die in jedem Menschenherz eine schwärende Wunde schlagen, süßer Stachel der Lust, süßer Samen der Sünde; und tiefer der Sturz in die Schächte der Erde, tiefer und tiefer in die Verbannung der Finsternis und ewigen Nacht. Dort war er und tausend Felsen waren auf sein stolzes Haupt gehäuft, ihn zu bannen. Vielleicht war er gelähmt und gefesselt, gebunden, gedemütigt und gebeugt. Aber er lebte. Seit Jahrtausenden leckte die Menschheit den Götzen die Füße, die sich des Sieges über ihn rühmten. Seit Jahrtausenden streute die Menschheit den Tand ihrer Worte, Gebete und Rituale über ihn, brannte ihm Weihrauchduft in die Augen und prahlte mit eitlen Beschwörungen.

Aber nachts mussten die Kerzen brennen, auf dass sie seinen dunklen Schimmer in ihren ärmlichen Menschenträumchen nicht zu erblicken brauchten. Und andere versuchten, ihr Spiel mit ihm zu treiben und ihm zu verkaufen, was seit Ewigkeiten doch schon sein Besitz gewesen. Er lebte, und er regte sich und erhob wieder die Stirn, denn die Zeit war gekommen, da die Menschheit ihr eigenes Geschwätz für das Lied der Welt zu halten begann. Nur wenige hörten das Knistern unter den Felsen, als er begann, die Glieder zu regen. Es war so weit, ja, es war so weit und Tony Tanner hatte das Zeichen der Macht gesehen, die Eiterbeule an der Stirn der menschlichen Kultur, das Schlachthaus, den Opferplatz, die Kathedrale des Bösen. Und ihm selbst war Tony begegnet, IHM, der in den Felsen geschleudert war.

Hatte Tony es nicht sofort erkannt und nur mit Mühe dieses Wissen ignoriert? War es nicht offensichtlich gewesen, dass ihn dort von der Felswand eine höhnische Fratze angegrinst

hatte, das Zerrbild eines menschlichen Gesichtes, verkrüppelt, zerstört, zerschmettert und doch von unbesiegbarem Hochmut? Hatte er nicht die gezackten Flügel gesehen, im Sturz zu Fetzen zerschlissen und dennoch erkennbar? Die Hand, die so grausam, blutgierig und dennoch feingliedrig war? Hatte er – er, Tony Tanner – den ersten Lichtstrahl seit Äonen in das Verlies des erwachenden Bösen gebracht?

Die Gedankenkette brach ab, sie wiederholte sich wie eine hängen gebliebene Schallplatte – hatte er, hatte er? Ein Schauer lief über seinen Rücken. Platschen drang an Tonys Ohr. Sein Bewusstsein ergriff diesen Rettungsanker und hangelte sich daran aus der Fallgrube, die es sich selbst geschaufelt hatte.

Das Geräusch wiederholte sich. Etwas war im Wasser.

Vielleicht nur eine Welle, der Effekt eines leicht erhöhten oder geringfügig verminderten Wasserstandes. Dann bemerkte Tony aus den Augenwinkeln ein schwaches Leuchten. Es verschwand, sobald er es fixieren wollte. Er merkte sich die Stelle, richtet die Lampe darauf und schaltete sie an. Seine Augen mussten sich erst wieder an das Licht gewöhnen. Er erkannte den Sandstrand, das klare Wasser, ihre Spuren im Sand – gekreuzt von einer anderen Spur.

Vorsichtig trat Tony etwas aus dem Gang heraus, nur um im nächsten Moment wieder zurückzuzucken.

Das Wesen, das er dort sah, war nicht für menschliche Augen bestimmt, und wie jene anderen Lebewesen, die der Forscherdrang durch das Mikroskop aus der Unsichtbarkeit reißt, erregte es eine Art von instinktivem Schrecken und Abscheu. Das Wesen musste völlig blind sein, denn es zeigte keinerlei Reaktion, als es in den Strahl der Taschenlampe geriet. Es mochte die Länge eines erwachsenen Mannes haben, wobei mehr als Hälfte der Körperlänge durch den Schwanz eingenommen wurde. Es war kein Fischschwanz, sondern er wirkte wie der kräftige Leib einer Schlange.

Der Vorderleib war eine flach gedrückte Kugel, an der sich seitlich zwei flache Flossen und oberhalb eine weitere Flosse befanden. Das Tier war völlig durchsichtig, es schien ähnlich einer Qualle aus einer gallertartigen Substanz zu bestehen, die von einer feuchtglänzenden Haut umschlossen wurde. Die Eingeweide zeigten sich als Klumpen, Zusammenballungen und Schlieren dunkelgrüner Farbe. Es gab keinen Kopf, nur eine Öffnung in der Kugel, in der Tony das Schimmern von Zähnen erkennen konnte. Dutzende von Fühlern, lang, dünn, weiß und wurmartig, säumten diese Öffnung. Sie waren in ständiger Bewegung, gerieten aneinander, vereinten sich für eine Sekunde zu einem gemeinsamen Rhythmus und verwirrten sich im nächsten Moment wieder, krochen durcheinander wie Schlangen in einem Nest.

Tony hielt den Atem an. Das Tier rührte sich nicht, nur die Fühler vibrierten. Dann bewegte es sich blitzschnell vorwärts. Der Schwanz peitschte über den Sand und katapultierte den Körper einige Meter weiter, wo er wieder erstarrte. Es war, als würde ein Film angehalten, nur um ihn dann überschnell weiterzuspielen, sodass der Blick dem Geschehen nicht folgen konnte.

Bewegung, Erstarrung, Bewegung.

Das Tier war jetzt genau gegenüber der Öffnung des Ganges, in dem Tony stand. Durch das gallertartige Fleisch war das hastige Holpern eines faustgroßen, grünlichen Herzens erkennbar. Die Fühler befingerten die Luft. Bevor Tony es bemerkte, vereinten sie sich, verharrten einen Augenblick still und neigten sich dann alle in seine Richtung. Der Schwanz schlug blitzartig mit einem schabenden Geräusch über den Sand, und plötzlich lag das Tier einen Schritt weit vor Tony.

Hier nun wäre die Chance des Tony Tanner gewesen, sich in der Wissenschaft der Biologie einen unsterblichen Namen zu machen. Tony verzichtete darauf und floh. Er rannte wie besessen hinter Stalka her und erreichte ihn gerade, als der mit dem Aufstieg durch den Schacht begann. Unerwarteterweise zeigte Tony keinerlei Ermüdungserscheinungen, sondern kletterte wie eine ehrgeizige Gämse und trieb Stalka zu höherem Tempo an. Der war darüber beglückt und erklärte oben, nun man könne noch kurz über die Felder gehen und verpflichtete Tony zu strengstem Stillschweigen über das, was er gesehen hatte.

Fortsetzung folgt …