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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Im Wettlauf mit der Zeit – Teil 5

»Ihr seid über die Felder gegangen«, fragte Pillbury, als sie zur Mitte zurückgekehrt waren. »Muss schön gewesen sein, so mit Lerchen und rotem Mohn und einer Tussi, die im weißen Kleid auf einem Fahrrad entgegenkommt, was Alter?«

»Die Felder bestanden aus Röhren, in denen irgendeine eklig stinkende Art von Pilzen wächst. Und dann gibt es noch Röhren mit einem graugrünen Schleim. Vermutlich Bakterien, die auf dem Faulschlamm gedeihen. Willst du noch mehr über die Nahrungsmittel unserer Gastgeber wissen?« Tony war nicht ganz auf dem Laufenden, denn inzwischen hatte Stalka überall Schokki verteilt und auch den Tipp mit der Verpackung weitergegeben. Allerdings wurden solche kulinarischen Feinheiten nicht von allen akzeptiert.

Auf dem Rückweg deutete Stalka in eine Röhre. »Darfse schnellnich durchgehn, sons fällse int Loch, wo de Oberste liegn tun.«

»Du meinst, wir sind da, wo wir schon auf dem Hinweg waren?« Vorsichtig auf den Boden leuchtend, schritt Tony die bezeichnete Röhre ab. Stalka protestierte, aber Tony ließ sich nicht umstimmen. Er spürte die Kälte, hörte Kondenswasser tropfen und wusste, dass er richtig vermutet hatte. Der Lichtkegel ging ins Leere, erfasste tief unten huschendes Getier und menschliche Überreste. Tony wandte sich ab und tastete seine Taschen ab. Wasserfestes Papier und ein NASA-geprüfter Kugelschreiber, für 22 Pfund bei Harrods erstanden, waren das, was er suchte und fand.

 

Tony ging vorsichtig bis an den Rand der Röhre, dann schritt er mit gleichmäßigen Bewegungen zu seinen wartenden Begleitern zurück. 32, notierte er und machte einen Pfeil, der nach links abbog, in die Richtung, in die Stalka vorausging.

Der Rückweg war wie der Hinweg – eine Folge von muffigen, stinkenden Schächten, Stollen, Tunneln, Durchgängen und Röhren, scheinbar endlos und doch zerteilt in jenen kleinen Bereich, den die Lampen der Dunkelheit entrissen. Eine Hölle, die nur erträglich war, weil vor ihm Stalka ging und mit seiner Fistelstimme leise vor sich hinsummte, während hinter ihm Pillbury keuchte und schniefte.

»Hör mal, Stalka«, sagte Tony nach einer Weile, »warum verschwinden wir nicht einfach durch einen Kanaldeckel nach oben? Pillbury ist ziemlich fertig und ich habe ehrlich gesagt auch keine Lust mehr auf diesen Ausflug.«

Aber Stalka schüttelte nur den Kopf und murmelte: »Is gutnich. Müssma gute Stelle findn. Könnma nich zum falschen Fluss, weil die Miesen in der Gegend sind. Müssma vorsichtn. Ich pass schon auf und ihr kommt nach. Is alles fein so.«

Und tatsächlich waren aus unbestimmbarer Ferne Klopfsignale vernehmbar. Das dumpfe Pochen erinnerte Tony an die Gesichter, die er gesehen hatte, nachdem er aus dem Wasser geholt worden war. Fratzen wie aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch – abgefressene Nasen, von denen nur noch die flachen Löcher im Gesicht geblieben waren; leere Augenhöhlen, aus denen schwärzlicher Eiter troff, gierig aufgerissene Münder voller abgebrochener Zahnstummel …

Waren sie wieder hinter Stalka und seiner Gruppe her? Stalka hielt zwar öfter an, um zu lauschen, wirkte aber ansonsten nicht besorgt.

»Ich höre etwas. Was hat das zu bedeuten? Ist das normal?« Tony konnte seine Besorgnis nicht weiter verbergen.

»Is normalnich, aba is unser Problem nich. Sin die Miesen oda die Spakkenbois, wo Probleme ham. Aba nu gehnwa.«

 

Tonys Notizblock füllte sich mit Eintragungen. Sorgfältig zählte Tony die Schritte, die er von Kreuzung zu Kreuzung zurückgelegt hatte, und trug die Zahlen ein. Seine Hand malte gerade eine sorgfältige 3, als der Stift, ein Seismograf des Erschreckens, zur Seite sprang und eine nutzlose Zickzack-Linie hinterließ.

Tony sah mit Verwunderung auf den Strich, dann erst registrierte er den Schrei, der dieses Schreckzucken ausgelöst hatte. Es war ein kurzes schrilles Aufschreien, das in Wellen durch die Röhre hallte, ganz aus der Nähe zu kommen schien, aber nicht genau lokalisiert werden konnte. Das Geräusch durchdrang wie tausend eiskalte Nadeln ihre Haut und ließ sie erschauern. Der Schrei eines Menschen, der letzte Schrei dieses Menschen.

Aus Pillburys Mund drang ein angstvolles Stöhnen. Er schob sich an Tony vorbei und hastete hinter Stalka in den nächsten Abzweig. Für einige Sekunden lebte Tony in dem scheußlichen Gefühl, dass er diese Situation schon kannte, in einer Zeitschleife gefangen war und sie nun noch einmal durchleben musste, dann endlich entdeckte er Stalka, der aus der Röhre schaute und ihm zurief: »Kommse hierein un dann imma gradaus, wia tun dann wartn.«

In einer Mischung aus Pedanterie und Hektik korrigierte Tony die unbrauchbar gewordene Zahl. Seine Hand zitterte. Leise vor sich hin schimpfend brauchte er einen zweiten und dritten Anlauf, bis er sich wieder soweit in der Gewalt hatte, dass ihm die Zahl gelang. Er wollte loslaufen, machte eine ungeschickte Bewegung und der sein Kugelschreiber fiel zu Boden. Kein Ersatz zur Hand – und er wusste nicht, wie oft sie noch abbiegen würden. Also musste er den Stift suchen. Die Röhre war knöchelhoch mit weichem Schlamm bedeckt, in dem jeder schwerere Gegenstand sofort versank.

Mit einem Kloß im Hals und einem Brechreiz, der langsam und brennend vom Magen aus die Speiseröhre hochstieg, führte Tony seine Hand in die stinkende Masse und tastete nach dem Stift. Der Schlamm quoll ihm in den Ärmel. Endlich ertasteten die Fingerspitzen einen harten Gegenstand, er bekam den Kugelschreiber zu fassen, wischte ihn so gut wie möglich an der Jacke ab und eilte auf den Abzweig zu, in dem Stalka und Pillbury verschwunden waren.

Während des Laufens kritzelte er wie wild auf seinem Notizblock, um die Spitze des Kugelschreibers zu reinigen. Er prallte gegen ein Hindernis, und während er nach hinten fiel, schoss es ihm durch den Kopf, dass er nicht gegen die Wand gelaufen sein konnte, weil er aus den Augenwinkeln immer den richtigen Abstand kontrolliert hatte und weil das Hindernis sich nicht wie eine Wand anfühlte. Der Schlamm bremste Tonys Aufprall, aber die Lampe knallte gegen die Röhre, flog durch die Luft und versank.

 

Dunkelheit.

Dunkelheit und ein röchelnder Atem. Und ein neuer, beißender Gestank. Er brauchte Licht. Seine Finger klopften fahrig die Jacke ab, rissen an Knöpfen und fuchtelten eine Taschenklappe weg. Endlich, der dünne Stab der Sure Fire. Und wieder dauerte es eine Ewigkeit, eine finstere, stickige, angstperlende Ewigkeit, in der das Röcheln näher kam, bis er sich an den Schaltmechanismus erinnerte und die Lampe anstellte. Er hatte sie falsch herum gehalten.

Blendend grell wie ein Schweißfunken stieß das Licht in Tonys Augen und machte ihn für Sekunden blind. Durch rote Schleier hindurch erkannte Tony eine Bewegung vor sich, richtete das Licht aus und zuckte bei einem wütenden Kreischen zusammen. Der Schrecken schien ihm zu klarer Sicht zu verhelfen und dann sprang er auf, taumelnd und auf dem glitschigen Untergrund Halt suchend und schob die Lampe wie ein Schwert vor sich.

Ein erneutes Kreischen antwortete ihm, ein Fauchen dann und ein Lallen, als wollte eine gelähmte Zunge Beschimpfungen ausstoßen. Dann platschten hastige Schritte durch den Grundmorast, entfernten sich; etwas schleifte schmirgelnd an der rauen Wand entlang.

Tony starrte die Röhre entlang. Trotz des starken Lichtes schien sie sich nach wenigen Metern zu einem engen Schlauch zu verengen, durchzogen von matten Reflexen und wirren Schatten. Er war im Gekröse eines Molochs namens London. Er löschte die Lampe, um die Batterie zu schonen und fragte sich, was er eben gesehen hatte. Was war Wirklichkeit, was war Einbildung, wo hatten sich der Schrecken, die Erschöpfung, Fantasie und kindische Ängste in die Lücken seiner Wahrnehmung gedrängt?

Es gab nichts, von dem er sicher sein konnte, das es nicht auf einer Täuschung beruhte.

Die gelblichen Augen, die Pupillen, die sich im Licht zu einem waagerechten Strich zusammenzogen, die schuppige Haut unter einer Kruste von Schmutz, der blutbeschmierte Mund, aus dem Fleischfetzen hingen, die fliehende Gestalt, die einen menschlichen Torso mit sich zerrte, von dem ein Arm steif in die Höhe stand, und eine halbe Hand wie zum Gruß hin und her pendelte …

Mit einem energischen Kopfschütteln befreite sich Tony Tanner von diesen Gedanken. Er fand die verlorene Taschenlampe wieder, folgte der Abzweigung und traf bald darauf auf Stalka und Pillbury. Erst als er die nächste Zahl in sein Notizbuch eintrug, merkte er, wie sehr seine Hand zitterte.

»Ich habn Lärm gehöat. Is gutnich, sone Miesling zu treffn.«

»Was war das, was mir da begegnet ist, Stalka?«

»Weißnich. Is schon lange hia. Frisst Spakkenbois un Miese. Aba, wie dä Fluss gesacht hat – vieles is richtichnich mehr. Hia könnter raus wenner wollt.« Stalka kletterte geschickt eine Leiter hoch, hob mit einer Hand den schweren Kanaldeckel und witterte sorgfältig in alle Richtungen. Dann stieg er nach draußen und winkte seinen Begleitern.

 

Sie befanden sich mitten auf einer Kreuzung in einem Vorort. Kein Mensch war zu sehen. Bevor Tony noch etwas sagen konnte, war Stalka wieder in das Loch gehüpft und hatte den Deckel an seinen Platz gebracht.

»Stalka!« Tony kniete auf dem Asphalt und rief durch einen Spalt des Deckels. Von unten drang der typische Ammoniakgeruch und Stalka drückte ein Auge auf den Spalt.

»Wassn noch«, fragte er mit seiner hohen Stimme.

»Ich brauche deine Hilfe. Du musst mich morgen noch mal führen.«

»Is Problemnich, kommse selbä Zeiat un selbä Ställe, treffn wia uns da. Grissä.«

»Komm, Alter, quatsch keine Arien. Wenn mich nicht alles täuscht, ist an der nächsten Ecke ein Telefon. Taxi ist nicht, laufen kannst du auch vergessen. Ich ruf einen Kumpel an, damit der uns abholt und du passt auf, dass uns kein Bulle peilt, sonst verbringen wir den Rest der Nacht auf der Wache, so wie wir aussehen.«

 

Das Gewitter war abgeklungen. Aus der Ferne hörte man durch die Stille der schlafenden Straße noch leises Donnergrollen. Die Luft war feucht, kühl, herrlich frisch und sie war besser als jeder Champagner. Nach einigem Herumtelefonieren trieb Pillbury einen Fahrer auf.

Den Weg nach Hause legte Tony auf der Ladefläche eines Pick-ups zurück. Dann schlich er sich leise zu seiner Wohnungstür. Am nächsten Tag beschwerten sich die Nachbarn über einen üblen Geruch unbekannter Herkunft im gemeinsamen Treppenhaus.

***

Der folgende Tag war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm, allerdings stieg die Feuchtigkeit, die das Gewitter gebracht hatte, auf und verursachte eine unangenehme Schwüle. Zur Zeit der Mittagspause waren die Parks und Straßencafés von Angestellten bevölkert, die nach etwas frischer Luft lechzten und noch weniger Lust auf die Arbeit hatten, als sie sich normalerweise zugestanden.

Just um diese Stunde wandelte ein seriös gekleideter Herr durch die Stadt. Er kümmerte sich wenig um die von wohlwollenden Stadtplanern für Fußgänger vorgesehenen Wege, sondern schaute auf einen kleinen Notizblock, zählte murmelnd und sehr sorgfältig seine Schritte ab und vollführte höchst seltsam anmutende Wendungen, die zuweilen den müßigen Betrachter an einen seltsamen Tanz erinnern mochten.

Als besagter seriöse Herr derartiges Verhalten auch mitten auf einer dreispurigen Straße nicht abzulegen vermochte, fühlte sich ein uniformierter Hüter des Gesetzes aufgerufen, diesem Manne den Weg auf das Trottoir zu weisen. »Sir, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie sich auf einer Schnellstraße befinden?«

»In der Tat, Herr Oberhauptwachtmeister, ich kam nicht umhin, es zu bemerken.« Der seriöse Herr zögerte, dann zückte er einen Ausweis, der den Polizisten dazu brachte, den Verkehr anzuhalten, während der andere wieder auf seinen Block schaute und die Schritte bis zum Straßenrand abmaß. Dort bedankte er sich mit jener Mischung aus Bescheidenheit und Stolz, die den wahren Weltmann ausweist, bei dem Polizisten und folgte weiterhin seinem Weg.

Dieser führte ihn zu einem kleinen, mit einem verzierten Metallzaun umgebenen Park.

Schöne Bäume spendeten Schatten, allerdings erkannte auch das ungeübte Auge, dass sie noch nicht sehr alt sein konnten. Der seriöse Herr trat zu einer Gedenktafel und erfuhr, dass hier bis 1945 die Kapelle des Heiligen Athelstan gestanden habe.

»Geiler Platz hier, was?« Der seriöse Herr hatte die Gestalt übersehen, die im Schatten einer Platane auf einer Bank saß und ein Brötchen mit Tofu-Brätlingen genoss.

»In der Tat. Allerdings wenig bekannt.«

»Sagen Sie das nicht. Hier ging in den Siebzigern die Post ab. Hippie-Feten bis zum Abwinken. Dann hatte die Polizei was gegen zu viel nackte Ärsche und hat eingegriffen. Soll ein uralter Kultplatz sein.«

»Das passt ins Bild.«

»Was?«

Tony Tanner klappte sein Notizbuch zu. Er war sicher, dass er einen wichtigen Hinweis gefunden hatte. Er musste Dorkas benachrichtigen. Aber wo in aller Welt war Dorkas?

 

Jeremy Steele entschloss sich, mit dem Wagen zurück nach Italien zu fahren. Er hatte genügend Zeit und er brauchte Abstand. Die lange Autofahrt, die Konzentration auf die Straße, sollte ihm diese Distanz verschaffen. Er fuhr nachts über belgische Autobahnkreuze – Straßen in zwei oder drei Etagen übereinandergestapelt, in hellem Natriumgelb beleuchtet und geisterhaft leer, als wäre die Menschheit mit einem Schlag ausgestorben. Steele übernachtete kurz vor der Grenze und raste im Morgenlicht weiter über deutsches Gebiet. Er genoss jetzt das schnelle Fahren, spielte mit dem Gaspedal, und wenn ein langsameres Fahrzeug vor ihm die Spur frei machte, ließ er genüsslich den Drehzahlmesser nach oben wandern, bis der Turbo seines Bentley zubiss und den schweren Wagen in einer heftigen Beschleunigung vorwärts katapultierte.

Die nächste Übernachtung legte Steele in Salzburg ein. Er hatte genügend Zeit, um einen Bummel durch die Innenstadt in der Nähe des Domes zu machen. Früh am Morgen, als die Reinigungswagen noch Wasser auf ausgestorbene Straßen sprühten und die Stadt wirkte wie eine schöne Frau, die man vor der Morgentoilette zu Gesicht bekommt, war Steele wieder unterwegs. Er entschied sich dafür, über Nebenstraßen über die Berge zu fahren.

Noch lag kein Hauch von Italien in der Luft. Das Wetter verschlechterte sich, aus tiefen Wolken zogen Schneeschauer über die Berge. Eine Welt aus mattweißem Gewölk und grauen Felswänden – Jeremy Steele wurde klar, dass auch seine Welt nur noch wenig Farben kannte.

Als er schon die Dolomiten erreicht hatte, hielt er an. Die Straße zog sich in engen Windungen den Berg hoch, schien aber kaum benutzt zu werden. Seit einer Stunde war er weder einem anderen Fahrzeug begegnet, noch hatte er eines überholt.

Steele entfernte sich einige Meter von seinem Wagen. Vor ihm war eine steile Geröllhalde, die tief unten im zackigen Gewirr eines Steingartens aus großen Blöcken endete.

 

Eine innere Stimme warnte ihn. Er blickte sich um und sah, wie von der anderen Seite der Straße dichter Nebel herankroch. Bewegungslos wartete Steele, bis ihn den Nebel einhüllte. Er war eingegossen in eine graue, feuchte Masse. Kaum dass er seine Nasenspitze erkennen konnte. Jeremy Steele drehte sich auf der Stelle. Er drehte sich schneller und schneller, in einem zerstörerischen Derwischtanz, einer Beschwörung der Vernichtung. Er drehte sich, bis er jegliche Orientierung verloren hatte. Dann wendete er sich um, ohne Zögern in eine Richtung und ging los.

Er prallte gegen ein Hindernis. Seine Schritte hatten ihn zielgenau bis zum Wagen geführt. Es war die Entscheidung. Das Schicksal, der Zufall oder eine höhere Macht hatten bestimmt, dass Jeremy Steele nicht den Abhang herunterstürzte. Während Steele im Wagen über die Möglichkeit nachdachte, empfand er keine Spur von Angst.

Er konnte sich seinen eigenen zerschmetterten Körper in allen Einzelheiten vorstellen, so als wäre er eine Seele, die noch über ihrem materiellen Wohnsitz schwebt, bevor sie ihren Weg in das Licht antritt. Im Grunde war es auch so. Nun denn, er musste weiterleben. Steele wartete geduldig, bis sich der Nebel verzogen hatte, dann setzte er die Fahrt fort.

Tief in der Nacht traf er in Cremona ein. Das Dienerehepaar war von seiner Ankunft unterrichtet. Es hatte alles vorbereitet und war dann wieder aus der Wohnung verschwunden. Steele wusste ihre Dienste zu schätzen, aber er mochte es nicht, wenn sie ihm unter die Augen kamen.

Seine verstorbene Gattin Helena hatte das Dienerehepaar sozusagen mit in die Ehe gebracht. Die Frau, damals noch ein blutjunges Ding und gerade aus dem heißen Süden Italiens auf Arbeitssuche in den Norden gekommen, war das Kindermädchen der Steeles gewesen. Es zeugte von dem Wesen Helena Steeles, dass dieses Kindermädchen ihr in geradezu abgöttischer Liebe und Treue anhing, während sich Helena im Gegenzug weigerte, diese Verbindung auf ein durch Bezahlung geregeltes Arbeitsverhältnis zu reduzieren.

»Entweder du nimmst mich und Nicoletta, oder du bekommst gar nichts«, hatte sie Steele ins Gesicht gesagt, als der drucksend mit seinem Heiratsantrag herausgerückt war. Die Entscheidung fiel nicht sonderlich schwer. Denn abgesehen davon, dass Nicoletta eine ausgezeichnete Köchin war – eine Tätigkeit, die Helena verabscheute und wo sie wenig Lob einheimsen konnte – hatte sie ein feines Gespür dafür, wie viel Distanz förderlich und wie viel Vertrautheit angenehm war. So, inzwischen selbst verheiratet und Mutter, zog sie Steeles Kinder auf, und ihr Mann, den Helena natürlich unter ihre Fittiche genommen hatte, entwickelte sich zu einer Art Verwalter für die gesellschaftlichen Angelegenheiten der Steeles.

Er wusste, wer was trank, wer sich mit wem bestens unterhielt und wen man auf gar keinen Fall neben diese oder jene Person platzieren durfte. Daneben verstand er es, mit Handwerkern umzugehen und im Notfall selbst einen Dübel in die Wand zu setzen.

 

Das war lange vorbei. Nach der Katastrophe, die Steeles Familie ausgelöscht hatte, baten ihn Nicoletta und ihr Mann, das Dienstverhältnis zu lösen. In seiner Betäubung verstand Steele zuerst nicht, wie viel Rücksichtnahme in dieser Bitte verborgen war. Er weigerte sich jedoch, denn er hätte ihre Entlassung als Verrat an Helena angesehen. So blieben sie, aber versanken förmlich in den Hintergrund seines Lebens, denn sie spürten nur zu deutlich, dass sie für Steele lebendige, schmerzhafte Erinnerungen darstellten. So verständigten sie sich mit Steele per Telefon und trafen sich mit ihm an neutralen Orten, als müssten sie sich vor Verfolgern in acht nehmen.

Das Betreten der Wohnung war für Steele wie ein Aufprall nach einem Fenstersturz. Alles war unverändert, alles war an seinem Platz, alles war so, als würde Helena im nächsten Moment aus einem Nebenraum stürmen und ihn begrüßen. Er rettete sich in das Bett, lag lange wach, bis ihn die körperliche Erschöpfung in einen bleiernen Schlaf zwang. Der Morgen, als das mediterrane Sonnenlicht durch die hohen Fenster fiel, brachte ihm einen Moment des Vergessens, in dem er die Augen aufschlug und glauben konnte, dass alles noch richtig war. Dass er noch lebte. Dass die Kinder unten im Essraum lautstark zankten, dass Nicoletta mit ihrer tiefen Stimme versuchte, den Streit zu schlichten, und dass Helena in der nächsten Sekunde Augen rollend und aus theatralisch aufgeblasenen Backen pustend im Schlafzimmer erscheinen würde, um sich mit ihrem »Wer von uns beiden wollte eigentlich Kinder haben« an ihn zu kuscheln.

Die Köstlichkeit dieses Momentes bezahlte Steele mit einer Wirklichkeitserkenntnis, die wie ein Messer durch sein Herz fuhr. Von den Fenstern seiner Wohnung aus hatte man stets den Glockenturm des Domes im Blick. Helena hatte ihr italienisches Domizil auch wegen dieses Ausblicks gewählt. Sie war auf eine kindliche Weise stolz auf diesen Torrazzo, als wäre er ein persönliches Eigentum, und mindestens einmal in der Woche kam sie nicht umhin, ihren Jeremy mit der Tatsache zu konfrontieren, dass dieser Turm der höchste Italiens sei und dass selbst die schändlichen Mailänder Bastarde – sie drückte es vornehmer aus, aber sie meinte es genauso – mit ihrer lächerlichen, zusammengefallenen Pastete von Dom, nichts dergleichen hätten.

 

Helenas gerechter Zorn gegen Mailand wurzelte übrigens im Jahre 1334, wie sich Steele heimlich kundig gemacht hatte. Mein Gott, wie viel Kraft und Temperament und Geist und Witz hatte doch diese Frau, und nun sollte sie verschwunden sein wie ein Rauchfaden im Herbstwind! Er machte sich fertig und verzog sich zu seinen Übungsgeräten, die er sich in seinem Arbeitszimmer aufgestellt hatte. Die glänzenden Foltermaschinen aus einem Magazin für Body-Builder waren die einzige Veränderung, die Steele in den Wohnräumen vorgenommen hatte. Die Einrichtung der drei Stockwerke war, abgesehen von der Personalwohnung, alleine nach Helenas Wünschen vorgenommen worden. Alles trug die Zeichen ihres Geschmacks, in dem sich klassische Strenge mit der Lust am Willkürlichen, Exotischen und Außergewöhnlichen vereinigte. Es gab regelmäßige Umräumaktionen, weil Helena irgendein Möbelstück erstanden hatte, das nur im Zusammenhang mit einem anderen seine volle Wirkung entfalten konnte. Im Grunde lebte Steele nun in einer ihm fremden Umgebung.

Helena und ihre Begeisterung war das Bindeglied zwischen ihm und dem Mobiliar, den Farben und Stoffen gewesen. Jetzt bedeutete das alles Erinnerung, zeigte stündlich seine Kanten, an der sich Steeles Seele wund stoßen musste.

 

Der Anrufbeantworter in seinem Arbeitszimmer zeigte auf dem Kontrollfeld, dass die Aufnahmekapazität ausgeschöpft war. Das erschien ungewöhnlich. Steele erwartete keine Anrufe und erhielt im Normalfall auch keine. Wer also hielt es für nötig, ihm ein Aufnahmeband für achtzehn Minuten vollzureden? Es war immer dieselbe Stimme. »Buon giorno, mein Name ist Ido Pinazzi. Herr Steele, hören Sie mich? Wenn Sie mich hören, dann nehmen Sie doch bitte ab …«

Pinazzi, soviel konnte Steele den Anrufen entnehmen, war Journalist und wollte ihn dringend sprechen. Steele grunzte ungeduldig. Journalist! Und was für einer! Pinazzi musste wohl ein Meister des Feuilletons sein, ein Schwätzer der gehobenen Sorte und ein Zeilenschinder der härtesten Kategorie. Er schwafelte mit seiner hohen Stimme und brachte es gerade fertig, seine Telefonnummer zu hinterlassen, bis ihn die Zeitautomatik des Anrufbeantworters aus der Leitung warf. Ungeduldig hörte Steele die Aufnahmen ab.

Langsam ging ihm die Stimme Pinazzis auf die Nerven.

Es war eine hohe, fast schrille Stimme, die Steele zu der festen Überzeugung brachte, dass dieser Mann homosexuell war. Pinazzi sprach mit merklichem Florentiner Zungenschlag – nach dem dritten oder vierten Anruf schaffte er es sogar, seine Adresse, tatsächlich in Florenz, durchzugeben – und bediente sich geschraubter und extravaganter Ausdrücke. In Steele formte sich das Bild eines kleinen, schwabbeligen, dicklichen und kraftlosen Menschen, der Schuljungen Süßigkeiten zusteckt, um sie bei dieser Gelegenheit antatschen zu können.

Andererseits musste Pinazzi wirklich ein heftiges Interesse an einem Kontakt zu Steele haben, denn selbst eine heftige Bronchitis konnte ihn nicht von seinen Anrufen abhalten.

»Es geht mir nicht gut. Meine Gesundheit lässt zurzeit zu wünschen übrig, wie Sie vielleicht an meiner bedauerlicherweise stark belegten Stimme hören. Ich bin tatsächlich krank. Es ist so, das mein körperlicher Zustand fern von dem eigentlich wünschenswerten ist. (Dies waren jetzt vier Sätze, stellte Steele angewidert fest, die allesamt denselben Inhalt transportierten; einen Inhalt wohlgemerkt, um den sich Steele einen feuchten Kehricht scherte.) Trotzdem sollten Sie mich anrufen, unter der Nummer …, ich gebe Ihnen auch meine Adresse, bitte, halten Sie mich nicht für aufdringlich, es ist auch sonst nicht meine Art und Sie können sicher sein, dass es mich eine nicht zu unterschätzende Überwindung kostet, Sie auf diese Weise zu belästigen. Allerdings bin ich nach längerer, eingehender Überlegung zu der Einsicht gekommen, dass in bestimmten Situationen die Regeln der Höflichkeit, denen ich mich sonst vollkommen verpflichtet fühle, …«

Piep, Ende der Gesprächsaufzeichnung.

 

Schwätzer. Blöder, blöder Schwätzer. Der Anrufbeantworter hatte einen Defekt. In den aufgezeichneten Gesprächen, und das hieß in den Anrufen Pinazzis, drängte sich ein tiefer unangenehmer Brummton in den Vordergrund. Dann geschahen zwei Dinge, die Steele Ansicht über Pinazzi änderten. Zum einen war es dieser Satz »… ich weiß aus sicherer Quelle, dass auch Sie sich, Herr Steele, in den letzten Jahren intensiv mit dem Flugzeug ab …« Piep, Ende der Aufnahme.

Pinazzi musste doch etwas größere Fähigkeiten haben, als lediglich Zeilen vollzuschwafeln, denn Steele hatte sich bemüht, seine Nachforschungen stets verschwiegen und im Hintergrund ablaufen zu lassen. Zum anderen stellte sich heraus, dass der Brummton nicht auf einen Defekt des Anrufbeantworters zurückzuführen sein konnte. Der vorletzte Anruf stammt nicht von Pinazzi, sondern von einer Freundin Helenas, die vor langer Zeit nach Australien gegangen war. Sie wollte sich mal wieder melden, da sie kurzzeitig in Europa war, hatte sich die Nummer besorgt und bat um ein Treffen mit einer Helena, die schon seit Jahren tot war.

Steele ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Die Vorstellung, dass in der Welt dieser Frau Helena noch lebte! Noch immer lebendig war und dass man sie anrufen und zu einem Treffen bitten konnte. Dann ruckte Steeles Kopf wieder hoch. Das Brummen war nicht da.

Also nicht das Gerät. Also das Telefon Pinazzis. Dieser stellte auch den letzten Anrufer. Er sprach stockend, berichtete voller Selbstmitleid, dass er schwer erkrankt sei und nicht reden könne, weil er Angst habe abgehört zu werden.

 

Der erste Weg führte Steele zu einem Bekannten, der ein kleines Geschäft für Elektroartikel unterhielt.

»Mein Anrufbeantworter ist im Eimer«, erklärte Steele, als er das Gerät auf die Ladentheke legte. Giorgio Macceto, der Inhaber, hörte sich Teile des Bandes an. Er hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und lauschte intensiv wie ein Musikliebhaber, der eine alte Schellackplatte mit Belcanto vorgespielt bekommt.

»Wie lange waren Sie nicht zu Hause, Herr Steele?«

»Mehrere Wochen.«

Macceto pfiff einen Lehrjungen heran, übergab ihm die Verantwortung für das Geschäft und winkte Steele, ihm zu folgen. Sie gingen über einen Flur zu einem Hinterhof und durchquerten ihn. Auf der anderen Seite schloss Macceto eine alte Tür auf, von der die Farbe fast völlig abgeblättert war. Bevor er sie öffnete, vergewisserte er sich sorgfältig, dass niemand ihn beobachtete. Als er die Tür öffnete, wurde Steele klar, warum Macceto so misstrauisch war.

An der Innenseite der alten Tür konnte man einen Aluminiumbelag erkennen, auf dem eine dicke Polsterung angebracht war. Diese schalldämmende Verkleidung passte weder zu der schlecht erhaltenen Außenseite, noch passte sie überhaupt zu dem Hinterhof eines kleinen Elektroladens. Als Macceto das Licht anknipste, befanden er und Steele sich in einer Art Akustiklabor. Rechner, Monitore, Tonbandgeräte und Mikrofone standen rings an den Wänden des fensterlosen Raumes.

»Setzen Sie sich, die Sache wird dauern«, erklärte Macceto.

»Warum machen Sie das jetzt?«

»Mmmh, sagen wir, ein Gefühl. Und irgendwie möchte ich meine Spielsachen ja auch mal einsetzen.«

Während er das sagte, hatte Macceto schon den ersten Rechner in Gang gesetzt. Er holte das Aufnahmeband aus dem Anrufbeantworter, legte es ein, und bald hatte er auf einem Monitor eine Zackenlinie.

»Das ist die grafische Darstellung der Töne«, erklärte er.

Steele wusste genau, um was es sich handelte, nickte aber ergriffen. Es war besser, Macceto nicht in seiner Begeisterung und seinem Besitzerstolz zu mindern. Eine halbe Stunde beschäftigte sich Macceto intensiv mit dem Band, ließ es vor und zurücklaufen, legte verschiedene Filter über die Aufnahme, unterdrückte Signale, um andere hervorzuheben.

Dann drehte er seinen Stuhl in Richtung Steele. »Tja«, sagte Macceto. Es klang nicht beruhigend.

»Also«, lockte Steele.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Dann sagen Sie Unsicheres.« Steele hatte inzwischen eindeutig Blut geleckt.

»Also, die Störgeräusche, dieses Brummen, kommen aus dem Telefon dieses Pizzanazi oder wie er heißt. Und sie kommen wiederum nicht aus dem Telefon, weil das Telefon in Ordnung ist. Bevor Sie mich nun unterbrechen … es muss sich um einen Störfaktor handeln, der in einem Stromkreis in Pizzapizzas Wohnung ist. Genauer gesagt, in den elektrischen Installationen dort. Tja …«

»Das war es doch wohl noch nicht alles, was Sie mir sagen wollten?«

»Sagt Ihnen der Begriff psychotronischer Generator etwas?«

Steele schüttelte den Kopf.

»Also, um es kurz zu machen – es gibt die Legende, oder wenn Sie so wollen, es gibt mehr oder weniger klare Hinweise, die sich mit Fantasie und bewusster Fälschung vermischen, dass der sowjetische KGB Versuche mit diesen psychotronischen Generatoren angestellt und sie vermutlich sogar eingesetzt hat. Die Generatoren setzten niederfrequente Wellen frei, die auf die bestrahlten Personen starke negative seelische und körperliche Auswirkungen ausüben.

Nun – im Fall Pizzapanis ist das die einzige Erklärung.«

»Der KGB existiert nicht mehr.«

Statt einer Antwort rollte Macceto seinen Stuhl zu einer Schaltkonsole und bückte sich mit einem Altmännerstöhnen, um etwas darunter hervorzuholen. Dann hielt er ein paar glänzender Stiefel in die Höhe.

»Paradestiefel für Offiziere der NVA«, erklärte er.

»Ich verstehe nicht ganz?«

»Als ich vor zwei Wochen in Berlin war, habe ich sie mir auf einem Flohmarkt gekauft.

Für nur sechzig Mark. Ein lächerlicher Preis für die guten Stiefel.« Liebevoll polierte Macceto mit dem Ärmel ein Staubkorn vom glänzenden Leder und stellte die Stiefel wieder weg.

»Was ich sagen will«, sagte er zu Steele gewandt, »Sie haben natürlich recht, dass der KGB nicht mehr existiert. Aber die NVA, der Nationale Volksarmee der Ostdeutschen, existiert auch seit Jahren nicht mehr. Nicht einmal der Staat, zu dem sie gehörte, existiert noch.

Aber die Menschen, die zu diesen Institutionen gehörten, existieren noch. Und das Material dieser Institutionen existiert auch noch. Und manchmal ist es billig zu bekommen.«

»Das also ist Ihre Schlussfolgerung. Ein … wie hieß es noch?«

»… psychotronischer Generator …«

»Also – so ein Teil in Pinazzis Wohnung.«

»Herr Steele, ich kann nicht mehr tun, als Ihnen meine Vermutung zu sagen. Und die ist klar – jemand hat einen psychotronischen Generator in Pizzahinzas Wohnung gebracht. Und Sie können sicher sein, dieser Jemand wollte Pinazzis nichts Gutes tun.«

Eine geschwätzige Schwuchtel, die mit KGB-Technik bearbeitet wird. Warum legte man ihn nicht einfach um? Seit wann gab es in diesem sonnenverwöhnten Land keine Männer mehr, die andere Männer so nebenbei, zwischen Mittagessen und Nachmittagsschläfchen, ermordeten? Es gab nur eine Erklärung. Dieser Pinazzi musste auf möglichst unspektakuläre Art zu seinem Grabstein kommen, weil er sonst, durch die Art eines allzu schnellen Ablebens, Personen aufmerksam machen würde. Und diese Personen mussten wichtig und mächtig sein.

Allerdings mochte es auch sein, dass Pinazzi, der Dampfplauderer und Oberschwafler, diese Beziehungen nur derart überzeugend verbalisiert hatte, dass andere darauf hereingefallen waren. Dann stellte sich die Frage, ob Person X, die sich der ausgefeilten Vernichtungstechnik des KGB versichert, nicht auch genügend Durchblick haben sollte, um zwischen erfundenem und wirklichem Vitamin B zu unterscheiden.

 

An diesem Punkt seiner Überlegungen wurde Steele klar, dass er sich im Kreis drehte.

Obwohl er inzwischen eine fast körperliche Antipathie gegen Pinazzi entwickelt hatte, musste er ihn besuchen. Das waren die vierhundert Kilometer oder wie viel es sein mochten wert.

Den eigentlichen Ausschlag allerdings gab ein anderer Name: Arial Famagusto. Jeder, der sich für Feuerwaffen interessierte, die mehr darstellten als industriell zusammengepresste Blechschalen mit einer mehr oder weniger komplexen Mechanik, kannte diesen Namen. Famagusto war im Grunde ein Relikt aus einer vergangenen Zeit genialer Waffenschmiede.

Er stellte ausschließlich exklusive Einzelexemplare her, als wäre er der mythische Zwergenkönig, der dem blonden Siegfried tief unter der Erde sein magisches Schwert ausglühte.

Wie gesagt, der Name war in der Branche bekannt. Aber an diesen Mann heranzukommen, war fast unmöglich. Er betrieb kein Geschäft, keine Werkstatt, hatte keine Adresse.

Vielleicht hatte er dafür ganz banale Sicherheitsgründe. Steele vermutet eher, dass sich hier die romantische Ader eines unzeitigen Genies offenbarte. Es hatte ihn viel Geld und Zeit gekostet, die er in Flüsterkneipen, Kaschemmen und rauchigen Hinterzimmern verbrachte, um Famagustos Aufenthaltsort gewahr zu werden, und noch mehr Zeit und noch mehr Geld, um einen Weg zu finden, mit diesem Mann in Kontakt zu treten. Florenz bedeutete, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Und es gab die Möglichkeit, über die A 15 zu fahren mit dem Meer zur Rechten, um dann über Lucca in östlicher Richtung Florenz zu erreichen.

 

Florenz würde noch voller Touristen sein. Lästig, aber vielleicht doch praktisch zur Tarnung, zumal Steele sich nicht an den touristischen Anlaufstellen aufhalten wollte. Steele sicherte sich ein Zimmer in einem außerhalb gelegenen Hotel, besorgte sich einen Mietwagen und machte sich auf den Weg.

Das Wetter war prachtvoll. So entschloss er sich, einen Teil der Strecke auf kleineren Straßen zurückzulegen. Er rastete in der Nähe eines Sandstrandes, auf dem sich bunte Sonnenschirme aneinanderreihten. Träge und von Schweiß und Sonnenmilch glänzend dösten die Urlauber auf ihren Liegen. Es herrschte die typische Strandatmosphäre, zugleich aufgedreht und schläfrig, mit Musik aus Transistorradios, Kinderstimmen, lauten Rufen und dazu dem Geschrei der Möwen. In Ufernähe planschten die Badenden, etwas weiter draußen fuhren Motorboote und Wasser-Scooter und kratzten ihre gischtigen Kielspuren in das Blau. Und dahinter lag die ungeheure Fläche des Meeres, schwer und unbewegt, nur manchmal vom silbrigen Glitzern einer Welle unterbrochen. Das Blau des Wassers und das Blau des Himmels verliefen ineinander. Es schien, als würde der Horizont mit seiner sanften Färbung so nahe sein, dass man nur ein winziges Stück ins Offene zu schwimmen bräuchte, um ihn zu berühren.

Das Meer lag da wie ein schlafender Gott, schön, ewig und allem Menschlichen undenkbar fern. Fern allen Freuden, aller Trauer und aller Rache.

Steeles Wangenmuskeln zuckten, sein Gebiss begann zu mahlen. Wut stieg in ihm auf. Die Schönheit dieses Anblicks zerschmetterte ihn wie ein Insekt. Und dennoch spürte er Trauer, lebte jeden Tag mit seinem Verlust, blutete mit jedem Gedanken an seine verlorene Familie aus wie ein geschächtetes Opfertier. Nein, auch in ihm lebte ein Gott. Der Gott der Rache, der dunkle Gott der Erde, der nach Gerechtigkeit schreit, der Schmerz mit Schmerz aufwiegt, dem die leichte Hand der Gnade fehlt, mit der die Himmlischen dem Menschen zufächeln.

In diesem Moment verstand Steele, dass er hier die helle Seite sah. Diese Seite war schön, sie war notwendig – aber sie war nur die eine Hälfte der Wirklichkeit. Die andere Hälfte lag nicht im hellen Schein einer freundlichen Sonne, vielmehr war es das dunkelrote Glosen unterirdischer Lava, die sie erhellte. Das Schicksal hatte Jeremy Steele von der einen Seite des Wirklichen auf die andere geschleudert. Und er würde seinen Weg gehen.

 

Ein kleines Mädchen wackelte auf unsicheren Beinchen auf Steele zu. Es war so beschäftigt mit der Anstrengung des Laufens, dass es den Mann erst erkannte, als es vor ihm stand und mit einem Plumps auf dem Hosenboden landete. Es schaute Steele an und begann zu schreien. Es beruhigte sich nicht, bis die Mutter herbeieilte und es tröstend auf den Arm nahm.

Die Mutter war in Steeles Augen selbst fast noch ein Kind. Dunkeläugig, schön, kokett und mit dieser ungeheuren Menge an Jahren vor sich, die sie nicht mit Furcht, sondern mit Hoffnung und Neugier erwartete. Sie lächelte Steele entschuldigend zu. Das Verhalten ihrer Tochter war ihr sichtlich peinlich. Steele sah das Lächeln, das ihm zugedacht war, und wusste zuerst nicht, wie er reagieren konnte. Dann gelang ihm selbst ein Lächeln und eine freundliche Bemerkung. Sie unterhielten sich eine Weile, bis die Kleine unruhig wurde und sich vom Arm der Mutter herunterzappelte. Sie nahm ihre Mutter resolut an der Hand und zog sie weg.

Steele blickte den beiden nach. Seine Tochter Romina wäre jetzt wohl in dem Alter wie diese junge Frau. Aber genau wusste er es nicht. Er ging zum Wagen. Mit aufheulendem Motor raste Steele zurück auf die Straße.

***

Ido Pinazzi lebte in einem typischen Kleine-Leute-Viertel. Arbeiter, mittlere Angestellte, dazwischen einige Künstler oder Möchtegern-Künstler, die den kleinbürgerlichen Hintergrund brauchten, um ihre Verstiegenheiten und bizarren Einfälle als Äußerungen des kreativen Genies darzustellen – vor allem vor sich selbst. Aber es war eine gute Gegend, es gab keine Müllberge, keine abbruchreifen Ruinen, und die Jugendlichen, die an den Ecken standen und nach den Taschen der alten Damen griffen, taten dies nur, um beim Tragen zu helfen.

Diese Umgebung – laut, kinderreich, katholisch, menschlich, molto italiano und enorm lebenstüchtig – versöhnte Steele etwas mit dem Bild, das er sich von Pinazzi gemacht hatte.

Aber Pinazzi wohnte hier nicht mehr. Auf Steeles Läuten erschien eine Nachbarin im Fenster und erklärte, Signore Pinazzi habe vor zwei Wochen einen Zusammenbruch gehabt und sei in ein Krankenhaus gebracht worden. Welches Krankenhaus? Sie wusste es nicht. Es sei alles zu schnell gegangen, obwohl der Signore schon längere Zeit nicht gut zurecht gewesen sei. Es war Steele unangenehm, über mehrere Stockwerke schreien zu müssen, und so bedankte er sich und zog von dannen.

Aber die Sache begann zu stinken. Zumindest wenn er an Maccetos Theorie dachte, die jetzt an Wahrscheinlichkeit gewann. Steele versuchte sich, während er durch das Viertel streifte, einen kleinen, dicklichen Homosexuellen vorzustellen. Welche Anlaufstellen würde ein solcher Mann haben? Steele landete vor dem Eingang der Konditorei, die schräg gegenüber Pinazzis ehemaligem Wohnhaus lag. Er warf einen unauffälligen Blick hinein.

Vorne war das Ladenlokal, durch das man in ein kleines Café im Hinterzimmer treten konnte. Es waren nicht viel mehr als ein halbes Dutzend Tische, die sich mit ihrem dunkel polierten Holz ebenso wie die Stühle mit den geflochtenen Lehnen tapfer gegen den Designer-Zeitgeist mit seinem Schrei nach Leder und blankem Chrom aufbäumte. Trotz der ziemlich frühen Stunde waren alle Tische, bis auf einen, besetzt. Die Gäste waren Hausfrauen, die sich für diesen Tag herausgeputzt hatten, kleine Handwerker im Ruhestand mit altmodischen Anzügen und schlecht gebundenen Krawatten, dazwischen Zeitungsleser, die Universitätsdozenten sein mochten. Die Konditorwaren mussten gut sein, denn wegen der ältlichen Bedienung würde keiner in dieses Café gehen. Wenn er hier nichts über Pinazzi erfuhr, dann nirgendwo.

 

Er suchte den verbliebenen freien Tisch aus und stellte sich dann vor die Kuchentheke, um sich über das Angebot zu informieren. Das alles sah wirklich wesentlich besser aus als die Bedienung. Die Dame hinter der Theke, die sich als Frau des Besitzers entpuppte, sprang beim Stichwort Ido Pinazzi an, als hätte Steele auf den Starterknopf eines gut gepflegten Roadsters gedrückt.

»Der arme Signore Pinazzi. So ein netter Mann. Immer höflich, immer ein nettes Wort auf den Lippen, immer proper, immer adrett. Ein Bild von einem Herrn.«

An dieser Stelle entrang sich ein echter Seufzer dem üppigen Busen der Signora, und Steele fragte sich, ob er nicht eben einen unziemlichen Blick in ihr Seelenleben geworfen hatte.

»Es war eine Schande. Selbst als er schon sehr krank war, kam er immer noch in mein Geschäft. Er war ein rechtes Schleckermaul, ja das war er.«

Steeles Bild von Pinazzi verschwamm und bedurfte der Erneuerung.

»Immer für ein Gespräch zu haben.«

Aha, der Dampfplauderer blieb. Aber ein guter Journalist musste auch mit den Leuten reden können.

Die Inhaberin hatte, trotz tapferer Versuche, dies zu leugnen, die fünfzig schon vor vielen Jahren überschritten. In ihrer Jugend musste sie ein niedliches Ding gewesen sein – ein absolutes Schnuckelchen, dachte Steele – aber die Jahre hatten ihre Süße abgeschmolzen wie heißes Wasser bei einer Zuckerstange. Sie hätte es akzeptieren können und wäre als gut erhaltene, ansehnliche und durchaus reizvolle Dame durchgegangen. Aber ihr Bewusstsein war auf einem früheren, mädchenhaften Stand geblieben, sie spielte die Kokette, klimperte mit den Wimpern, neigte den Kopf neckisch zur Seite und gab ihrer Stimme einen verführerisch-flötenden Unterton.

Jeremy Steele wusste, wie er mit seiner kräftigen Figur, seinen Augen aus eisigem, blauen Stahl, seinen melancholischen Fältchen und dem grauen Abenteurerbart auf Frauen wirkte.

Als sie sich vorbeugte, um Steele etwas zu zeigen – »Da oben war das Arbeitszimmer von Herrn Pinazzi, direkt hinter dem Balkon, und er stand öfter am Geländer und winkte mir zu. Ein so netter Herr.« – da schwabbelte die schlaffe Haut unter ihrem Oberarm, und Steele empfand heftigen Widerwillen. Er war froh, als weitere Kunden kamen und er sich an seinen Tisch verziehen konnte.

Die Kuchen allerdings waren ebenso die Reise nach Florenz wert wie das Baptisterium oder die Domkuppel. Als Steele, nach längerem Aufenthalt als eigentlich geplant, wieder auf der Straße stand, wusste er, woher er den Schlüssel von Pinazzis Wohnung bekam.

 ***

Vorher hatte er noch anderes vor. Er betrat eine Autowerkstatt. Es war nicht unbedingt die typische Hinterhofwerkstatt, zeigte aber auch nicht die aufdringliche Prächtigkeit mancher Markenwerkstätten großer Autohäuser.

»Ich suche ein Einzelteil«, erklärte Steele einem Mechaniker im ölbefleckten Blaumann.

Der stutzte kurz, fragte dann: »Einzelteil? Etwas Spezielles?«

»Ich fürchte, es ist nicht gerade gängig.«

»Ich hole den zuständigen Herrn.« Der Mechaniker verschwand. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, die Steele geduldig wartend überstand, bis ein anderer Mann erschien. Seine Kleidung zeigte deutlich, dass er nicht zu denen gehörte, die sich unter einen Wagen legen, um die Ölablassschraube zu öffnen.

»Sie suchten ein Einzelteil, mein Herr?«

»So ist es.«

»Für welchen Typ?

»Es handelt sich um einen Alfa, Baujahr ‘84.«

»Welches Einzelteil?«

»Das Auspuffendrohr.«

»Verchromt, vernickelt oder mattiert?«

»Verchromt.«

»Durchmesser?«

»Neun Komma Fünf Millimeter.«

Sie spielten ein Theaterstück, dessen Text nichts anderes war als eine einzige Parole, die den Durchlass zum Reservat des Arial Famagusto öffnen sollte. Ein falsches Wort, eine Unsicherheit, und Steele wäre mit einem freundlichen Kopfschütteln hinausbegleitet worden. Viel Zeit und viel Geld wären verloren.

»9,5 Millimeter.« Der Mann nickte und erklärte dann, er müsse sich telefonisch erkundigen.

 

Wieder wartete Steele. Er wusste, dass er beobachtet wurde. Es fiel ihm nicht schwer, ruhig zu bleiben. Ungeduld, Nervosität oder hektisches Trommeln auf dem Tisch hätten Steele aus dem Geschäft geworfen. Arial Famagusto verschwendete die Mühen seiner Arbeit nicht an Männer, die er für unwürdig hielt. Wer eine Famagusto-Waffe besitzen wollte, musste sich würdig erweisen. Warten können gehörte dazu. Nach mehr als einer Stunde kam der Mann zurück.

»Es wäre meinem Onkel ein Vergnügen, mit Ihnen heute Abend gegen acht Uhr ein wenig am Arno zu flanieren.«

Mehr war nicht zu erwarten. Steele dankte und ging.

Jetzt musste er sich um Pinazzi kümmern.

Steele begann mit der Suche nach der Klinik, in die Pinazzi eingeliefert worden war. Dazu brauchte er vorerst nur einen Stadtplan, um festzustellen, welches Hospital der Wohnung am nächsten war. Genau dort hatte er keinen Erfolg. Der Name Ido Pinazzi war unbekannt.

Vielleicht war er auch nicht unbekannt und man wollte Steele lediglich nicht mit der Wahrheit belästigen, vielleicht war Pinazzi unter falschem Namen in einer Klinik verschwunden – die Möglichkeiten, in die Irre zu gehen, waren mehr als vielfältig.

 

Als Steele aus dem Hauptportal trat, war er sich unsicher, ob er nicht in genau diesem Moment die Sache vergessen sollte.

Aber er war zu weit vorgedrungen. Es gab einen Sog, eine Strömung, die er deutlich spürte.

Beim zweiten Versuch hatte Steele mehr Glück. Er gab sich als Neffe Pinazzis aus und legte einen derartigen US-Akzent in seine Stimme, dass jeder ihm sofort glaubte, dass er erst vor einer Stunde aus dem Flugzeug gestiegen war. Die Sekretärin in der Verwaltung schaute unter dem Namen nach und zeigte ihm das Karteiblatt. Pinazzi war nach einigen Tagen auf der Intensivstation in die Abteilung für innere Medizin verlegt worden und von dort, auf eigenen Wunsch, in eine anderes Krankenhaus verlegt worden.

»Auf eigenen Wunsch?«, fragte Steele. Er spürte den Blick der Sekretärin und war sich klar, dass er seine Rolle als Verwandter auf Besuchstour nicht überstrapazieren durfte.

Sie zeigte ihm das Formular. Das Datum lag über eine Woche zurück. Die Unterschrift war ein undeutliches Gekrakel. Sicherlich sah das nicht so aus, wie der barocke Namenszug, den Steele von Pinazzi erwartet hatte, sozusagen als Hochrechnung angesichts all dessen, was er von ihm in Erfahrung gebracht hatte. Es war möglich, dass die Hand eines Kranken tatsächlich nur diese unsicheren Striche hervorbringen konnte. Aber warum ließ sich Pinazzi dann verlegen? Wenn die Unterschrift gefälscht war, bedeutet das, dass jemand ein Interesse daran hatte, Pinazzi schnell und ohne Aufsehen verschwinden zu lassen. Und dass er mit größter Wahrscheinlichkeit Erfolg gehabt hatte.

»Sehen Sie, ich habe meinen Onkel seit so langer Zeit nicht mehr gesehen, ich war fast noch ein, wie sagt man … Ragazzo …« Steele quetschte die Worte mühsam heraus wie die Zahnpasta aus einer fast leeren Tube.

Der Arzt war noch jung, und Steele schätzte ihn als einen dieser modernen Menschen-Mechaniker ein, die Einzelteile reparieren oder ersetzen und die Psyche für eine altmodische Theorie halten, die die moderne Chemie völlig überflüssig gemacht hat. Sie standen auf dem Flur der Intensivabteilung.

Durch ein Fenster in einer Tür sah Steele auf ein Plastikzelt, in dem verschiedene farbige Schläuche verschwanden. Das Sterben hatte hier etwas unpersönlich Geschäftsmäßiges, so als könnte man einen toten Menschen mit dem Staubsauger entfernen, wie wenn es ihn nie gegeben hätte.

»Herr Pinazzi, also Ihr Onkel, lag hier vier Tage. Er war immer bei Bewusstsein, obwohl sein Zustand alles andere als befriedigend war.«

»Warum wurde er dann verlegt?«

»Warum? Erstens brauchten wir das Bett. Zweitens war er der Patient mit dem stabilsten Zustand. Tatsächlich ging es ihm nach diesen vier Tagen durchaus besser. Zumindest sein psychischer Zustand wirkte wesentlich positiver.«

»Aber nicht so, dass er jetzt unbedingt die Klinik wechseln musste?«

»Da hätten wir es mit einem Wunder zu tun. Nein, ich weiß darüber nichts, weil es eine andere Abteilung war und ich will auch nicht spekulieren. Aber wenn wir Klartext reden: Ihr Onkel hatte nach allem medizinischen Ermessen keine Heilungschance. Und nur noch eine begrenzte Zeit. Sehr begrenzt …«

 

Steele bedankte sich und verschwand, um einige Zeit später, bewaffnet mit einem Blumenstrauß und einer üppigen Schachtel Pralinen durch den Eingang für die Notaufnahmen das Haus wieder zu betreten. In der Abteilung für innere Medizin saß eine ältere Schwester in einem verglasten Raum und las einen Heftroman.

Steele klopfte höflich und fragte mit seinem strahlendsten Lächeln nach dem Zimmer, in dem Herr Pinazzi lag. Über das faltige Gesicht der Frau, das angesichts seines höflichen Auftrittes vor mildem Wohlwollen geglänzt hatte, fiel ein Schatten.

Sie druckste herum, und Steele, immer noch im radebrechenden Italo-Amerikanisch, erklärte, dass Pinazzi sein Onkel sei und ihn in der letzten Zeit häufig angerufen habe und weil Onkelchen doch so ein Schleckermaul sei, was jeder in der Familie wisse – Steele hob die Pralinenschachtel wie eine Visitenkarte.

»Es tut mir so leid – aber ihr Onkel ist nicht mehr hier.«

»Er ist doch nicht etwa – schon gestorben«, stammelte ein entsetzter Steele.

Er musste sich einen Stuhl unter das Hinterteil schieben lassen und bekam einen Grappa serviert, den die Schwester zwischen Diät-Joghurts, Diät-Eis und Diätmarmeladen aus einem kleinen Kühlschrank hervorholte. Ihre mütterliche Fürsorge war so groß und ihre kleinen grauen Augen über den zitternden Tränensäcken schauten derart traurig, dass Steele einen Anflug von schlechtem Gewissen angesichts seiner Komödie verspürte. Dann wurde ihm klar, dass diese Gesichter in hunderttausend Varianten vor den Bildschirmen saßen, wenn eine dieser unerträglich sentimentalen Seifenopern lief, und ihr Griff zum Taschentuch auf demselben angelernte Reflex beruhte wie der Griff zu Chips und Flasche bei männliche Sportzuschauern.

Pinazzi, so wurde ihm erklärt, lag in einem Einzelzimmer. Er hatte es offensichtlich auch hier verstanden, die Herzen vorwiegend älterer Damen aus dem Krankenhauspersonal zu bezaubern. Nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation war er soweit zu Kräften gekommen, dass er kurzzeitig aufstehen konnte.

 

Das Gedränge von Diät-Fressalien im Kühlschrank der Stationsschwestern brachte Steele auf eine Idee. Sie war vielleicht etwas kühn, aber er hatte nicht viel zu verlieren. Und so setzte Steele einen Schuss ins Dunkel.

»Ich habe gehört, eine der jüngeren Schwestern hätte sich besonders um meinen Onkel gekümmert und …« Im Moment, als er diesen Satz von den Lippen brachte, fragte sich Steele selbst, woher zum Teufel er denn diese Information haben wollte. Aber er hatte seine Harpune zielsicher geworfen und nun zappelte die Beute.

Die Augen zogen sich einen Herzschlag zu schmalen Spalten zusammen, und Steele erkannte, dass hinter der jahrelang angesammelten Mütterlichkeit auch eine Frau der Entdeckung harrte, sozusagen das Weib an sich, das durchaus Anflügen von Eifersucht ausgesetzt war.

»Ach, Sie meinen die Lernschwester Cecilia …«

»Cecilia, richtig so war der Name. Ich wusste nicht, dass sie eine Lernschwester ist. Es war immer nur die Rede von Cecilia – Cecilia – wie war der Namen noch mal – Pico-, Dali – ich komme nicht darauf.«

Steele legte die Stirn in Falten und bot ganz das Bild eines nach innen schauenden Grüblers, der über die schlechte Lagerhaltung seines Gedächtnisses in Aufruhr geriet.

Die Krankenschwester tippte ihn leicht am Arm an. »Cecilia Donzano heißt dieses – Mädchen.«

In die kurze Pause zwischen dieses und Mädchen rauschten unhörbar, aber merklich, eine ganze Anzahl weniger freundlicher Benennungen.

»Wissen Sie, diese jungen Dinger sind ja raffiniert. Ich bin sicher, dass Herr Pinazzi froh war, etwas junges Blut um sich zu haben, ansonsten wären die Grünschnäbel wohl nicht sein Fall gewesen. Gute Figur und im Kopf nur Disco und Mode, so ist es doch. Sie hat jetzt übrigens Urlaub, sonst könnten Sie sich selbst ein Bild von dem Schätzchen machen.«

Sie schaute Steele zustimmungsheischend an und Steele nickte bedächtig – ein Mann, der vieles wusste, aber als echter Herr zu schweigen verstand.

 

Sie plauderten noch eine Weile, dabei erfuhr Steele auch, dass die ominöse Lernschwester Cecilia die Sache mit dem Formular besorgt hatte, und wahrscheinlich hat sie Ihren Onkel sogar dazu überredet, aber ich will ja nicht in den Verdacht kommen, zu tratschen.

»Wer könnte denn solche Bosheiten über Sie verbreiten wollen?«, schmeichelte Steele.

Sie lachte theatralisch. »Wenn Sie wüssten, wie es hier manchmal abgeht. Manchmal ist es nicht leicht, glauben Sie mir.«

Steele war voller Mitgefühl und verehrte seiner Gesprächspartnerin den Blumenstrauß und die eigentlich seinem Onkel zugedachten Pralinen. Die Schwester freute sich derart darüber, dass Steele sich im Hinausgehen fragte, was für ein Leben diese Frau führen mochte. Aber es machte ihm keinen Spaß, darüber nachzudenken.

 

Inzwischen war der Tag schon weiter fortgeschritten. Steele betrat zum dritten Mal das Krankenhaus und fragte sich zur Hausmeisterei durch. Er sprach jetzt sein übliches akzentfreies Italienisch.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte ihn ein Mann, der sich durch seinen hellgrauen Kittel als Hausangestellter zu erkennen gab. Der Mann hatte eine volle Tasse Kaffee auf einem Tisch neben seinem Platz stehen und schien gerade Zeit zu haben. Also nahm sich Steele auch Zeit.

Der Kaffee duftete so stark, dass er den typischen Krankenhausgeruch, der selbst in diesen Räumen wie eine ständige Erinnerung an die Zerbrechlichkeit des menschlichen Dasein hing, überdeckte.

»Es ist eine delikate Angelegenheit«, druckste Steele herum.

»Falls es um eine Geschlechtskrankheit geht, muss ich sie an die Zentrale verweisen, die schicken Sie weiter.«

»Oh nein, es geht nicht um Geschlechtskrankheit, obwohl, na ja, so ganz daneben liegt es wohl nicht.«

»Uneheliches Kind, das Sie besuchen wollen?« Der Mann rührte in seinem Kaffee, nahm einen Löffel voll und schlürfte das heiße Getränk auf diese Weise. Er wirkte noch nicht sonderlich interessiert.

»Auch kein uneheliches Kind. Kurz, meine Frau treibt es mit – – äh, meine Frau hat einen – Sie verstehen.«

»Ihre Frau hat einen Liebhaber. Dann ist die Urologie Ihr Fall. Wenn es darum geht, dass Sie Ihr entsprechendes Gerät nicht mehr einsetzen können und sich Ihre Frau deshalb einen Liebhaber genommen hat. Urologie -«

»Sie verstehen mich nicht. Also, meine Frau hat einen Liebhaber, aber sie leugnet es. In der letzten Woche fuhr sie mit ihm durch die Stadt, wahrscheinlich fummelte er sie an, jedenfalls ist sie einem Müllwagen hinten drauf geknallt. Müllwagen in Ordnung, mein Auto halb kaputt und meine Frau hat sich den Kopf angestoßen. War natürlich nicht angeschnallt, das blöde Stück -«

»Unfallchirurgie, schätze ich.«

»Nein, nein, das ist es nicht. Sie fuhr mit dem demolierten Wagen in diese Klinik. Tja, und ich möchte gerne wissen, wer ihr Liebhaber ist.«

Jetzt war es Steele gelungen, den ansonsten recht stabilen Angestellten zu verblüffen. Der schaute Steele eine Weile über seine Tasse hinweg an und versuchte sichtlich, die ungewöhnliche Anfrage irgendwie zu verstehen.

»Sie meinen, dass der Typ hier irgendein Formular ausgefüllt hat oder so?«

»Nein, ich meine, dass es an der Notaufnahme eine Kamera gibt!«

»Ja, die gibt es, aber wieso …«

»Wenn es also eine Kamera gibt, dann wird der Eingang zur Notaufnahme überwacht und die Leute werden aufgezeichnet – Video. Capito?«

»Aaaah, Video!« Es war ein abgrundtiefes Geräusch, mit dem der Mann aus den Tiefen seines Unverständnisses auftauchte wie ein Wal an die Oberfläche. Der Gedanke gefiel ihm offensichtlich. Dann allerdings schüttelte er mit dem Kopf.

»Ich bin sicher, dass es nicht legal wäre, diese Bänder anzuschauen.«

»Aber warum nicht? Wenn ich mich an die Notaufnahme stelle und mir die Leute angucke, ist das dann vielleicht auch verboten?«

»Natürlich nicht.«

»Na also, wo liegt dann der Unterschied?«

»Der Unterschied liegt darin, dass das Herumstehen und Leute gucken bisher noch von keinem Gesetz geregelt worden ist. Aber das mit den Überwachungsbändern, da gibt es garantiert Bestimmungen.«

Bei dem letzten Satz hatte die Stimme einen leicht veränderten Tonfall, denn Steele hatte einen Geldschein in der Hand. Jetzt kam es auf die nächste Sekunde an. Schmiss ihn der Kittel-Mann raus oder nicht? Wenn nicht, dann hatte Steele gewonnen.

»Sie wollen also nur dieses Band der letzten Woche sehen?«

»Ich weiß, wann meine Frau angekommen sein muss. Ein kurzer Blick und dann bin ich weg. Und das lasse ich hier.«

Die Bezahlung in diesem Krankenhaus schien nicht besonders hoch zu sein, oder aber Steele war an ein ausgesprochen gieriges Exemplar von Angestelltem geraten. Jedenfalls legte sich der Bekrittelte sehr ins Zeug, um Steele den Blick auf die Videoaufzeichnung zu ermöglichen.

Als erste Hürde stellte sich heraus, dass in dem kleinen Raum, der für das Sicherheitssystem reserviert war, ein junger Mann in Uniform herumlungerte. Kittel-Mann erzählte etwas von einigen Jugendlichen, die vor dem Haupteingang herumsäßen und irgendwie schon von Weitem nach denjenigen aussahen, die gerne in den Stationen auf Raubzug gehen.

Der junge Mann hob sich lässig aus dem Stuhl und knackte mit den Fingern. Dann tänzelte er hinaus. Er dünstete ein Selbstbewusstsein aus, das ihn fast unangreifbar zu machen schien.

Steele und sein Begleiter lauschten, bis die Schritte hinter einer zufallenden Tür verstummt waren. Ein schneller Griff in ein Regal förderte das sorgfältig mit dem Datum beschriftete Band zum Vorschein.

»Was passiert mit den Bändern?«, fragte Steele. Der andere machte einen kleinen Fernseher an und trommelte ungeduldig mit den Fingern, während die Röhre warm wurde und sich ein Lichtfeld auf dem Bildschirm ausbreitete.

»Die Bänder werden einige Wochen aufbewahrt und dann überspielt. Sehen Sie, die alten stehen links, die neuen werden rechts in das Regal geschoben und wandern dadurch automatisch nach links. Welche Uhrzeit?«

Da die Kamera nur eine beschränkte Anzahl von Bildern pro Minute machte, ruckten die Personen auf ziemlich absurde Weise durch das Bild, und Transportwagen tauchten geisterhaft und durchaus unheimlich aus dem Nichts auf und verschwanden ebenso plötzlich. Aber Steele sah zwei Männer, die eine Bahre trugen, daneben eine junge Frau in Schwesternkleidung, die bei dem Patienten die Hand hielt. Es war nicht genau erkennbar, aber Steele glaubte einen kleinen Koffer zu sehen, den die Frau in der anderen Hand trug.

Der Krankenwagen trug die Aufschrift eines privaten Unternehmens. Dann war der Wagen plötzlich weg und nur noch die Frau in der weißen Schwesternkleidung war zu sehen. Sie schien für einen Moment hinter dem abfahrenden Wagen hergeschaut zu haben. Sie trug nichts in der Hand.

 

Während Steele, um seine Tarnung durchzuhalten, weiter auf den Bildschirm schaute, dachte er an Cecilia Donzano.

Pinazzi musste entweder sehr krank oder wirklich ein hartgesottener Homosexueller sein, der keinerlei Gespür für Frauen hatte. Sonst hätte er bei der Donzano bemerkt, dass die ihre Arbeit im Krankenhaus lediglich als Übergangsphase betrachtete, bis ein junger, aufstrebender Arzt, besser ein älterer, reicher Patient, durch Charme und Schönheit dieses von der Natur so bevorzugten Wesens sturmreif geschossen worden war. Steele schätzte Cecilia Donzano als eine Art von wundervollem weiblichen Aasfresser ein. Ein Geier mit einem hinreißenden Paar unterer Extremitäten und einer Büste, die fast zu vollkommen war, um bloß Privatbesitz sein zu dürfen. Das Ganze gekrönt mit einer Flut blonder Locken, unter denen ein vielleicht beschränkter, aber sehr effektiver Verstand arbeitete.

Als er soweit gekommen war, klatschte Steele wütend in die Hände und beschied seinem Begleiter, dass seine Frau vermutlich anderswo geparkt haben musste, weil die Vorfahrt gerade besetzt war.

»Egal, ich werde schon aus ihr rausprügeln, mit welchem Typ sie mir Hörner aufsetzt«, knirschte er und ging, einen Mann in hellgrauem Kittel zurücklassend, dessen linke Tasche eine nicht unbeträchtliche Summe in italienischer Währung enthielt.

 

Steele brauchte eine Weile, um die Adresse von Cecilia Donzano herauszubekommen. Dort stellte er fest, dass seine Informationen überholt waren. Die schöne Cecilia war irgendwohin verschwunden. Ein Kind aus der Nachbarschaft erzählte Steele, dass Cecilias Barchetta noch vor ein paar Tagen hier geparkt habe. Der Junge bekam glänzende Augen, als er von dem Wagen erzählte.

»Neu?«, fragte Steele und bemühte sich, interessiert zu klingen.

»Funkelnagelneu, tutto!«, bestätigte der Junge und strahlte, als besäße er allein durch die Erinnerung an dieses Gefährt einen genügenden Anteil daran, der ihn glücklich machte.

»Schnickschnack daran?«

»Massig. Tiefer gelegt, verbreiterte Kotflügel, Auspuff mit super Sound, Alu-Felgen und solche Puschen, sage ich Ihnen.« Der Junge breitete wie ein Angler, der seinen besten Fang beschreibt, die Arme aus, um die Breite der Gummiwalzen zu beschreiben. Er übertrieb vermutlich etwas, denn ansonsten hätten Signorina Donzano sich in einer Art von Dampfwalze vorwärtsbewegt. Steele schob mit bewunderndem Kopfnicken die Unterlippe vor. Bevor er sich verabschiedete, bekam er von dem Jungen noch den Namen der Werkstatt, der Cecilias vierräderiges Massenprodukt in eine Muskelausführung mit Macho-Gehabe verwandelt hatte.

Versonnen schlenderte Steele von dannen. Etwas passte und etwas passte nicht. Es passte, dass sich eine billige Schönheit mit billigem Geschmack so ein auffälliges Gefährt anschaffte. Es passte nicht, dass sie dieses Automobil von ihren Gehalt als Lernschwester bezahlt haben sollte.

Cecilia Donzano, du Süße mit den Gazellenbeinen und dem Busen, der für Götterhände geformt ist, ich tu dich auf Wiedervorlage, dachte Steele und kümmerte sich um den Transportdienst.

 

Als er mit dem Taxi durch die Straße fuhr, die er als Geschäftsadresse gefunden hatte, bemerkte Steele zu seinem Erstaunen, dass die Werkstatt, die der Junge genannt hatte, nur knappe zwei Gehminuten weiter an derselben Straße lag. Im Vorüberfahren sah er einen Krankentransportwagen, der mit offener Motorhaube auf dem Hof stand. Er schaute auf die Uhr. Es blieb noch ein wenig Zeit, um weitere Informationen zu sammeln, dann musste Steele in sein Hotel.

Es gibt eine Art von Informationen, die helfen weiter, weil man sie nicht bekommt. Oder weil sie zumindest in einer Weise verborgen sind, die ihrerseits eine Information beinhaltet.

Als Steele eine Viertelstunde vor acht zwischen den Scharen flanierender Einheimischer und von der Kulturlast des Tages erschöpfter Touristen stand, hatte er einiges an Zeit und Geld für genau diese Art von Wissen investiert. Der private Dienst für Krankentransporte und andere Sanitätsaufgaben gehörte einer Holdinggesellschaft, die wiederum einer neapolitanischen Investorengruppe gehörte, die von einer Kanzlei in Genua vertreten wurde, die allerdings diese Aufgabe an eine andere Kanzlei in Mailand vergeben hatte, die wiederum Verbindungen zu der Holdinggesellschaft hatte. Es war nun nicht so, dass Steele dieses Kenntnisse in mühsamer Kleinarbeit und gleichsam im Zeitraffertempo am Nachmittag dieses Tages gesammelt hätte. Nein, er zapfte eine ergiebige Quelle an, einen ihm bekannten Journalisten, der sich auf Wirtschaftsfragen spezialisiert hatte.

»Die ganze Angelegenheit ist genial«, erklärte Molino, der besagte Journalist. »Du gründest eine Firma und kaufst – meinetwegen eine Maschine. Dann gründest du eine weitere Firma, die deine Maschine von dir mietet. Dann hast du plötzlich zwei Maschinen – eine, die du vorzeigen kannst und eine weitere in den Papieren. Auf die Art schaukelst du deinen Kreditrahmen immer höher, verschiebst Sachwerte zwischen deinen eigenen Firmen und vermehrst sie dabei auf die wunderbarste Weise. Der ganze Trick besteht darin, schnell genug auf die Caimans abzudüsen, mit dem Privatjet natürlich, bevor irgendein Wirtschaftsprüfer sich die Qual antut, in deinen Belegen nachzuforschen, wie viele Maschinen du wirklich hast.«

 

Auf die Frage nach Pinazzi zuckte Molino nur die Achseln. »Gehört nicht zu meinem Umgang. Oder, seien wir ehrlich, es ist umgekehrt. Ich gehöre nicht zu seinem Umgang. Er spielt einerseits den bescheidenen, anderseits hat er durchaus Beziehungen. Kulturschnösel. Erste Reihe bei jeder Ausstellungseröffnung, erste Kirchenbank bei hohen Festen und immer dort, wo am meisten fotografiert wird und mit Blick in die Kamera. Nee, also er ist nicht mein Typ. Es gibt massig Gerede über seine Vorlieben auf dem Gebiet der Fortpflanzung. Wenn ich ihn gesehen habe, spielte er immer so eine Mittelding zwischen Snob und elitärem Weltverächter mit katholisch-philosophischem Hintergrund. So ein Champagner-und Kaviar-Typ, Brioni-Anzüge, handgefertigte Schuhe, goldene Siegelringe und goldene Montblanc-Füller und so was in dieser Richtung.« Molino schüttelte sich, als hätte er ein überzuckertes Getränk gekippt.

»Ein Blender?«

»Der Typ fürs Kulturfeuilleton. Versuchte sich einige Male an politischen Themen, die er durch den Fleischwolf seiner Halbbildung drehte. Nun gut, wenn ich so etwas sage, ist das nicht ganz anständig, ich habe ja selbst keine Ahnung. Aber er hat immer so etwas – wie soll ich das sagen …« Molino kratzte sich am Oberschenkel und betrachtete mit gefurchter Stirn das Kalenderblatt an der Wand seines Redaktionsbüros. Steele machte ihn nervös. Eigentlich konnte er Steele nicht ausstehen und war nur ein Bekannter von dessen verstorbener Frau gewesen. Um so erstaunter war Molino gewesen, dass Steele bei ihm plötzlich auf der Matte stand. Jetzt saß er im gegenüber und hatte diese Ausstrahlung, die Molino völlig konfus machte.

Er kratzte sich und überlegte und während er überlegte, versuchte eine andere Abteilung seines Bewusstsein, sich darüber klar zu werden, was es mit Steeles Ausstrahlung auf sich hatte. Dann fiel ihm beides ein.

 

Laut sagte Molino: »… neureiches, zugleich billig und hochnäsig, immer zu viel, immer zu laut.« Und dabei dachte er an einen Tag in Mailand, als auf dem Domplatz eine Kundgebung der Neofaschisten stattfand und er durch eine verwaiste Einkaufspassage in der Nähe gegangen war. Alles schien friedlich und geordnet, aber aus dem Hintergrund hörte man die einpeitschenden Slogans der Redner und die Geräusche einer unruhigen, erregten Menge und wusste – es würde bald Gewalttätigkeiten geben, so unvermeidbar und den Naturgesetzen unterworfen wie sich ein Pflasterstein der Schwerkraft beugen muss auf seinem Flug. Das war Jeremy Steele- die ruhige Straße im Sonnenschein, auf der es blutige Auseinandersetzungen geben würde.

Während sich Steele an ein Geländer lehnte und mit uninteressiertem Blick die vorbeistreifenden Menschen betrachtete, war er sich klar, dass er nicht mit Molino einer Meinung war. Die Verschachtelungen der Unternehmensgruppe dienten nicht dazu, oder dienten wenigstens nicht hauptsächlich dazu, untereinander Kredite zu erschleichen. Steele roch etwas anderes. Und damit hob sich der Fall des verschwundenen Ido Pinazzi auf eine höhere Ebene. Das Stichwort lautete Mafia. Verschachtelt wie russische Puppen, eine Firma in der anderen, mit undurchdringlichen, aber dennoch legalen Verflechtungen, entsprach die Konstruktion den Gepflogenheiten der ehrenwerten Gesellschaft, die sich schon längst um andere Dinge kümmerte als nur darum, den Straßenkindern von Neapel Nachschub an geschmuggelten Zigaretten zu sichern.

 

Steele verschob alle diese Überlegungen auf den folgenden Tag. Jetzt musste er sich auf sein Gespräch mit Famagusto konzentrieren. Er hatte lange geschwankt und sich dann entschieden, Famagusto seinerseits auf die Probe zu stellen. Steele hatte im Hotel die Kleidung gewechselt, seine Frisur leicht verändert und trug nun die obligatorische Ray Ban, ohne die man sich zurzeit nackt fühlen musste. Wenn er es Famagusto damit unmöglich machte, ihn wieder wiederzuerkennen, hatte er diese lebende Legende überschätzt.

Es dauerte bis fast halb neun, als Steele einen hageren, hochgewachsenen Mann auf sich zukommen sah. Der erste blitzartige Eindruck war der eines Grande, eines Mannes, der durch Geburt oder Talent weit über dem Durchschnitt seiner Zeitgenossen steht. Der Mann trug einen weiten Sommeranzug, eine blau-weiß gestreifte Bluse, braune Mokassins und einen weißen Strohhut. Er stützte sich auf einen Stock, der in seiner schwarzen Massivität keineswegs zu der sommerlichen Kleidung passte, also ein ständiger Begleiter, unabhängig von den Jahreszeiten war. Später erst entdeckte Steele, das der Griff als silberner Wolf mit rot eingesetzten Rubinaugen und diamantenen Eckzähnen ausgebildet war. Der Mann bewegte sich zwischen den Menschen zugleich vorsichtig und zeremoniös, als hätte sein Auftritt irgendeine verborgene kultische Bedeutung. Er lüftete höflich vor Steele seinen Hut.

»Die Tageshitze macht die Arbeit nicht leichter«, sagte er.

»Glücklicherweise bringt der Abend Kühlung«, sagte Steele seinen Erkennungsspruch auf.

»Würden Sie mir die Ehre Ihrer Begleitung angedeihen lassen«, fragte Arial Famagusto und schritt, ohne eine Antwort zu erwarten, weiter. Seine geschraubte Ausdrucksweise passte zu seinen zugleich eleganten und etwas gezierten Bewegungen. Vor allem passten sie zu seinem schmalen, knochigen Gesicht mit dem starken Kinn und dem kleinen, schmalen Mund.

Arial Famagusto verstärkte diesen Effekt des lang gezogenen Gesichtes, der ihm etwas von einem Don Quichotte gab, durch einen gepflegten, silbergrauen Spitzbart. Seine Augen waren blau und wirkten in diesem Moment etwas aufgeregt und schutzlos, wie eine Schulklasse, die zu einem Ausflug versammelt wird. Vermutlich waren sie es viel eher gewohnt, Werkstücke auf ihre millimetergenau Fertigung zu prüfen, als hier das Gewimmel der Menschen zu überblicken.

Eine gewaltige Hakennase vollendete das Profil, das sich besser auf einer Münze des 15. Jahrhunderts ausgenommen hätte, als vor dem lärmigen Hintergrund, den Florenz zur Reisezeit bot.

 

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Mauersegler zischten mit schrillen Schreien knapp über ihren Köpfen dahin. Famagusto sah ihnen aufmerksam nach.

»Es hat etwas Niederschmetterndes«, sagte er dann. »Diese Vollendung, die in einer einzigen Kurve, von diesen Vögel geflogen, liegt.« Er erwartete keine Antwort.

Nach einer weiteren Weile blieb Famagusto stehen und wandte sich zum ersten Mal Steele vollständig zu.

»Mir wurde zugetragen, dass Sie ein Werkzeug zu erwerben wünschen, das ich Ihnen fertigen kann.«

Steele nickte nur.

»An welche Größe hatten Sie gedacht?«

»Ich hatte etwas wie die Webley Mark VI im Auge.«

Famagustos Gesicht, das Steele nun an eine Wachsmaske erinnerte, die in der Sonne warm geworden war und in die Länge gelaufen war, blieb unbewegt. Dabei hatte Steele den Namen Webley durchaus als Provokation gedacht.

 

Die Webley Mk VI war ein englisches Produkt der Marke Kleinartillerie mit dem gewaltigen Kaliber von 11,5 mm. Während des Ersten Weltkriegs war sie teilweise mit einem Kurzbajonett oder einer hölzernen Schulterstütze versehen worden. Obwohl diese Feuerwaffe in den britischen Ex-Kolonien noch bis in die 50er als Polizeiwaffe eingesetzt wurde, hatte man sich in ihrem Ursprungsland von derartigen Geräten schon seit Langem verabschiedet. Die Ausbilder hatten festgestellt, dass ihren Rekruten das Erschießen von als Feinden definierten Mitmenschen weniger Lust bereitete, wenn sie dabei selbst durch Donnerhall, schmerzhaften Rückschlag und Mündungsblitz über das für harte Jungs erträgliche Maß belästigt wurden. Andererseits hatte es in speziellen Situationen des Daseins eine enorm beruhigende Wirkung zu wissen, dass man eine Waffe in der Hand hielt, die auf zwanzig Meter den stärksten Miurastier umriss.

»Welche Art von Drachen wollen Sie mit einer solchen Waffe jagen?«, fragte Famagusto.

Steel ließ eine kleine Pause zwischen der Frage und seiner Antwort entstehen. »Drachen, die Menschen fressen.«

Famagusto stützte sich auf das Geländer und musterte Steele mit der bedächtigen Eindringlichkeit eines Beichtvaters.

»Es ist den Menschen nicht von Natur gegeben, diese Drachen zu erkennen«, sagte er dann und es klang, als würde er einen Satz aus einem heiligen Buch zitieren.

»Ich habe diese Fähigkeit.«

»Dafür muss man in dieser Welt bezahlen.«

Steeles Hände wurden an den Knöcheln weiß, als seine Hände den Stein quetschten, als wollte er seine Abdrücke hinterlassen.

»Ich habe dafür bezahlt«, antwortete er dann. »Mit dem Liebsten, das ich auf der Welt hatte.«

»Wählen Sie lieber das 45-Inch-Kaliber, dann gibt es keine Probleme mit der Beschaffung der Patronen. Die 0,07 Millimeter, die Ihnen zur Webley fehlen, sind keine große Sache.«

Steele war überrascht, mit welcher brutalen Plötzlichkeit Famagusto das Thema gewechselt hatte. Wollte er nicht weiter in Steele eindringen, weil er die schwärende Wunde in dessen Seele gespürt hatte? Oder war er einfach so oberflächlich?

»Also Kaliber 11,43 für Magnum-Patronen«, fuhr Famagusto fort. »Welche weiteren

Eigenschaften wünschen Sie?«

Steele wusste genau, was er sich wünschte. Seine Antwort kam knapp und präzis.

»Kampfentfernung maximal zwanzig Meter – Schalldämpfer – Reduktionslauf auf 9 und 7.5 Millimeter – Laufverlängerung im Normalkaliber mit Reichweite wenigstens 400 Meter – Magazine für fünf, zehn und dreißig Patronen, jeweils in Stangen- und in Kurvenform – Rückschlagminderer – Vollautomatik einstellbar auf Einzelfeuer, Feuerstoß und Dauerfeuer – einklickbares Laserzielgerät, ersatzweise Infrarotaufsatz ersatzweise Infrarotindikator – automatische Schussauslösung durch Akustikindikator -«

Steele spürte eine Hand auf seiner Schulter.

»Das klingt alles äußerst wohldurchdacht«, lobte Famagusto. »Aber diese letzte Besonderheit bedarf einiger klärender Worte Ihrerseits. Sagten Sie – Akustikindikator?«

Steele hatte damit gerechnet und holte einen Zettel aus der Tasche. Den Akustikindikator hatte er zusammen mit Macceto entwickelt, wobei Steele darauf geachtet hatte, seinen Helfer über den wahren Charakter dieser Einrichtung im Unklaren zu lassen.

 

Die Idee war ihm gekommen, als er vor einigen Jahren mit dem demolierten CD-Spieler seiner ältesten Tochter in dessen Laden gekommen war. Macceto betrachtete den Laden, den er von seinem Vater übernommen hatte, als lästiges Übel und bestenfalls als notwendigen Tribut an die blöde Tatsache, dass ein Mensch Geld brauchte, um sich zu kleiden und zu ernähren. Geschäftsuntüchtig bis zum finanziellen Selbstmord war er von der Gewieftheit seiner Frau und dem Fleiß seiner Angestellten und Lehrlinge abhängig, wenn er wieder einmal phasenweise in die Welt der Akustik und der Elektronik abtauchte. Macceto war gerade mit der Kalibrierung eines Richtmikrofons beschäftigt gewesen, als Steele erschien.

In diesem Moment erinnerte sich Steele daran, dass die US-Truppen in Vietnam Mikrofone eingesetzt hatten, um anhand des Schussgeräusches die Position von Heckenschützen zu erkennen. Der Einfall blieb sozusagen in einem Randspeicher seines Gedächtnisses, bis Steele sein anderes Leben, sein Unleben, beginnen musste und das Thema Waffen eine Bedeutung gewann, die über das sportliche Tontaubenschießen weit hinausging.

Inzwischen hatte sich die Technik weiterentwickelt. Macceto war der richtige Partner für Steele. Steele hatte ausreichende Geldmittel, zeigte die Richtung an und sorgte dafür, dass Macceto sich nicht in Spielereien verlor, während Macceto sein gewaltiges Wissen beisteuerte.

Resultat war ein Gerät, das aus einer durchdachten Kombination von Mikrofonen bestand, die mit einem kleinen Rechner gekoppelt waren. In einer Zeit, in der die Technik immer mehr miniaturisiert wurde, war es kein Problem, mehrere leistungsstarke Tonempfänger auf der Fläche eines Fingernagels unterzubringen.

Die Grundidee lautete: Jedes Lebewesen macht Geräusche, selbst wenn es versucht, leise zu sein. Was lebt, ist niemals völlig leise. Nach einigen Fehlschlägen kamen sie zu einer einfachen Erkenntnis. Mithilfe eines guten Mikrofons kann man die Herztöne eines Menschen auf zehn Meter hören. Zweite Idee: Koppele das Richtmikrofon mit mehreren Sammelmikrofonen, um die gesamte Geräuschkulisse aufzunehmen, lasse all diese Impulse durch einen Rasterfilter laufen und gebe diese Daten an einen Ortungsrechner, der dir sagt, wohin du dich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit bewegen musst, um dein Ziel genau vor die Mündung zu bekommen.

Das gesamte System war mit zwei Kopfhörern verbunden, in denen ein pulsierendes akustisches Signal anzeigte, ob man sich mit seiner Waffe, auf der der Indikator montiert war, dem Ziel näherte oder sich davon entfernte. Ein langsamer werdender Signaltakt zeigte an, dass man die Waffe in der falschen Richtung bewegte. Wurde der Takt schneller, bis er schließlich in einen ununterbrochenen Ton überging, war man mit dem Visier im Ziel.

 

Ab einem gewissen Entwicklungsstadium bestand Steeles größtes Problem darin, Macceto über den wahren Charakter des Projektes zu täuschen und ihn glauben zu lassen, es ginge um die Möglichkeit, Blitzlichtaufnahmen seltener Tiere zu machen. Parallel arbeitete Steele an einer Vorrichtung, die den Schuss automatisch auslöste, sobald der Rechner die optimale Zielnähe festgestellt hatte.

Steeles erstes Opfer war ein Kaninchen gewesen. Es war allerdings nicht irgendein Vertreter dieser nagenden und hüpfenden Gattung, sondern ein Verräter – zumindest in den Augen des Jeremy Steele. Das Tierchen hieß Cicca und war der Liebling Julias, seiner jüngsten Tochter, gewesen. Es hatte sie eine gewaltige Arbeit an Schmeicheln, Schmollen und Flennen gekostet, bis sich Steele erweichen ließ und ihr gegen den Widerstand Helenas den Kauf dieses Kaninchens erlaubte. Es war ganz ohne Zweifel die richtige Entscheidung, denn nun konnte Julia ihre gesamte überschüssige Schmuselust, die sie weder an ihren stark aufnahmebereiten Eltern noch an den eher uninteressierten Geschwistern vollständig abarbeiten konnte, auf das Langohr konzentrieren.

Sie entwickelte eine Reihe der unvermeidlichen Kleinmädchennervereien wie die Notwendigkeit, Spitzenbesatz an den kleinen Kissen zu haben, die sie in vorauseilender Mütterlichkeit in Ciccas Käfig applizierte. Cicca hätte Julia auch auf der letzten Reise begleitet, wenn es nicht aus dem Käfig entschlüpft und in der Wohnung verschwunden wäre. So überlebte Cicca den eigenen Tod, und als Steele schließlich über das halb verhungerte Tier stolperte, empfand er einen spontanen, ebenso lächerlichen wie tief gehenden Hass auf den Mümmelmann. Cicca hatte Julia verraten. Steele fragte sich später immer wieder, ob das Entweichen des Kaninchens purer Zufall gewesen war oder ob das Tier auf irgendeine, dem menschlichen Denken schwer verständliche Weise geahnt hatte, dass die Reise, auf die es mitgenommen werden sollte, eine allerletzte Reise war?

Eines Tages nahm Steele Cicca aus dem Käfig und warf das zappelnde Bündel von weißem, flauschigem Fell in den Keller. Dort standen ein halbes Dutzend Stereoanlagen und Kassettenrekorder, die Straßengeräusche, Stimmen, Musik und Herztöne plärrten.

Steele schaltete das Licht aus und begann seinen Probelauf. Wie erhofft filterte der Rechner alle Nebengeräusche aus und war in der Lage, die eingespielten Herztöne von den echten des Kaninchens zu unterscheiden. Es dauerte keine zwei Minuten, dann hatte Steele den ununterbrochenen Ton in den Kopfhörern, und die Schussautomatik löste aus. Da er eine Colt 1911 mit Explosionsgeschoss nutzte, blieb von Cicca nur ein pelziges, rotbraunes Gesprengsel an Wand und Boden.

Die Explosionsgeschosse waren Steeles eigene Entwicklung. Sie sahen wie normale Magnum-Patronen aus, allerdings war das Geschoss wie ein dreidimensionales Puzzle zusammengesetzt, dessen Teile millimetergenau ineinander passten. Ein hauchdünner Lacküberzug gab dem Ganzen genug Stabilität, um die Patrone in den Lauf einzuführen. Im Inneren des Geschosses war ein Hohlraum, in dem sich ein Tropfen Öl befand. Die Beschleunigung beim Abfeuern presste die Teile der Geschossspitze zusammen und katapultierte das Öl in den hinteren Bereich des Hohlraumes. Allerdings lag das Geschoss nicht gerade in der Luft, sondern pendelte etwas – das Prinzip hatte sich Steele von den M 16-Gewehren der US-Streitkräfte abgeschaut. Schon durch diese Pendelbewegung, welche die Kugel nicht gerade, sondern flach auftreffen ließ, waren die Verletzungen wesentlich schwerwiegender, und der Tod konnte selbst bei leichten Treffern durch Schock eintreten.

Das Explosionsgeschoss trieb die Bösartigkeit noch um einige Stufen weiter. Beim Auftreffen auf einen Widerstand riss es die stark abgebremsten Geschossteile auseinander, zusätzlich schleuderte die Massenträgheit das Öl nach vorne und verstärkte dieses Auseinanderplatzen der Spitze. Die Einzelteile hatten durch ihre Verzahnung eine Vielzahl von Kanten, Zacken und Grate, die mit zerstörerischer Kraft lebendiges Gewebe durchschnitten, zerteilten und zerfetzten und andererseits, durch ihre Form bedingt, keine geraden Schusskanäle verursachten, sondern in Zickzacklinien vordrangen. Sollte der Treffer wider Erwarten nicht sofort tödlich sein, dann reduzierten die zahlreichen, unregelmäßigen Schusskanäle, die durch Ölspuren verschmutzt waren, die Überlebenswahrscheinlichkeit auf null.

Einmal hatte sich Steele gefragt, ob er den Einsatz einer solchen Waffe mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Aber das war eine rein rhetorische Frage, die nicht aus ihm selbst kam. Er konnte sie nicht einmal beantworten, weil sie in einer fremden Sprache formuliert zu sein schien. Es betraf Jeremy Steele nicht mehr. Ein Soldat, der von Feinden umzingelt ist, fragt auch nicht nach den moralischen Prinzipien. Er tötet.

 

Arial Famagusto betrachtete Steeles Zettel, auf dem das Prinzip des Akustikindikators aufgezeichnet war.

»Warum kein Restlichtverstärker?«, fragte er.

»Weil ein Restlichtverstärker bei totaler Dunkelheit nichts taugt.«

»Warum kein Infrarotsystem?«

»Weil man aktive IF-Systeme erkennen kann.«

»Dann ein passives.«

»Zu unsicher, es gibt heute schon zu viele Möglichkeiten, Wärmeabstrahlung zu reduzieren. Das Ziel würde zu klein. Außerdem funktioniert mein System auch um die Ecke herum.«

»Sie haben sich eine Menge Gedanken gemacht.«

»Es gibt noch eines«, ergänzte Steele seine Aufzählung. »Die Waffe darf nur mir gehorchen. Also, ich meine, ich brauche so etwas wie eine Fingerabdruckerkennung, die den Abzug freigibt.«

»Fingerabdruck …« Famagusto schnaubte verachtungsvoll. »Das ist James-Bond-Schnickschnack und nichts für ernsthafte Männer. Wollen Sie vielleicht ausschließen, dass Sie einmal Handschuhe tragen, wenn Sie die Waffe benutzen? Oder dass es dunkel ist, womit die optische Kennung enorm schwierig wird? Nein, nein, ich habe das etwas Besseres im Kopf. Es wird Sie, falls wir ins Geschäft kommen, eine kleine Operation kosten, einen kleinen Schnitt, mehr nicht. Aber dann ist es wirklich nur Ihre persönliche Waffe, persönlicher als jeder treue Jagdhund.«

Wieder fiel das Schweigen zwischen die beiden Männer. Dieses Mal war es jene Art von Schweigen, die einem Abschied vorangeht.

»Haben Sie schon eine Art von Plan von dem Werkzeug, das Sie bei mir fertigen wollen?«, erkundigte sich Famagusto.

Steele nickte.

»Dann lassen Sie mir die Pläne zukommen. Sie kennen ja die Adresse meiner Verbindungsleute.«

Dieses war eine letzte Probe, das witterte Steele, und so bestand er sie mit Bravour.

»Ich werde die Pläne in einem Postfach hinterlegen. Die Nummer erfahren Sie durch eine Kleinanzeige im Corriere della Sera von übermorgen.«

»Was bieten Sie an?«

»Grabsteine. So gut wie neu.«

Famagusto nickte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er erhielt den Namen von Steeles Hotel und verabschiedete sich mit einem altmodisch höflichen Lüften seines Hutes.

 

Steele stellte sich vor eine Schaufensterscheibe und beobachtete den gespiegelten Famagusto. Der schritt langsam über den kleinen Platz, tätschelte großväterlich den Kopf eines kleinen Jungen, der am Weg stand, und verschwand in einer Nebenstraße.

Die Bedächtigkeit Famagustos schien ein notwendiges Gegengewicht zu den Waffen, die er herstellte, zu bilden – Langsamkeit gegenüber der Beschleunigung einer Kugel, weiche Lautlosigkeit gegenüber dem Krachen eines Schusses.

Für Steele war der Tag beendet. Er erinnerte sich, dass er etwas essen musste und suchte sich ein kleines Restaurant. Dann begab er sich auf sein Hotelzimmer. Er löschte das Licht und legte sich in der Dunkelheit auf das Bett. Wie oft hatte er schon in solchen Zimmern gelegen und gewartet. Er spürte seinen Körper wie ein lästiges Gewicht, als wäre sein Geist wie eine Fliege an einer körpergestaltigen honigleimbestrichenen Falle kleben geblieben. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um Pinazzi ausfindig zu machen. Vielleicht war es schon zu spät.

Und nun musste er warten, wieder einmal warten, und die Nacht war wie ein Sumpf mit zähem Schlamm, durch den er waten sollte.

 

Aus dem Hotelflur drangen die Stimmen anderer Gäste, die nach einem guten Essen oder einem Besuch in der Bar jetzt ihrem Lager zustrebten. Einmal erklang ein Duett von Frauen und Männerstimme. Die Frau klang jung, sie lachte ein wenig zu schrill – ein Lachen, bei dem Steele der Verdacht überkam, dass sie auch zu stark geschminkt sein müsste, zu viel Rouge auf den Wangen und die Augen wie Schießscharten, von dunklen Strichen umrahmt, zwischen denen die Glut der Verführung und Verlockung schimmern sollte. All das stark übertrieben wie das Lachen. Der Mann und die Frau schienen leicht beschwipst zu sein. Sie hatten das Nebenzimmer. Steele wusste, dass in dieser Zimmerflucht nur Einzelbetten standen. Also wurde irgendein anderes Laken in dieser Nacht nicht zerknüllt.

Der Mann sagte irgendetwas, was Steele nicht verstehen konnte, das die Frau aber zu weiterem Kichern ermunterte. Nach einigen Anläufen, in denen der Schlüssel vernehmlich über die Türplatte kratzte, fand der oder die – vermutlich der – das Schlüsselloch und öffnete. Die Tür knallte lautstark zu. Entweder ein absolut rücksichtsloses Arsch, dachte Steele, oder ziemlich besoffen oder er muss den Harten markieren. Vermutlich von allem ein bisschen.

Ein Hauch eines zu süßlichen Parfums drang bis zu Steele. Vielleicht war dieses Duftwasser nicht einmal billig gewesen. Aber es roch billig.

Jetzt würden sie sich also in geschlechtliche Verschlingung stürzen. Der Chef mit seiner neuen Sekretärin, der Vertreter mit seiner Zufallsbekanntschaft aus der Bar. Ihr junger Schenkel, nicht ganz frei von Cellulitis, aber dennoch angenehm anzuschauen, auf seinem behaarten Bauch; seine Wurstfinger mit der Einschnürung, wo sonst der Ehering der jetzt im Portemonnaie bei den Kleinmünzen zwischenlagerte) drückte, weil in den letzten zwanzig Ehejahren nicht nur die Taille, sondern auch die Finger sich mehr Platz in der Welt eroberten, auf ihren Brüsten, und über seine verschwitzten Handflächen schmirgelten ihren festen Brustwarzen. Ob sie wohl ebenso übertrieben stöhnte, wie sie lachte? Vielleicht war sie eine Halbprofessionelle, die ihm am nächsten Morgen etwas von ihrer kranken Mama vorjammern würde, um mit einigen Scheinen zu ihrem Mann abzuziehen. Oder war sie vielleicht wirklich nur nervös, betrunken und verschüchtert, ein großes Mädchen, das sich entschlossen hatte, heute Nacht zu weit zu gehen. Und er? Machte er das öfter? Oder war es für ihn das letzte Zischen eines Überdruckventils, nach dem seine Frau Jahr um Jahr die Kilos ansammelte wie eine Eiche die Jahresringe und ihn nach der Arbeit mit Küchenmief im strähnigen Haar und den schlechten Schulnoten des jüngsten Sohnes empfing?

 

Das Leben dieser Menschen bildete für Steele ein Puzzle mit nicht mehr als zehn Teilen. Hier wurde er unfreiwillig Zeuge jenes Teils, auf dem Geilheit stand, und er durfte nicht darüber nachdenken, sonst wäre ihm übel geworden angesichts dieser miefigen Verschwiegenheit, dieser trunken lallenden Großschwätzerei und der billigen Koketterie. Ihre Ekstase war so lebendig wie die Fische auf den Marktständen und schon jetzt eingehüllt in das farblose Erschrecken des nächsten Morgens wie in stockiges Zeitungspapier.

Steele lag reglos auf seinem Bett, während Stöhnen und Matratzenquietschen durch die Wand drangen. Es berührte ihn so wenig wie die Fortpflanzung von Tiefseekraken irgendwo tief in der Adria. Er lag unbeweglich wie ein Reptil und ließ die Nacht und alles, was die Menschen mit dieser Nacht anstellten, an sich vorbeitreiben.

Als ihn der Schlaf übermannte, registrierte er es mit dem Zorn, den ein hungriges Raubtier empfinden mochte, wenn es die Müdigkeit von der Jagd abhielt.

Am nächsten Morgen sah er das Paar, das neben ihm gewohnt hatte, über den Parkplatz zum Auto gehen. Sie sprachen nicht miteinander und hielten einige Schritte Distanz. Die Frau schleppte ihren schweren Koffer alleine. An ihrem linken Strumpf war eine Laufmasche.

Chef und Sekretärin, dachte Steele. Das Auto war ein älterer Mittelklassewagen aus koreanischer Produktion. Seine Farbe war grau.

Fortsetzung folgt …