Nach Amerika! – Erster Band – 7
Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Erster Band
Leipzig, Berlin, 1855
Nach Amerika
»Nach Amerika!« Leser, erinnerst du dich noch der Märchen in Tausend und eine Nacht, wo das kleine Wörtchen Sesam dem, der es weiß, die Tor zu ungezählten Schätzen öffnet? Hast du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt haben, Geister heraufzurufen aus ihrem Grab und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? Mit dem ersten Klang der einfachen Silbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind, das sie gesprochen hatte, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt, die es heraufbeschwor.
Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht hatten, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen, sie zu rufen, aber ein anderes dafür gefunden, das kaum minder stark mit einem Schlag das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimat Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten hatte.
»Nach Amerika!« Leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen sollte, seinen Mut stählen.
»Nach Amerika!«, flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens dem Abgrund langsam, aber sicher entgegen gerissen wurde.
»Nach Amerika!«, sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein tägliches Brot mit blutigem Schweiß gebeten und es nicht erhalten, der keine Hilfe für sich und die seinen hier im Vaterland sieht und doch nicht betteln will, nicht stehlen kann.
»Nach Amerika!«, ruft lachend der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts.
»Nach Amerika!«, jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über den Ozean drüben ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten, gleicht.
»Nach Amerika!« Mit dem einen Wort liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen, liegen die Bande, die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen, die sie für hier gehegt, die Sorgen, die sie gedrückt hatten.
»Nach Amerika!«
So gärt und keimt der Samen um uns her – hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kästen. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt, noch nie so schwer geärgert hat, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, herrlichen Land; der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden, die ihm bis dahin noch geblieben, in seine Tür zu locken; der Künstler in seinem Atelier oder seiner Studierstube, der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem Land schwärmt, wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden; der Kaufmann hinter seinem Pult, der nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht und das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, anderen Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefüllten Warenhäusern träumt; in Tausenden von ihnen drängt es und treibt es und quält es, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke schon – ein stiller, aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arznei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und weit herum um ihr Ziel, dass man die Absicht nicht erraten soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding – nach Leuten die vordem hinüber gezogen und denen es gut gegangen ist – nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk – für andere natürlich, nicht für sich etwa – sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen, dass es dem gut geht und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.
So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den Salto mortale getan und alles hinter sich gelassen hat, was ihm einst lieb und teuer war – aus dem, aus jenem Grund – und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen wir im Leben nie geglaubt haben, dass sie je an Amerika gedacht, wie sie mit Frau und Kind, mit Hab und Gut hinüberziehen. Und dort? Noch liegt ein dichter Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint ja überall. Dir aber, lieber Leser, greife ich aus dem Leben noch hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten wollen auf dem weiten Weg.
*
Oben in der Brandstraße – nicht weit vom Brandtor entfernt, und dem Gasthaus Zum Löwen schräg gegenüber, wohnte Professor Lobenstein mit seiner Familie, in der ersten Etage eine, zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm selbst gehörte.
Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der besseren Jahre, etwa einundfünfzig alt, aber rüstig und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er Jura und Kameralia studiert und einen großen Schatz von Kenntnissen aufgehäuft; auch in manchem, mit schweren mühsamen Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg und der kalten Aufnahme, die es gefunden hatte, wandte er sich später wieder von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein seinem Lieblingsstudium den Kameralien zu, in denen er besonders der Gewerbskunde seine Tätigkeit widmete, auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbszeitung gründete und herausgab.
Hierin hatte er Unglück; der Buchhändler machte bankrott und er übernahm die Zeitung mit ziemlich großen Verlusten schon allein.
So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der Praxis. Seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem zu begegnen, umsonst – umsonst auch, dass er Kapital nach Kapital in das zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pekuniäre Verluste, dass er sich endlich genötigt sah, sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht hatte.
Professor Lobenstein hatte eine ziemlich große Familie, eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von achtzehn und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichtum, doch in einem gewissen Wohlstand erzogen, war aber der Familie bisher das schwere Wort Nahrungssorgen fremd geblieben. Der Professor hatte immer, was man so nennt, ein Haus gemacht und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte, manches mitzumachen, was seinen sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfnis schien. Das alles sollte, ja musste sich nun ändern, denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens nach allen erlittenen Verlusten einen kleinen Teil zu retten vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm nun allein, von Neuem eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen und sich und den seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Ort aufzuerlegen, wo ihn alles und jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte oder – es war eine schwere Stunde, in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die Seele stieg – in einem anderen Weltteil, unbekannt, aber auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues Leben zu beginnen.
Aber die Frauen? Würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, einer Ansiedlung drüben in einem noch wilden Land gewachsen sein? Dass er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick. Er hatte so viel über Amerika gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften so vertraut gemacht, dass er alles kannte, was ihn dort erwartete, und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust als Bangen entgegenging. Aber durfte er seine Frau all den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapazen aussetzen? Durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen glücklichen Leben reißen und ihnen mit einem Schlag all jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, die ihnen fast Bedürfnis geworden waren?
Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber Monate lang, und er wurde alt in der Zeit; die Augen lagen tief in ihren Höhlen und seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst in seiner schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt hatten. Wenn auch die Kinder dabei sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte. Ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren müssen, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger auf als er erwartet hatte, gefürchtet, und damit eine schwere Last von seinem Herzen auf das ihre. Aber leichter trägt sich die geteilte und bereden konnten sie nun zusammen, was zu tun sei, welchen Weg zu gehen, die Möglichkeit besprechen, die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit abwägen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft öffnete. Und die Kinder? Wohin Mütter und Vater gingen, folgten die ja gern; nur die Szene wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben. Kummer und Sorge kannten die ja nicht.
An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz vorschützend, und die Sorge um das jüngste Kind, das mit einem leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein. Daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte – weinte, als ob sie mit dieser Tränenflut all den Gram und Kummer fortwaschen wollte, der nun, ein dunkler Wolkensaum, am Horizont ihres Glücks erschien und wild drohend höher und höher stieg.
Lachend und plaudernd kehrten die Töchter, mit dem Vater spät in der Nacht zurück. Den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch ein weiter Garten offen da. Was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, mischte noch sein fast grünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit Blumen- und Blütenpracht.
Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten Jahreszeit all die nötigen und mannigfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung all ihrer Verhältnisse getroffen werden mussten. Auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturientenexamen glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings, dass er hier erst studieren und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges gelernt hatte, vielleicht folgen sollte, dachte, ihm aber doch die freie Wahl zu lassen und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.
Am nächsten Morgen nach dem Ball nun – es war spät mit Aufstehen geworden nach der durchschwärmten Nacht und die zweite Tochter Marie eben erst zum Kaffee herübergekommen, während der Sohn das Haus schon irgendeines notwendigen Ganges wegen verlassen hatte, saß der Vater, ungewohnter Weise nicht in seiner Studierstube an der Arbeit, sondern auf dem Sofa, aus der langen Pfeife den Dampf in weißen Kräuselwolken von sich blasend, und die Mutter am Nähtisch, Kleider ausbessernd für das Jüngste, das in seinem herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe schaukelte.
»Schon ausgeschlafen, Väterchen?«, fragte Marie, als sie, etwas beschämt, die Letzte am Kaffeetisch Platz genommen hatte, »ich habe wohl recht lang heute geschlafen, aber was ist dir denn und der Mutter auch?«, rief sie vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der Eltern gewahrte. »Bist du böse auf mich, Mütterchen?«
»Nein, mein Kind«, sagte diese und zwang ein Lächeln auf die Lippen, »aber der Vater hat euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, etwas, von dem wir noch nicht wissen, ob es euch betrüben wird oder nicht.«
»Der Vater?«, rief Marie erschreckt, und auch Anna, die älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf. Professor Lobenstein aber, so in die Enge und zum Äußersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paar Mal scharf vor sich hin, die Pfeife ordentlich in Glut zu bringen, und sagte: »Ja, Kinder, ihr wisst … wir … wir haben doch in den letzten Tagen viel über Nordamerika gesprochen und auch manches gelesen …«
»Ja, die herrlichen Romane von Cooper«, rief Marie rasch.
»Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt«, gab Anna lächelnd von sich.
»Der Doktor Haide ist ein Esel«, sagte der Professor, den Rauch wieder ein paar Mal rasch ausstoßend, »wenn der hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvokatur und vom Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernähren. Über dessen Berichte wollen wir uns keine Sorgen machen, aber …« Er schwieg wieder einen Augenblick und sah, wie furchtsam, zur Frau hinüber. Die jedoch arbeitete umso emsiger weiter, und selber mit dem Bedürfnis dem, was ihn schon so lange gedrückt hatte, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort: »Ich habe eine Frage an Euch zu tun, Kinder. Hättet ihr … hättet ihr wohl selber Lust hinüber nach … nach Amerika zu gehen?«»Nach Amerika?«, rief Anna rasch und auch wohl erschreckt.
Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief jubelnd: »Nach Amerika? Oh, das wäre ja prächtig … das wäre herrlich … nicht wahr, da sind auch Bälle, Väterchen?«
Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, etwas verlegen an der Bernsteinspitze.
»Hm – ich weiß nicht«, sagte er langsam mit dem Kopf schüttelnd, »wo wir am Anfang hinwollten, werden wohl keine sein. Hängst du so an Bällen, Marie?«
»Ich tanze gern«, sprach das junge fröhliche Mädchen etwas verlegen und schüchtern.
»Nun tanzen wirst du dort hoffentlich auch können, mein Kind«, sagte der Vater freundlich, »wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Bällen, wie wir sie hier gewohnt sind – das Leben ist dort einfacher.«
»Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiss auch wieder zurück«, rief Marie.
Der Vater schwieg erst eine kleine Weile und sagte dann leise, aber entschlossen. »Wir wollen ganz hinüberziehen, mein Kind.«
»Auswandern?«, rief die ältere Schwester fast erschreckt. Das Wort, dessen Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem unbekannten ahnenden Gefühl von Schmerz und Leid. »Und die Mutter?«
»Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurücklassen?«, entgegnete die Frau mit einem Lächeln, sich gewaltsam zwingend über den Schmerz dieser Stunde.
»Mutter!«, sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken und küsste sie.
»Und Eduard?«, fragte Marie.
»Bleibt, wenn er meinem Rat folgt, noch hier, bis er ausstudiert und etwas Ordentliches gelernt hat«, sagte der Vater. »Wo nicht, hat er seinen freien Willen und mag uns begleiten. Sowie er nach Hause kommt, werde ich mit ihm sprechen.«
»Aber …«, rief Marie, »wer verwaltet unterdessen unser Haus?«
»Wenn wir einmal fort sind von hier«, sagte der Professor ausweichend, »kann uns auch das Haus nichts mehr nützen, und ich werde es verkaufen.«
»Verkaufen? Unser Haus und den Garten?«, riefen Maria und Anna fast wie aus einem Mund erschreckt und rasch.
»Unser freundliches Stübchen, wo wir als Kinder gespielt haben«, setzte Marie traurig hinzu.
»Und die Bäume, die Vater alle gepflanzt – die Laube, die wir uns selbst gebaut, und die so schön geworden ist in diesem Jahr«, sagte Anna leise, »verlassen wollte ich es ja gern, wenn wir alle gehen, aber dass fremde Menschen jetzt darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen, wie wir das alles gehegt und gepflegt und …« Ihr Blick fiel in diesem Augenblick auf der Mutter halb von ihr abgewandte bleiche Züge und fasste das Blitzen einer heimlich fallenden Träne. Anna erschrak und wurde totenbleich – hier lag mehr verborgen, als man ihnen gesagt hatte. Heimlicher Gram, heimliche Sorge nagte an der Eltern Herzen. Durfte sie die vermehren? Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich nieder, dann aber, Mariens Hand ergreifend, sagte sie mit leichterem, vielleicht gezwungen fröhlicherem Ton: »Aber wir wollen nicht klagen. Vater und Mutter wissen am besten, was sie zu tun haben, und was uns gut ist, und dort baut uns Vater dann ein anderes Haus, und wir selber pflanzen uns ein neues Gärtchen, schöner als das unsere hier.«
»Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wäre«, schmollte Marie, »und was wird Herr Kellmann dazu sagen, wenn er es erfährt? Der ist so immer gegen Amerika und hat sich schon oft mit Vater darüber gezankt.«
»Ach, der macht mir die geringste Sorge«, sagte Anna in ihrem Schmerz lächelnd, »wenn man für Amerika spricht, schimpft er aus Leibeskräften und zitiert Gott weiß was für Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles Günstige zu widerlegen oder wenigstens stark zu bezweifeln. Kommt jemand, der das Land ordentlich angreift, dann habe ich auch schon gesehen, dass er den Handschuh wacker dafür aufnimmt und man wirklich glauben sollte, er bekäme so und so viel für den Kopf, Leute zu bereden, hinüberzuziehen. Das ist ein wunderlicher Kauz, der die meiste Zeit selber nicht weiß, was er will. Ich glaube, wenn es jemand recht ordentlich bei ihm darauf anlegte, könnte man ihn selber nur durch Widersprechen dahin bringen, dass er in eigener Person hinüberginge.«
»Herr Kellmann?«, entgegnete Marie, »nun, den möchte ich in Amerika sehen.«
»Und wer weiß, ob dir das nicht noch passiert«, bestätigte der Vater nickend.
»Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, Mama?«, fragte das junge lebenslustige Mädchen nun die Mutter. »Hier lassen möchte ich es doch nicht gern, und drüben im Wald …«
»Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald gehen«, sagte die Mutter, die indessen heimlich die verräterische Träne aus dem Auge geschüttelt, freundlich dabei der zu ihr getretenen Tochter die Stirn streichend und küssend, »denkt es euch nicht so schlimm. Der Vater wird uns schon einen Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der Kultur nicht ganz verschlossen sind – er hielte es ja dort sonst selber nicht aus.«
»Aber warum gehst du nur, Väterchen?«, bat Marie, »es ist doch hier so wunderhübsch in Heilingen, und was wir da drüben haben, wissen wir noch nicht.«
Der Professor, zu dem Anna ängstlich aufsah, hatte seinen Sitz verlassen und ging, langsam dabei nickend, im Zimmer auf und ab. Er fühlte, dass er, auch den Töchtern gegenüber, diesen eine Erklärung seines Handelns schuldig sei, denn er riss sie aus einem lieb gewonnenen Leben heraus und führte sie vielen, vielen Entbehrungen – er durfte sich das nicht leugnen – entgegen. Von ihrer späteren Haltung dabei hing auch viel ihrer aller Glück, ihrer Aller Zufriedenheit ab. Sie waren alt genug, ihrem Urteil zu vertrauen. Aber es kostete ihm der Entschluss einen schweren Kampf, und wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, fürchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn dafür hatten sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu wecken in den jungen Herzen, denen er die ungebetenen Gäste gern noch fern gehalten hätte so lang als möglich. Sie standen jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt ihres Lebens und mussten sehen, wohin der Weg sie führte.
In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und zu den Herzen sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte er ihnen nun die veränderte Lage, in die er, sowohl durch das gezwungene Aufgeben seiner Zeitschrift als auch durch manche schwere, ihn betroffene Verluste gekommen war. Er verheimlichte ihnen nicht länger, dass er einen Teil, einen großen Teil seines Vermögens eingebüßt hatte und das ihm selber liebe Haus nicht verkaufen würde, wenn ihn eben nicht die Verhältnisse dazu zwängen. Aber noch blieb ihnen genug, zu einem fernen Weltteil überzusiedeln und dort mit bescheideneren Bedürfnissen von Neuem zu beginnen. Amerika mit seiner ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen Seiten hin die Möglichkeit der Existenz. Das gut und zweckmäßig angelegte kleine Kapital konnte dort gute Zinsen tragen für spätere Zeit. Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoffnungen, mit denen sie hinübergingen, Wahrheit geworden. Sehnte sich ihr Herz noch nach dem Vaterland, wer hinderte sie dann, zurückzukehren zu den teuren Plätzen, die ihnen ewig lieb bleiben würden in der Erinnerung?
Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, als er das Eis nur erst gebrochen hatte. Selbst überzeugt von dem, was er sprach, wurde er warm, indem er den Gedanken weiter dachte. Seine Fantasie verlor sich zuletzt sogar, Luftschlösser aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der Professor ging mit dem Menschen durch und die leicht geröteten Wangen belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter saß dabei, still und schweigend, und ängstlich bemüht, in der wiederaufgenommenen Arbeit die eigene Bewegung zu verbergen. Marie und Anna aber, die des Vaters Hände erfasst und in den ihren hielten, schmiegten ihre Häupter an seine Schultern und flüsterten; die großen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll von Tränen.
»Genug, genug, Väterchen, male uns das alles nicht so prächtig aus. Wohin du und Mutter gehen, gehen auch wir, und wäre es mitten hinein in den wildesten Wald. Kein unzufriedenes Wort sollst du dabei von uns hören, keine Klage, kein böses Gesicht weiter – keine Träne – nur die hier sind uns so ganz von selbst über die Wangen gelaufen, weil wir die Mutter weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das Leben dort beginnen …«
»Und Kühe und Hühner schaffen wir uns an!«, rief Marie, »und die Kühe melken wir selber und machen Butter und Käse.«
»Wie gut«, sagte Anna, »dass wir im vorigen Jahr auf dem Land bei der Tante waren und dort das alles zum Spaß gelernt haben; jetzt wird es uns nützen.«
»Aber nicht wahr, Mütterchen, nun weinst du auch nicht mehr«, rief Marie, zur Mutter hinübergleitend, ihren Arm um deren Nacken legend und sie küssend. »Drüben wird schon alles hübsch werden. Und ein paar von den großen Holzschuhen nehme ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, für draußen bei nassem Wetter; hei, wie wir da herumpatschen wollen und schaffen und arbeiten; und plätten tun wir auch selbst, dafür nimmst du kein Mädchen mehr.«
Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen Umrisse ihrer ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in den einzelnen bunten Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, von dem Reiz der Neuheit mit frischem Duft überhaucht, entstiegen. Nur die Lichtpunkte erspähte der in die Ferne arglos hinausschauende Blick. Die goss er sich lustig zusammen zu einem Ganzen: Was dahinter lag, der düstere Hintergrund, den das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen nur dazu, die einzelnen Lichter stärker hervorzuheben, deutlicher erkennen zu können. Der Himmel spannte sich blau und rein über ihren glücklichen Häuptern.
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