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Blutrosen – 9 – Die Steinbank

Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Zweiter Teil

Die Steinbank

In Paris, in der Straße Tirechappe steht eine unförmliche Steinbank, über und über bedeckt mit schwarzroten Flecken. Oftmals schon war ich gleichgültig an ihr vorübergegangen, und hatte nur gedacht, dass diese Bank wohl nicht schlechter heiter platziert werden können, denn sie steht mitten zwischen zwei Häusern, welche mit ihrer hohen und schwarzen Außenseite in der ohnedies schon engen Straße hervorragen, und scheint den Fußgänger gleichsam zu verhöhnen, der nur mit Mühe längs den Mauern vorbeischlüpfen kann.

Nachdem ich die Geschichte, die sich an diesen Stein knüpft, erfahren hatte, flößte mir stets sein Anblick ein Gefühl von scheuer Ehrfurcht ein. Er ist das Denkmal an eine rührende und erhabene Aufopferung, und ich betrachte ihn mit jenem heiligen schauervollen Gefühl, womit ein Wanderer ein einsames, entweder an einem Abhang oder in einer Wüste aufgestelltes Kreuz anschaut, welches ihm eine an diesem Ort verübte Mordtat anzeigt.

Die Geschichte, welche ich erzählen will, ist einfach und wahr.

Beinahe sechzig Jahre ist es her, man dachte noch nicht an die Revolution, aber das Volk war unglücklich, da wohnte in dem dritten Stockwerk des einen von jenen beiden Häusern ganz allein mit ihrer Mutter ein armes junges Mädchen, Namens Lisette Morel. Sie war so schön, so sanft, man sah es ihr an, dass sie nicht in der Armut geboren war.

Lisette und ihre Mutter hatten nicht immer in drückenden Armut gelebt, aber das Elend ist eine Wunde, die immer weiter um sich frisst, sich ausbreitet und von Tag zu Tag um sich greift. Sie mussten nach und nach all ihre Sachen von Wert verkaufen. Dann ging auch das Gerücht, dass sie auf Wechsel eine nicht unbedeutende Summe geliehen hätten.

Aber selten kommt ein Unglück allein; die Mutter wurde auf ein schweres Krankenlager hingestreckt.

Zu dieser Zeit machte ein guter, braver, junger Mann von der Straße Tirechappe, mit Namen Robert Dumontell, Lisettes Bekanntschaft. Man konnte niemals in der Nachbarschaft erfahren, wie sie einander sahen und sprachen. Dies blieb ihr Geheimnis.

Dennoch glaubte niemand Böses, und zwar nicht deswegen, weil es hier keine Lästerzungen gegeben hatte, die gibt es ja aller Orten, sondern, Lisette war so gut, so gesittet, es leuchtete so viel Unschuld und Engelreinheit aus diesem lieblichen, reizenden Gesicht, welches ein einziges, unpassendes Wort mit Schamröte übergoss, dass es sich niemand einfallen ließ, etwas Schlechtes zu glauben, viel weniger ihr nachzusagen!

Eines Morgens erzählte ein Gast bei der Madame Sanson, der benachbarten Speisewirtin, dass sich die Umstände der guten armen Lisette immer mehr und mehr verschlimmerten; dass der Zahlungstag der Wechsel da wäre und sie nicht bezahlen könnte, ja, dass man schon von ihrer Verhaftung gesprochen hätte.

Robert war gegenwärtig, er erblasste und seine Stimme zitterte. Dann entfernte er sich schnell.

Am Abend, als er bei der Mutter Sanson speiste, bemerkte man an ihm eine große Niedergeschlagenheit und Geistesabwesenheit; der Blick seines Auges irrte unstet herum, und als die Nacht einbrach, sah man ihn unter Lisettes Fenster auf der steinernen Bank sitzen. Die Straße war menschenleer und öde. Einige Augenblicke darauf erblickte man einen weißen und leichten Schatten an seiner Seite und unterschied die leichten Umrisse einer weiblichen Gestalt; man weiß nicht, was sie sprachen, aber Robert kam gegen seine Gewohnheit sehr spät nach Hause und war viel trauriger und düsterer als jemals.

Robert stand seit einiger Zeit bei einem reichen Kaufmann, Namens Didier, am Ende der Straße in Kondition, und dieser Kaufmann hatte ihn sehr lieb gewonnen.

Am folgenden Morgen machte ihm Robert seine Aufwartung und blieb einige Augenblicke vor dem Kontor stehen, ohne ein Wort vorbringen zu können.

»Guten Morgen, Robert!«, sprach Herr Didier, ohne den Kopf von seinem Kontobuch zu erheben.

»Was wünschst du von mir, mein Junge.«

»Ich komme Sie um eine Gefälligkeit zu ersuchen, Herr Didier«, antwortete Robert mit zitternder Stimme.

Der Kaufmann richtete sich in die Höhe und betrachtete staunend den verwirrten jungen Mann.

»Ich habe einiges Geld nötig, Herr Didier«, fuhr Robert in festem Ton fort, als er sah, dass der Kaufmann nicht antwortete, »und ich wollte Sie bitten, mir dasselbe zu leihen.«

Bei dieser dreisten Forderung runzelte sich die Stirn des Kaufmanns.

»Hm! Hm!«, sagte er kopfschüttelnd.

»Sie haben sich stets gut und väterlich gegen mich bezeigt, Herr Didier«, fuhr Robert in großer Bewegung fort, »und ich hoffe, dass Sie mir mein Gesuch nicht abschlagen werden …«

»Höre, Robert«, unterbrach ihn jener, »du bist immer ein guter und ehrlicher Junge gewesen. Ich weiß nicht, … ich sehe aber auch nicht ein wie … Du verstehst mich?«

»Herr Didier«, antwortete Robert, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich Ihnen das Geld wieder zurückzahle! Ich werde arbeiten, wann und wie Sie wollen; mein ganzes Leben soll Ihrem Dienst geweiht sein!«

Der Kaufmann blickte ihn mit großer Verwunderung an. »Und wie viel brauchst du denn?«

»Hundert Taler, Herr Didier.«

»Hundert Taler!« rief der Kaufmann. »Du hast deinen Verstand verloren, mein armer Robert, Hundert Taler! … Und wo sollte ich sie denn hernehmen, diese Hundert Taler?«

Robert biss sich in die Lippen und ein heftiges Zittern durchfuhr seinen ganzen Körper. »Herr Didier!«, sprach er mit schwacher Stimme.

»Hundert Taler!«, unterbrach ihn der Kaufmann, indem er seine Geldkasse verschloss, »das ist unmöglich, mein armer Robert.«

»Ich glaubte …«

»Unmöglich!«, wiederholte der Kaufmann und stand auf.

Robert entfernte sich.

Man weiß nicht, was er den ganzen Tag über machte; man fand ihn nirgends.

Die Wechsel waren von Lisettes Mutter nicht bezahlt worden und sie sollten beide des folgenden Tages in Haft genommen und ihre Möbel verkauft werden.

Robert kehrte spät am Abend zur Mutter Sanson zurück. Der Ausdruck seines Gesichts zeugte von einer lebhaften inneren Bewegung, der Blick seines Auges war starr und seine Kleidung sehr nachlässig. Er saß da mit untergestütztem Haupt und von Zeit zu Zeit entschlüpften seinem Mund halb erstickte Ausrufungen, welche von konvulsivischen Bewegungen begleitet wurden. Man bemerkte, dass er nicht aß und viel mehr als gewöhnlich trank. Er ergriff ein Messer und schien es mit Wohlgefallen zu betrachten, dann verbarg er es unter seiner Kleidung. Kurze Zeit darauf verließ er hastig das Zimmer und kehrte erst spät bei Nacht nach Hause zurück.

Am folgenden Tag erging die Anzeige, dass in verflossener Nacht ein Dieb in Herrn Didiers Haus eingebrochen, auf einer Leiter durch das Fenster gestiegen sei, die Tür und die Geldkasse mit Gewalt aufgebrochen und von den darin befindlichen 300 Talern nur Hundert genommen habe. Bei dem verursachten Geräusch eilte ein in dem Kontor schlafender Bediente herbei und wollte den Dieb festhalten, der sich aber loswand und dabei dem Diener einen Messerstich über der rechten Schulter verletzte. Die Wunde war zum Glück nicht gefährlich.

Robert begab sich mit Anbruch des Tages in Lisettes Wohnung. Einige Stunden darauf waren ihre Gläubiger befriedigt . . . und Robert wurde des Mordes und des Diebstahls mit Einbruch angeklagt und festgenommen. Er leistete nicht den geringsten Widerstand und wurde auf der Stelle durch drei Mann Wache in das Gefängnis abgefühlt.

Alles zeugte gegen ihn; seine Geldforderung an Herrn Didiers, seine nächtliche Abwesenheit, das der Mutter Sanson entwendete Messer, welches man am Ort des verübten Raubes liegen fand. Übrigens versuchte sich auch Robert nicht zu verteidigen, sondern schwieg.

Als man ihn fragte, wer seine Mitschuldigen wären, leugnete er ausdrücklich, welche zu haben.

»Wo wäre denn das Geld hingekommen?«, fragte der Richter.

Robert erblasste, senkte den Kopf und antwortete nichts.

»Es ist also augenscheinlich, dass Ihr es einem Mitschuldigen übergeben habt«, fuhr der Richter fort. »Das Gericht wird schon auf die Spur kommen.«

»Ich habe gleich nach geschehenem Raub gespielt«, entgegnete Robert lebhaft, »und das ganze Geld verloren!«

Robert wurde zum Strang verurteilt.

Lisettes Mutter hatte sich in den letzten Tagen so abgehärmt und abgekümmert, dass sich ihre Krankheit bedeutend verschlimmert hatte. Mehrere Male verlor sie das Bewusstsein und die arme Lisette glaubte alle Augenblicke, sie in ihren Armen sterben zu sehen.

Sie ging diese ganze Zeit über nicht aus dem Haus und konnte ihre kleinen Bekanntschaften nicht eher wieder anknüpfen, bis ihre Mutter wieder auf dem Weg der Besserung war. Sie war unruhig wegen Robert, das arme Kind! Denn es waren nun acht Tage, dass sie ihn nicht gesehen hatte. Als sie daher eines Abends nach Hause zurückkehrte, fasste sie sich ein Herz und fragte die an ihrer Tür vorübergehende Mutter Sanson, was Herr Roben mache.

»Ach! Der arme Mensch!«, antwortete diese, »vor ungefähr acht Tagen hat er Hundert Taler gestohlen und wird deswegen morgen auf dem Greve-Platz gehängt.«

Die arme Lisette erwiderte kein Wort, sie sank rückwärts auf den Stein nieder, dass ihr Kopf hart auf die Bank aufschlug und das Blut herausspritzte. Man trug sie ohne Bewusstsein auf ihr Bett, erst nach Verlauf von drei Stunden kam sie wieder zu sich.

Alsbald richtete sie sich empor, stieß diejenigen, die um sie herumstanden, zurück und lief mit verstörtem Ansehen, mit zerstreuten Haaren, stieren Blicken und weißen, bebenden Lippen hin zum Richter.

Lange blieb sie vor ihm stehen, ohne ein anderes Wort vorbringen zu können als »Gnade, Gnade! Ich bin …« Große Tränen rollten aus ihren Augen, sie rang die Hände und alle ihre Glieder erzitterten wie vor Kälte.

»Armes Mädchen«, sprach der Richter und ließ sie nach Hause führen.

Robert wurde am folgenden Morgen gehängt.

Zwei Tage darauf suchte Lisette Herrn Didier auf. Sie weinte nicht mehr, sie zitterte nicht mehr. Ihre Gesichtsfarbe war zwar bleich, aber ihr Blick war fest und ihre Stimme sicher.

»Herr Didier«, sprach sie zu ihm, »für mich hat Robert diesen Diebstahl begangen.

Er sagte zu mir, dass ich Ihnen zum Heil seiner Seele diese Summe wieder erstatten müsste, und ich werde es tun.«

Herr Didier betrachtete sie mit Erstaunen.

»Müsste ich meine ganze Lebenszeit darauf verwenden«, fuhr Lisette mit Nachdruck fort, »ich erstatte Ihnen das Geld wieder, denn ich habe es ihm versprochen.«

Herr Didier versuchte sie zu trösten und entfernte sich dann, ohne sie weiter anzuhören.

Mutter und Tochter verkauften alles, was sie besaßen, und schlossen sich in ein kleines Dachstübchen ein. Lisette behielt weiter nichts als das Bett ihrer Mutter, sie selbst schlief zu ihren Füßen auf dem Stroh. Auf der Stelle trug sie den Erlös aus ihren Gerätschaften dem Herrn Didier hin und versicherte ihm, dass sie in Kurzem den Rest vollends abtragen würde.

Von nun an arbeitete sie Tag und Nacht, ohne zu ermüden, darbte sich die Nahrung und den Schlaf ab und sprach oft zu sich, um bei dieser traurigen Lebensart nicht den Mut zu verlieren: »Ich habe es ihm ja versprochen!«

Ihre Mutter starb.

Lisette hüllte sie mit eigenen Händen in das Sterbegewand ein, wachte bei ihr und folgte ihrer verblichenen Hülle zu Grabe. Ihr Auge war trocken, denn sie hatte keine Tränen mehr. Am folgenden Tag veräußerte sie der Mutter Bett und ihren ganzen Nachlass, ausgenommen ihr goldenes Kreuz, das ihr um den Hals hing und welches sie oft küsste. Das daraus erhaltene Geld trug sie abermals dem Herrn Didier hin und fuhr fort, mit angestrengtem Fleiß zu arbeiten. Trat der Fall ein, dass sie keine Arbeit hatte, so setzte sie sich vor ihre Tür auf die steinerne Bank und streckte um eine milde Gabe bittend ihre Hand nach den Vorübergehenden aus.

Bei einer solchen Lebensart war es kein Wunder, dass ihre Wangen einfielen, ihre Augen sich höhlten und ihr zarter Teint allmählich verschwand. Dennoch aber war sie noch schön in ihren langen Haarflechten, die üppig über die abgezehrten Schultern herabflossen, mit ihren großen Augen, die einen unsteten und verworrenen Blick hatten. Ach! Ihr Anblick erregte das innigste Mitleid!

Es kam der Winter. Sie hatte keine Arbeit, das Brot war teuer und es herrschte großes Elend. Zitternd unter dem eisigen Hauch des Nordwinds schritt sie mit nackten Füßen über Schnee und Eis hinweg und sprach mit den blauen und bebenden Lippen: »Ich muss ihn bezahlen!«

Und sie bezahlte diese heilige Schuld, brachte dem Herrn Didier den letzten Taler. Der Kaufmann ließ sie in der warmen Stube niedersetzen, reichte ihr ein Glas Glühwein, um ihren erstarrten Körper zu beleben. Aber sie fühlte und sah nicht mehr, ihr starrer Blick war nach oben gerichtet. Eine einzige Träne, es war eine Freudenträne, floss über ihre welken Wangen hinab.

»Er ist zufrieden gestellt!«, lispelte sie mit einem fast übernatürlichen Ausdruck.

»Er ist zufrieden gestellt! … Jetzt ist sein Verbrechen gesühnt und seine Seele gerettet. Ich habe ihn ja bezahlt!«

Ach! Lisette schien nicht mehr dieser Welt anzugehören! Sie kehrte bald nach Hause zurück. Die Nachbarin hörte sie laut beten, dann klopfte sie an die Wand.

»Leben Sie wohl, meine gute Gevaise«, tönte Lisettes Stimme. »Leben Sie wohl! ich gehe ganz fort von hier. Beten Sie für mich!«

Gevaise kam schnell, um einem Unglück vorzubeugen. Aber ach! Als sie in das Kämmerchen trat, hatte schon Lisette das Fenster geöffnet und stürzte sich in diesem Augenblick hinunter.

Zerschmettert lag sie auf der Steinbank.

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