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Die Plauderstube – Der Fächer Kapitel 2

Der Fächer
Eine Kriminalgeschichte

2.

Eines Morgens im Oktober 1804 verbreitete sich plötzlich ein seltsames und erschütterndes Gerücht in Havre, das blitzschnell und mit sichtbarer Sensation von Mund zu Mund flog. Unter der Handelswelt und in den Kreisen der Müßiggänger bildete es sogleich das Tagesgespräch. Es gab in jenem Jahr politische Ereignisse genug, um die Kannegießer zu beschäftigen, allein weder die Ermordung des Herzogs von Enghien noch der Umschlag der englischen Politik unter Pitt noch die Annahme des Kaisertitels vonseiten dessen, der so lange schon kaiserliche Autorität ausgeübt hatte, erregte auch nur halb so viel Interesse in der guten Stadt Havre als dieses Gerücht über ihren größten Kaufherrn. Die Deutungen, welche man dem Gerücht gab, waren so romantisch, so widersprechend, so geheimnisvoll. Claude Duravel wurde vermisst. Die einen flüsterten einander schaudernd zu, er sei ermordet worden, andere wollten wissen, er habe sich als betrügerischer Bankrottier mit einer großen Bargeldsumme aus dem Staub gemacht; wieder andere beklagten ihn als Selbstmörder, während eine andere Partie das Schicksal des Handelsherrn mit der rücksichtslosen Polizeiwillkür Fouchés in Zusammenhang bringen wollen, von der man sich zitternd die ungeheuerlichsten Dinge zuflüsterte. All dies war nur Ungewissheit und Vermutung und nur eine Tatsache: Monsieur Claude Duravel war verschwunden und nirgends zu finden. Die Behörden und die Verwandten des Vermissten, welche die Sache untersuchten, vermochten nur sehr dürftige Einzelheiten zu ermitteln. Am Morgen des 18. Oktober hatte man den unglücklichen Mann noch wie gewöhnlich auf seinem Kontor gesehen, und nicht das geringste Ungewöhnliche an ihm bemerkt. Er hatte ausgesehen wie sonst, und seine Arbeiten genau in der gewohnten und hergekommenen Weise besorgt. Um vier Uhr etwa ging er nach Hause, speiste allein, da sein Bruder und seine Schwägerin aufs Land gefahren waren; dann hatte er einige Stunden auf seinem Zimmer gelesen. Von dieser Zeit an war nichts Genaues oder Verbürgtes mehr über ihn zu ermitteln gewesen. Ein Gartengehilfe glaubte ihn in der Orangerie gesehen zu haben, allein er war seiner Sache nicht gewiss. Nur so viel war zuverlässig, dass er geschellt habe, damit man das Dessert abtrage. Der Lakai, welcher dieser Weisung gefolgt, war die letzte Person gewesen, welche beschwören konnte, dass sie ihn gesehen habe. Jerome und seine Frau boten alles auf, um den Vermissten aufzufinden. Große Summen wurden jedem geboten, der irgendeinen, wenn auch noch so unbedeutenden Hinweis über ihn zu geben imstande wäre. Der Teich im Garten wurde abgelassen, die aus dem Hafen auslaufenden Schiffe wurden durchsucht, die Aufenthaltsorte der Verbrecher und die verdächtigen Personen der Stadt unter die genaueste polizeiliche Kontrolle gestellt. Allein Geld und Zeit, Fleiß und Mühe schienen in gleichem Maß vergeudet zu sein. Die Polizei ließ die Sache in ihrem seitherigen Zustand, als ein ungelöstes Rätsel!

Wie in allen derartigen Fällen, so wurde auch in diesem das öffentliche Interesse immer kälter. Das Haus Duravel stand noch so fest wie jemals, und der Argwohn, als ob pekuniäre Verlegenheit irgendwie in Beziehung mit Claudes rätselhaftem Verschwinden stünden, erwies sich als gänzlich unbegründet. Nach einiger Zeit jedoch hieß es, Jeromes Gesundheitszustände gestatten ihm nicht mehr, sich persönlich an der Leitung des Geschäfts zu beteiligen. Persönliche Freunde von ihm ließen bedeutende Winke fallen, sein Leiden, eine Nervenverstimmung und übermäßige Reizbarkeit, rühre vorzugsweise von häuslichem Kummer und Missverständnissen her. Jedermann konnte auch bemerken, dass Jerome aus irgendeinem Grunde ungemein schnell alterte. Endlich zog er sich ganz von dem Geschäft zurück und verließ mit seiner Frau Havre. Die ersten weiteren Nachrichten, welche man von dem Ehepaar erhielt, waren, dass sie sich in den Bädern von Lucca aufhielten und in Italien bleiben wollten, was für sie einen doppelten Reiz hatte, weil Jerome seiner Gesundheit wegen auf Anraten der Ärzte eines milderen Klimas bedurfte, er selbst Kunstkenner und Dilettant in der Malerei war und als solcher in Italien einen Zeitvertreib für seine gezwungene Muße fand, welcher ihm mehr zusagen mochte als die eintönigen Kontor-Arbeiten. Später erfuhr man auch, dass die beiden Gatten sich auf Grund eines freiwilligen gegenseitigen Abkommens getrennt hätten, dass Jerome in Rom zurückgeblieben, Madame Duravel aber auf Reisen gegangen sei. Diese Neuigkeit erregte einiges Aufsehen unter ihren ehemaligen Bekannten und wurde auf verschiedene Weise zu deuten versucht, allein die Abwesenden sind bald vergessen, und so wurde auch ihrer bald kaum mehr gedacht.

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