Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Eines Menschen Flügel

Andreas Eschbach
Eines Menschen Flügel

Science Fiction, Hardcover, Lübbe, Köln, 30.09.2020, 1264 Seiten, 26,00 €, ISBN: 9783785727027, Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign München, Kartenzeichnung: Markus Weber, Guter Punkt GmbH & Co. KG, München

Eine ferne Zukunft auf einem fernen, scheinbar paradiesischen Planeten – doch der Schein trügt. Etwas Mörderisches lauert unter der Erde. Daher haben die Siedler ihre Kinder gentechnisch aufgerüstet, sodass sie fliegen können. Es gibt jedoch weitere Rätsel: Noch nie haben die Menschen die Sterne gesehen. Der Himmel ist immer bedeckt, als würde sich dahinter etwas verbergen. Den Himmel, so heißt es, kann man nicht erreichen. Oder doch? Owen, einem Außenseiter, gelingt es – mit tödlichen Folgen …

Stephen King oder Andreas Eschbach? Diese Frage ist angesichts von knapp 1,2 Kilogramm (extra gewogen; wenn das kein investigativer Journalismus ist), berechtigt; verteilt auf 1264 Seiten. Darum der Vergleich mit dem Horror-König aus Neu-England; von dem man derlei Ausschweifendes gewohnt ist, doch von Eschbach? Mittlerweile schon. Kratzte bereits NSA (2018) an der 800-Seiten-Marke, legte das Quasi-Prequel zur größten Science-Fiction-Serie der Welt, Perry Rhodan – Das größte Abenteuer (2019) eine beachtliche Schippe drauf. Bei Eines Menschen Flügel ist es gleich ein LKW-Ladung. Solch eine Wuchtbrumme von Buch, das kann durchaus auch so manche Schnell- wie Vielleser leicht verunsichern. Ist ein Werk von derlei Dimensionen lohnend? Man zögert, sofern man kein Stammleser beziehungsweise von den letzten Romanen des gebürtigen Ulmers bekehrt wurde. Niemand würde es eingestehen, doch als potenzieller Leser sucht man da durchaus nach einem literarischen Vorkoster; einem, der ersten Schritt wagt, wobei bereits Titel und Pitch, also die zugrunde liegende Idee hochgradig verlockend, da enorm frisch und originell sind und man – besonders im Falle Eschbachs – die Frage stellen muss, warum noch niemand zuvor darauf gekommen ist.

Menschen mit Flügeln, der Traum vom Fliegen – bei beiden landet man über kurz oder lang bei den Engeln, den himmlisch-mythologischen Wesen diverser Religionen. Auch zu Beginn des Romans kann sich eine solche Assoziation durchaus einschleichen. Eine im Grunde durch und durch friedliche wie friedlebende wie -liebende Gesellschaft, bar komplexer Errungenschaften, aber mit klaren gestrickten, von den Ahnen fest definierten Regeln. Eine Welt, die jene geflügelten Humanoiden nicht nur auf Grund ihrer Flügel zwingt, in den Kronen immens gewaltiger Bäume zu leben. Man respektiert und lebt in Harmonie mit der Natur, deren Gaben im Gegenzug nicht nur sättigen, sondern auch nahezu alles andere hergeben, was benötigt wird – bis auf Kleinigkeiten sorgloser, himmlischer, ja paradiesischer Zustände. Doch weder ist dies der Himmel noch das klassische Paradies. Dies ist die Zukunft, ebenso weit entfernt wie besagter Planet der Flügelgestalten. Das es – gewissermaßen – ausgerechnet die Gebote und Weisungen jener Ahnen von den Sternen sind, die die Neugier in dem jungen Signalmacher Owen wecken, könnte man durchaus als Ironie des Schicksals bezeichnen. Sterne. Was sind sie? Wo stecken sie? Wie sehen sie aus? Warum waren sie den Ahnen so wichtig? Angetrieben von diesem inneren Feuer beschließt Owen, zu ihnen vorzudringen, sie mit eigenen Augen zu sehen, die undurchdringliche Wolkendecke ihrer Welt zu durchbrechen und somit an das Mysterium zu gelangen. Dies ist nicht bloß ein gewagtes, nein, ein schier unmögliches Unterfangen, gespickt mit zahlreichen Stolperfallen und Vereitelungen, da offenbar eine im Verborgenen agierende Kaste existiert, die alles daran setzt, den möglichen Erfolg bereits im Vorfeld zu vereiteln. Mit (fast) allen Mitteln.

Doch Owen gelingt das schier Unmögliche. Er steigt weiter und höher auf als alle vor ihm, er bringt die Wolken hinter sich – und sieht die Sterne. Doch neben der Wolkendecke öffnet er ungewollt die Büchse der Pandora. Unvermittelt stempelt man den Träumer Owen als Lügenbold ab, als Gefährder und Konspirateur. Doch weder lässt er sich davon beirren noch speisen ihn dessen Freunde als spinnert ab. Noch ahnen sie nicht, dass ihnen die Abenteuer eines Lebens bevorstehen …

Die schiere Vehemenz des Buches verrät es bereits: Mit Eines Menschen Flügel hat Eschbach aus einem immensen Konzept ein noch monumentaleres Epos erschaffen, dessen Liebe und Detailfreude man auf nahezu jeder Seite spürt. Mögen die ersten 200, 300 Seiten leicht orientierungslos anmuten, packt einem Eschbachs ungebündelte Fabulierkunst anschließend so sehr, dass ein Aufhören im Prinzip ausgeschlossen erscheint. Dementsprechend überwältigend breitet sich fortschreitend ein immer farbenprächtigerer Teppich einer minutiös aus- und durchdachten fernen Welt aus, die zu selben Teilen erschreckend wie einzigartig ist; gleich dem Uhrmacher, bei dem noch das kleinste Rädchen eine bedeutende Funktion besitzt und ohne dass das große Ganze unmöglich existieren kann. Lange Zeit wägt uns Eschbach auf einer falschen Fährte; hält man – ungewollt oder nicht – Eines Menschen Flügel für seinen allerersten Ausflug in die pure Fantasy, bis die Science Fiction-Komponente doch greift; unabhängig, ob man den Braten längst gerochen hat oder nicht. Das Schöne daran ist die Konsequenz des Autors, insbesondere der Abschluss, der weder Härte noch Melancholie scheut. Ohnehin nutzt Eschbach vielerorts die Länge seines Werks für philosophische Exkurse; für Auseinandersetzungen mit unserer eigenen Gesellschaft – prächtige Gegenstücke zu den spannenden und rasanten Passagen.

Fazit:
Eines Menschen Flügel mag vereinzelt daran erinnern, ist aber im Kern der bessere Avatar. Den Film, den wir gerne erhofften, aber nie so wirklich bekamen – und so viel, so verdammt viel mehr. Nach NSA vor zwei Jahren erneut mein persönliches Buch des Jahres.

(ts)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert