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Der Detektiv – Das Löschblatt von Amritsar – 5. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Löschblatt von Amritsar

5. Kapitel

Als das Licht erlosch

Und wieder war es ein Abend wie der letzte, wieder saß ich mit Albström auf der Veranda seines behaglichen Heims und genoss alle Reize einer indischen Nacht – mit Glühwürmchen in den Sträuchern, mit dem schmetternden oder schluchzenden Schlag einer Bul-Bul, einer indischen Nachtigall, mit all dem seltsamen Drum und Dran eines Landes, in dem uns überall Geheimnisse höhnisch angrinsen, uns aufgeklärte Europäer.

Albström war einsilbig und zerstreut. Ich fühlte deutlich: Irgendeine schwere Sorge lastete auf ihm. Zuweilen schaute er mich versonnen an. Unser Gespräch quälte sich mühsam vorwärts. Er erzählte von seiner schwedischen Heimat. Dann – ganz unvermittelt ging er auf den Mord an Stelton über. »Ob Harst wohl den Täter finden wird?«, fragte er zögernd nach einigen anderen Bemerkungen.

Nun hatte ich das bestimmte Empfinden: Dieser Albström fürchtet Harst und wünscht insgeheim, der Mörder möchte nicht entdeckt werden! Ich war daher gerade im Begriff, ihm ehrlich zu erwidern, »Sie zeigen ein Interesse für dieses Verbrechen, das mich etwas eigenartig berührt«, als vom Ufer des den Park durchströmenden Flüsschens ein wüster Lärm herüberschallte.

Albström sprang sofort auf und rief: »Ah – meine Diener scheinen nicht umsonst gewacht zu haben! Sie dürften den Kerl gefasst haben, der schon gestern Abend …«

Weiter hörte ich nichts. Er war die Stufen der Verandatreppe hinabgeeilt. Ich blieb hinter ihm. Auf dem Hauptweg kamen uns schon drei Diener entgegen, die einen Eingeborenen gepackt hielten, der sich kaum noch wehrte. Im Licht der über dem Verandatisch hängenden Lampe sah ich dann sofort, dass es Harst nicht sein konnte. Der Eingeborene, dessen langer Bart und Riesenturban ihn als Sikh erscheinen ließen, war viel zu klein und schmächtig.

Albström begann sofort mit einem strengen Verhör. Der Farbige schwieg beharrlich. Schließlich gab der Ingenieur das Fragen auf und wollte den kleinen Menschen, dessen Augen zu Boden schauten, zur Polizei bringen lassen. Da erst kam in den Schwarzbärtigen Leben. Er hob den Blick, nickte Albström zu. Der Ingenieur trat denn auch dicht an ihn heran. Nun beugte der von den Dienern noch immer fest Umklammerte den Oberkörper vor und raunte Albström etwas zu. Was, verstand ich nicht. Aber die Wirkung war auffallend genug. Der Ingenieur prallte zurück, streckte wie abwehrend die Arme aus und rief leise: »Unseliges Missgeschick!«

Ich hatte schon ein paar Sekunden vor dieser Szene auf der Treppe hinter den Dienern eine neue Gestalt bemerkt, einen Europäer in hellem Leinenanzug und Tropenhelm. Dieser Mann erschien nun im Lichtkreis der Lampe. Es war Harald Harst.

Auch Albström sah ihn nun, fuhr zusammen.

Da sagte Harst schon: »Das Haus ist von der Polizei umstellt, Master Albström. Schicken Sie Ihre Diener weg.«

Der Ingenieur winkte. Die drei Farbigen verschwanden. Harsts Rechte war nun halb erhoben, die Mündung eines Revolvers richtete sich auf den kleinen Schwarzbärtigen. »Setzen Sie sich dorthin, Warbatty!«, wandte er sich an den angeblichen Sikh. »Jeder Fluchtversuch ist aussichtslos. Bevor mein Pfiff die Beamten herbeiruft, möchte ich mit Ihnen einiges erörtern, was Sie nicht direkt angeht.« Er deutete auf einen Korbsessel hinter der breiten Seite des Tisches an der Hauswand.

Albström stand leichenblass dabei. Auch ich hielt es für gut, meinen Revolver zu ziehen. Aber Warbatty hatte sich schon mit einem Achselzucken gesetzt, entfernte nun gelassen den falschen Bart und sagte dann: »Ich durchschaue das Spiel zur Hälfte, Master Harst. Sie scheinen diesmal besonders schlau vorgegangen zu sein …« Er lehnte sich bequem zurück, ließ die Arme auf der Lehne des Korbsessels und war wieder ganz der überlegen-ruhige, geniale Verbrecher, wie wir ihn nun schon so vielfach kennen gelernt hatten.

Harst beobachtete ihn aufmerksam und erwiderte mit einem gewissen Mitleid in der Stimme: »Sie haben einen neuen Mord auf Ihr Gewissen geladen, Warbatty. Sie sind Steltons Mörder. Geben Sie das zu?«

»Ihnen gegenüber ist Leugnen zwecklos«, meinte Warbatty mit erschreckender Abgebrühtheit. »Obwohl Sie mich im Zug umsonst gesucht haben!«, fügte er lebhafter hinzu. »Ich fuhr eben als blinder Passagier in der Gerätekammer des Speisewagens mit – als Mohammedanerin.« Man merkte abermals, wie eitel dieser Mensch war, wie er sich mit seiner Schlauheit brüsten wollte.

Harst schwieg eine Weile. Dann sagte er so mild und gütig, als spräche er zu einem Schwerkranken: »Sie sind Arzt. Sie sind verheiratet. Ihre Frau liebt Sie, wie Sie selbst.«

Da schnellte Warbatty hoch. »Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel!«, rief er ganz heiser. »Weshalb erwähnen Sie gerade jetzt …«

Harst machte eine beschwichtigende Handbewegung, fiel ihm ins Wort: »Weshalb, Doktor Doogston? Weshalb? Weil ich klar sehen will.«

Warbatty sank in den Korbsessel zurück, deckte die Rechte über die Augen, brachte gequält heraus: »Sie … Sie scheinen ein schlechtes Namengedächtnis zu haben! Ich heiße Cecil Warbatty bekanntlich …«

»So nennen Sie sich in Ihrer anderen Rolle, eben als Verbrecher aus krankhaftem Trieb zum Verbrechen. In Wahrheit sind Sie Doktor Reginald Doogston.«

Albström, der neben mir saß, schlug nun aufstöhnend die Hände vor sein verstörtes Gesicht. Mir aber begann sich dieses Abenteuer im Nachtzug Gwalior –Amritsar etwas zu klären.

Warbatty hatte ironisch aufgelacht. »Mann, Sie sind ein Phantast!«, rief er Harst zu. »Reginald Doogston? Ich habe diesen Namen noch nie …«

Abermals unterbrach Harst ihn. »Ich werde Ihnen beweisen, dass Sie mich soeben belügen wollten. Der Mord an dem Advokaten wäre Ihrerseits wohl unterblieben, wenn Sie geahnt hätten, dass Ihre Gattin, die jetzt, was Ihre häufigen Reisen anging, Verdacht geschöpft hatte und die wahrscheinlich infolge der Zeitungsnachrichten über Cecil Warbatty und seinen fehlenden linken Zeigefinger von der Angst gepackt war, Sie könnten dieser Massenmörder sein, sich bereits in Gwalior befand, als Sie den neuen Streich gegen Stelton zur Ausführung bringen wollten. Sie ist Ihnen nachgereist. Als ich im Nachtzug Zeuge wurde, wie im Speisewagen zwischen ihr und Master Albström insgeheim allerlei Zeichen ausgetauscht wurden, da ahnte ich noch nichts von alledem, was nun ans Tageslicht gekommen war. Selbst als ich dieser Miss Doogston dann, als sie eingeschlafen war, aus ihrer Kabine ein Löschblatt gestohlen hatte, dem sie eine sehr verdächtige Beachtung schenkte, und selbst nach der Ermordung Steltons tappte ich noch völlig im Dunkeln, was diese Frau anbetraf, bis mir dann gestern hier in Amritsar beim nochmaligen Betrachten des herausgebrannten Löschblattstücks klar wurde, dass dieses nichts anderes sein konnte als eine Zeichnung Amritsars und seiner nächsten Umgebung aus der Vogelperspektive – seine Skizze, auf der an der linken Seite ein längliches kleines Viereck ein Haus in einem Park vorstellen sollte – diesen Bungalow des Ingenieurs Albström! Und über diesem Viereck stand ein ebenso verschwommenes Datum – die Zeitangabe der jetzigen Woche! Als ich dies herausgefunden und weiter dann festgestellt hatte, dass Miss Doogston hier bei Albström Wohnung bezog, in dessen Kabine sie geeilt war, nachdem sie das Fehlen des Löschblattes bemerkt hatte, als ich schließlich noch sah, dass Master Albström meinen Freund Schraut als Gast in sein Haus nahm, natürlich um ihn, meinen Gehilfen, ständig und leichter beaufsichtigen zu können, da hatte ich allen Grund, diesem Bungalow am gestrigen Abend einen Besuch abzustatten. Da drang ich in das Zimmer von Miss Doogstons ein, stand hinter einem Fenstervorhang, als sich ihr Herzeleid in wildem Schluchzen äußerte, da trat ich plötzlich vor. Und die arme Frau schrie gellend auf, rief dann leise: ›Reginald, bist du es?‹ Ich entfloh. Man hielt mich für einen Dieb. Ich entfloh und nahm etwas mit mir: die Gewissheit, dass die Frau, die in wilder Verzweiflung wiederholt geflüstert hatte ›Mein Gott … er … er ein vielfacher Mörder!‹ und ein andermal wieder aufgestöhnt hatte ›Wenn er nur den Brief abholen würde, wenn ich ihn auf diese Weise zu Gesicht bekäme!‹ nur Warbattys Gattin sein könnte. Brief abholen! Das genügte mir. Sofort dachte ich an ein postlagerndes Schreiben für Warbatty. Ich verständigte mich mit dem hiesigen Polizeiinspektor. Ich wurde Beamter am Schalter für postlagernde Sendungen, der täglich nur von 12 bis 1 Uhr geöffnet ist. So gelang es mir, Warbatty außer dem von ihm geforderten Brief, der an Doktor Reginald Doogston, Amritsar, postlagernd adressiert war, noch einen zweiten von mir hergestellten und mit Maschine geschriebenen auszuhändigen, der ihn für heute Abend hier in den Park bestellte und lediglich mit Lizabet unterzeichnet war. Die Flucht Warbattys vor seiner Frau über den Fluss, das Eingreifen des Polizeiinspektors mit seinen Leuten und andere Nebenumstände will ich hier weglassen. Jedenfalls unterlag Warbatty dann der Versuchung, seine Frau wiederzusehen, die er in der Verkleidung als Mohammedanerin wohl für einen seiner ärgsten Widersacher – mich – hielt. Er kam hierher, lief Albströms Dienern in die Arme! Auch hiermit hatte ich gerechnet – eben mit einer Bewachung des Parkes durch die Diener. Hätten diese ihn nicht festgenommen, dann hätte ich es später hier im Haus getan. So, Doktor Reginald Doogston alias Cecil Warbatty, leugnen Sie auch jetzt noch, dass Ingenieur Albström, der genau dieselben graublauen Augen wie Miss Doogston hat, Ihr Schwager, der Bruder Ihrer Frau ist?«

Da regte der Ingenieur sich. Seine Stimme zitterte, als er nun hastig sagte: »Master Harst, leugnen ist alledem gegenüber eine Torheit! Ja, Lizabet ist meine Schwester. Sie hat Sie seit Gwalior im Auge behalten. Sie hoffte, durch Sie auf ihren unglücklichen Gatten noch rechtzeitig aufmerksam zu werden, ihn zur Heimkehr nach Margate in England bewegen zu können. Reginald ist ein Unglücklicher, Master Harst. Er ist geistig nicht normal, kann es nicht sein! Als wir, Lizabet und ich, die mich in ihrer Angst nach Gwalior gerufen hatte, mit Ihnen und Ihrem Sekretär im selben Zug hierher fuhren, wagten wir nicht, offen miteinander zu sprechen, tauschten nur vorher vereinbarte Zeichen aus. Sie haben also richtig beobachtet. Meine Schwester teilte mir auf diese geheime Weise mit, dass sie ihren Gatten bisher im Zug nicht entdeckt habe. Ebenso stimmt Ihre Vermutung hinsichtlich des Löschblattes. Meine Schwester erhielt es vor vier Wochen aus Madras mit der Post zugeschickt. Sie kannte diese seltsamen Lebenszeichen ihres Gatten schon, der ihr so stets angab, wann und wohin sie postlagernde Briefe an ihn senden dürfe. Schon diese unglaubliche Idee, derartige Stadtpläne ihr zuzuschicken, beweist nebst vielem anderen, dass mein Schwager Reginald nicht zurechnungsfähig sein kann. Ich würde Sie daher auch …«

In demselben Augenblick erlosch die elektrische Lampe über dem Tisch; der Tisch selbst flog mit allen darauf stehenden Sachen Harst gegen den Leib. Ich konnte nicht eingreifen. Die Dunkelheit war zu groß. Ich saß wie gelähmt da, hörte nur das Klirren der Gläser und Flaschen, hörte Albströms ärgerlichen Ausruf.

»Wie töricht!«

Dann aber Harsts ruhige Stimme: »Master Albström, Ihre Schwester dürfte uns belauscht, den Strom ausgeschaltet und ihrem Gatten so eine Flucht ermöglicht haben.«

Da glühte die Lampe wieder auf. Wenige Sekunden später erschien auf der Veranda Lizabet Doogston, trat vor Harst hin, erklärte mit fester Stimme: »Lassen Sie mich verhaften! Rufen Sie die im Garten versteckte Polizei herbei! Ich war es, die die Hauptsicherung am Schaltbrett herausnahm und so das Licht löschte.«

Harst verbeugte sich. »Das Haus ist nicht von Beamten umstellt. Das war lediglich eine kleine Notlüge von mir. Sie zu verhaften, habe ich kein Recht. Im Gegenteil, ich bemitleide Sie so sehr, dass ich fortan Ihren Gatten nicht mehr verfolgen werde. Auch ich halte ihn für geisteskrank.«

Frau Doogston griff nach Harsts Hand.

»Master Harst«, rief sie tief bewegt, »wirklich, auch Sie sind der Überzeugung, dass …« Sie begann zu weinen.

Harst schob ihr einen Sessel hin. Sie ließ sich kraftlos hineinfallen.

Es war dies eine Szene, wie man sie so leicht nicht vergisst. Der umgestürzte Tisch. Am Boden Scherben von Gläsern, Zigaretten, Zigarren, große Lachen von eisgekühlten Getränken; dazu wir drei Männer und diese arme schluchzende Frau – und im Garten Nachtigallen, die mit ihr um die Wette ein zerstörtes Eheglück bejammerten.

Harst winkte mir zu. Wir drückten Albström stumm die Hand, schlichen davon, verließen das Haus und den Park, wanderten dem Hotel Edward Albert-Hof zu.

»Mag die Polizei sich mit Doktor Doogston befassen, falls sie ihn findet«, sagte Harst plötzlich. »Er gehört jedenfalls in eine Heilanstalt für Gemütskranke, nicht vor den Richter. Sein verbrecherisches Genie war die Ausgeburt eines defekten Hirns; daher auch die entsetzliche Gewissenlosigkeit seiner Verbrechen.«

So sprach Harst in jener Nacht.

Dass es anders kam, dass wir trotzdem uns nochmals unserem alten Gegner an die Fersen hefteten, geschah aus ganz anderen Gründen als bisher.

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