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Der Detektiv – Das Löschblatt von Amritsar – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Löschblatt von Amritsar

4. Kapitel

Die beiden Verschleierten

Die Nacht verlief ruhig. Ich schlief gut. Am Morgen frühstückte ich mit Albström wieder auf der Veranda. Er sah übernächtigt aus und war in sehr gedrückter Stimmung. Er fuhr dann in sein Büro, während ich nach einer halben Stunde zu Fuß in die Stadt schlenderte. In der Nähe des Polizeigebäudes drängte sich ein Eingeborener an mich heran, flüsterte mir zu: »Den Brief nicht vergessen …« Und ging weiter.

Erst hatte ich geglaubt, es wäre Harst gewesen. Doch der Eingeborene war gut einen Kopf zu groß. Also nur ein Bote Harsts.

Kein Wunder, dass ich nun auf den Inhalt des postlagernden Schreibens M S 100 noch gespannter war. Pünktlich um 12 war ich im Postamt, das mit seinen modernen Einrichtungen ebenso gut in Berlin hätte stehen können. Es gab hier sechs Schalterfenster. Das Letzte war das für postlagernde Sendungen. Der Verkehr um diese Stunde war überaus lebhaft. Amritsar mit seinen 163.000 Einwohnern ist ja eine blühende Handelsstadt. Ich hatte etwa sechs Leute vor mir. Von Hast und Eile merkte man nichts. Alles wickelte sich recht gemütlich ab. So konnte ich mir denn das zumeist aus Eingeborenen bestehende Publikum in Ruhe ansehen. Europäer waren nur spärlich vertreten. Als die Reihe an mich kam, als ich nun von dem Beamten meinen Brief M S 100 erbat, als ich diesem Beamten, einem hellbraunen, älteren Hindu, ins Gesicht schaute, da fuhr ich leicht zurück.

Denn ich hatte meinen Harald Harst vor mir, Harst mit einer großen Stahlbrille auf der Nase, den nur ich in dieser Maske wiedererkannte.

Er reichte mir den Brief, murmelte etwas dabei. Wie ein Hauch erreichten die Worte mein Ohr: »Sofort hier lesen!«

Ich stellte mich daher auch in der Nähe in eine der Schreibnischen, riss den Umschlag auf, zog den Bogen heraus. Harsts Handschrift. Und der Inhalt: Bleibe im Schalterraum. Beobachte meinen Schalter. Sobald ich aufstehe, die Brille abnehme und mich ohne Brille wieder niedersetze, folgst du der Person, die dann von mir etwas ausgehändigt erhält. Du wirst recht weit hinter der Person bleiben, denn sie wird noch von einer anderen im Auge behalten werden, auf die es mir hauptsächlich ankommt. Sobald du diese zweite Person herausgefunden hast, stellst du fest, wo sie bleibt. Betritt sie ein Haus, so warte in der Nähe. Ich werde hoffentlich rechtzeitig zur Stelle sein. H.

Diese Anweisungen waren klar und einfach. Kurz vor ein Uhr bemerkte ich eine tief verschleierte Mohammedanerin, die Harst einen Zettel hinschob. Ob jung oder alt, war nicht zu erkennen. Ihre weiten Gewänder umgaben sie derart, dass lediglich festzustellen war, sie müsse sehr klein sein. Und nun stand Harst auf, nahm die Brille ab, setzte sich wieder.

Die Verschleierte erhielt ihren Brief und schritt langsam dem Ausgang zu. Ich wartete, bis die Pendeltür hinter ihr zufiel und bis dann eine zweite, ebenfalls dicht verhüllte Eingeborene dieselbe Tür passiert hatte. Sehr bald hatte ich heraus, dass diese zweite Frau der ersten folgte. So bewegten wir uns nun zu dritt in Abständen von dreißig Metern durch die belebteren Straßen, gelangten ins Eingeborenenviertel und schließlich in einem Hindutempel dicht am Ufer des Rawi. Der Tempel war halb verfallen, aber recht ausgedehnt. Da am Eingang der Umfassungsmauer kein Priester Wache hielt, gehörte er zweifellos zu den zum Gottesdienst nicht mehr benutzten.

Hier nun verlor ich die beiden Frauen aus den Augen, da um das Hauptgebäude eine Anzahl von Höfen mit verschiedenen Pforten lag. Während ich nun ärgerlich und übereifrig bald hierhin, bald dorthin lief, stürmte der Polizeiinspektor von Amritsar mit vier Unterbeamten an mir vorüber. Kaum waren sie zum Fluss hin verschwunden, als auch Harst auftauchte; Harst als Postbeamter.

»Der verd… Esel!«, fluchte Harst atemlos und so ergrimmt, wie ich ihn selten gesehen habe. »Komm, retten wir, was noch zu retten ist …«

Wir liefen hinter den Polizeileuten her. Um den Tempel herum hörten wir plötzlich vom Fluss her zwei bis vier Schüsse, rasten weiter, fanden eine Pforte, die auf einen Bootssteg mündete, sahen auf dem hölzernen Steg den Inspektor mit seinen Beamten, sahen mitten auf dem Strom zwei kleine Nachen und in jedem eine der verschleierten Frauen.

Harst rannte auf den Inspektor zu. Ich durfte mich nicht zeigen.

»Master Blunk«, fuhr er diesen grob an, »es ist geradezu hinterlistig von Ihnen, mir in so plumper Weise ins Handwerk zu pfuschen. Sie haben nun alles verdorben – alles!« Er war so empört, dass er förmlich brüllte. »Folgen Sie mir jetzt. Wir wollen uns nicht noch mehr blamieren«, fügte er ruhiger hinzu. Derartige Erregungszustände dauerten stets nur Sekunden bei ihm.

Sie traten durch die Mauerpforte wieder ein. Hier nun nahm Harst den Inspektor abermals ins Gebet.

»Weshalb hielten Sie unsere Vereinbarung nicht ein, Master Blunk?«, meinte er sehr ungnädig. »Sie hatten mir versprochen, sich nicht einzumischen.«

Blunk war recht verlegen. Er schickte erst seine Leute weg und sagte dann: »Entschuldigen Sie nur, Master Harst. Ich gebe zu: Ich habe die Geschichte verdorben. Aber Sie können es mir schließlich nicht verargen, dass ich ehrgeizig war und diesen Schurken selbst dingfest machen wollte.«

Harst lachte ärgerlich auf. »So, nun können Sie versuchen, ihn einzufangen. Wird Ihnen schwer fallen. Wir sind geschiedene Leute, Master Blunk.«

Er fasste mich unter und zog mich fort. Der Inspektor machte gar nicht den Versuch, Harst zu versöhnen.

Wir betraten dann den Tempel und setzten uns in der Nähe des Eingangs in einen Seitenanbau, dessen Fenster zum nahen Fluss hinausgingen.

Harst hatte zuerst noch eine Weile durch eins der Fenster zum Strom hinübergespäht, hatte wie befriedigt genickt und sagte nun zu mir, indem er mir die Hand hinstreckte: »Lieber Alter, dieser Blunk hätte tatsächlich die Karre völlig festfahren können. Ich hoffe jetzt jedoch wieder, dass es nicht geschehen ist. Die Wettfahrt der beiden Nachen drüben auf dem Fluss dürfte nämlich für die Verschleierte Nummer 2 ungünstig enden, und dich dürfte dieselbe Verschleierte nicht bemerkt haben. Unter diesen Umständen werden wir doch gewinnen, obwohl die Partie bereits für uns sehr schlecht stand.«

Ich begriff von alledem nichts – nichts, und ich sagte das Harst auch ohne Scheu.

»Durchaus verständlich, dass Du nichts begreifst«, meinte er.

Ich fiel ihm ins Wort. »Nur dass Warbatty die Kleinere der beiden Mohammedanerinnen gewesen sein dürfte, muss ich nach der einen Äußerung Blunks annehmen.«

»Ganz recht. Es war unser alter Freund Cecil!« Er suchte nach seinem Zigarettenetui, bot mir eine Zigarette an und fuhr nach den ersten Zügen fort: »Die Löschblattgeschichte ist verzwickter, als ich je geglaubt habe, mein Alter. Ich will dir kurz so einiges mitteilen, wodurch du die Sachlage dann besser übersehen kannst. Zunächst mein Verschwinden aus dem Zug. Das kam so. Als ich nicht gleich einschlafen konnte und mir das, was wir von der Ermordung des Advokaten Stelton wussten, nochmals durch den Kopf gehen ließ, als ich dabei an Cecil Warbattys geringe Körpergröße und die uns schon einmal aufgestoßene Zierlichkeit seiner Füße dachte, indem ich mir die Spur aus der Oberhemdbrust vergegenwärtigte, da hätte ich mir am liebsten vor die Stirn geschlagen! Uns war bekannt, dass Warbatty in Amritsar etwas plante. Könnte dieser neue Streich nun nicht auch für die Bahnstrecke nach Amritsar vorbereitet gewesen sein, fragte ich mich. Warum nicht? Könnte weiter nicht vielleicht Freund Cecil sich im Zug in der Verkleidung einer Frau befinden? Ihm ist jede Maske möglich – jede! Diese Erwägungen genügten zu dem Entschluss, ganz leise mein Lager zu verlassen, mich ebenso leise anzukleiden und den Zugführer im Postwagen vorn aufzusuchen. Er holte mir die Schaffner und auch die Kellner des Speisewagens herbei. Doch keinem von diesen Leuten war etwas aufgefallen an einem oder einer Reisenden, das auf eine Verkleidung hingedeutet hätte – nichts. Es blieb mir also nichts übrig, als mich in einen Zugbeamten zu verwandeln und morgens in Begleitung des Zugführers eine Revision sämtlicher Abteile vorzunehmen, wozu uns der Mord an Stelton ja genug Anlass gab. Ich entdeckte Warbatty nicht. Aber ich stellte etwas anderes fest: Miss Doogston hielt sich in dem Abteil des Chefingenieurs Albström auf! Auf unser Klopfen an die Tür wollte Albström zunächst nicht öffnen. Der Zugführer erklärte jedoch, er käme gleichzeitig in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter der Bahn. Albström war überaus verlegen. Miss Doogston saß an dem Tischchen am Fenster mit tief herabgezogenem Schleier. ›Die Dame ist eine Verwandte von mir‹, erklärte der Ingenieur. Das war jedenfalls eine große Überraschung für mich, dieses Auftauchen der anscheinend Flüchtigen bei Albström, mein lieber Schraut, eine nie geahnte Überraschung. Ich sah die Dinge plötzlich mit anderen Augen an – ganz anderen.«

Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte Harsts Mund. Das Lächeln machte jedoch ebenso schnell einem ernsten, fast schmerzlichen Ausdruck Platz. Er seufzte sogar leicht auf und fuhr dann fort: »Auf meine Veranlassung ließ man Miss Doogston dann in Amritsar unbehelligt im Auto davonfahren. Es war nicht schwer, die Spur des Kraftwagens bis zu Albströms Bungalow zu verfolgen. Desto genauer wurden aber die anderen Passagiere auf dem Bahnhof aufs Korn genommen, auch du, mein Alter. Warbatty freilich entdeckten wir auch jetzt nicht.«

Er fasste in die Tasche und holte einen zerknitterten Brief hervor. »Dieses Schreiben bekam ich gleichzeitig mit dem ungeschliffenen Edelstein in einer Falte der Aktentasche Steltons zu packen«, erklärte er weiter. »Dem Mörder, der es sehr eilig hatte, die Tasche auszuräumen, ist es entgangen, genau wie der eine Stein. Ich werde es dir vorlesen. Die Maschinenschrift verrät nichts. Die Unterschrift ist vielsagend. Es lautet also: Herrn Rechtsanwalt Stelton, Lahore. Wir wissen genau, dass Sie in Ihrer Eigenschaft als Notar seiner Zeit den Vertrag über die sogenannte Mikarisa-Diamantmine für den Verkäufer aufgesetzt und so erfahren haben, wo die Fundstelle zu suchen ist. Sie sind dann angeblich nach Kalkutta gereist, haben jedoch in Wahrheit in aller Stille das ausgetrocknete Flussbett des Mikarisa durchwühlt und gerade die wertvollsten Edelsteine an sich genommen. Ich habe meine Verbündeten überall. Ich lasse Sie ständig beobachten. Wenn Sie nicht gehorchen, sind Sie ein verlorener Mann. Eine Anzeige an die Polizei genügt! Sie werden also die Edelsteine mit uns teilen, das heißt, Sie dürfen ein Drittel davon behalten. Kommen Sie bald nach Gwalior und bringen Sie die Steine mit. Ich werde mich Ihnen gegenüber durch das Stichwort Mikarisa-Vertrag ausweisen. Ein nicht zu Unrecht Berühmter.

Harst blickte mich an. »Diese Unterschrift entspricht durchaus Warbattys Eitelkeit. Und dieser Brief hat ja auch mit dazu beigetragen, meinen Verdacht auf ihn zu lenken. So, nun weißt du fürs Erste genug. Ich werde nun versuchen, Warbatty eine Falle zu stellen. Ich tue es nicht gern.« Abermals seufzte er leise. »Nein, dieser Kampf ist mir jetzt fast zuwider. Miss Doogston tut mir so unendlich leid.«

»Miss Doogston?«, meinte ich kopfschüttelnd.

Er nickte nur. »Ich gehe jetzt. Auf Wiedersehen, mein Alter, vielleicht schon heute Abend in Albströms Bungalow.«

Er eilte davon und ließ mich allein wie einen Blinden, der ringsum nur tiefes Dunkel sieht. Miss Doogston bedauerte er? Und dazu noch seine trübe Miene, seine Unlust, Warbatty unschädlich zu machen?! Ich begriff abermals nichts von alledem – nichts, erkannte lediglich, dass der Mord an Stelton hier nur eine Nebenrolle spielte, erinnerte mich des seltsamen Löschblattes und fragte mich immer wieder: Was hat es wohl mit diesen Dingen zu schaffen? Ist es eine Kartenskizze der Mikarisa-Mine?

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