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Der Detektiv – Das Löschblatt von Amritsar – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Löschblatt von Amritsar

1. Kapitel

Im Schlafwagen

Der Nachtzug Gwalior – Amritsar durcheilte ohne Aufenthalt die endlosen Ebenen des Pandschab, des Fünfstromlandes im Norden Vorderindiens.

Die letzten drei Wagen enthielten nur Schlafabteile. In einer der bequemen Kabinen mit zwei Betten hatten Harst und ich uns häuslich eingerichtet, hatten soeben draußen im Gang noch eine Zigarette geraucht und uns vergewissert, dass unsere Nachbarn rechts und links zwei baumlange Offiziere der britisch-indischen Armee waren, die wir nicht weiter zu beargwöhnen brauchten.

Vorsichtig mussten wir beide stets und überall sein. Wer hinter einem Verbrecher von Cecil Warbattys Fähigkeiten her ist, tut gut, jedem Menschen gegenüber zunächst misstrauisch zu sein.

Harst gähnte, verriegelte die Tür des Abteils und begann sich zu entkleiden. Ich folgte seinem Beispiel. Ich saß auf dem Bettrand und ließ aus Ungeschick einen Stiefel fallen.

»Du machst mich noch nervöser!«, fuhr Harst sofort gereizt auf und warf mir einen bitterbösen Blick zu.

»Entschuldige«, stammelte ich. Was hatte er nur? Von einer so unliebenswürdigen Seite lernte ich ihn sehr selten kennen.

Er öffnete nun die eine Luftscheibe des Dachschachtes noch mehr und meinte dann: »Die Hitze ist unerträglich. Trotzdem werde ich wie ein Toter schlafen. Gute Nacht, mein Alter. Verzeih schon, wenn ich soeben etwas heftig wurde. Dieses schöne Land mit Warbatty als Zugabe ist das reinste Nervenreibeisen.«

Er streckte mir die Hand hin und kroch dann unter sein Moskitonetz und auf sein Lager.

Nachdem ich die Stoffhalbkugeln über die Deckenlampe gezogen hatte, suchte auch ich mein Bett auf. Unsere Betten standen einander an den Längswänden der Kabine gegenüber. Zwischen ihnen war ein Gang von etwa anderthalb Meter Breite.

Ich konnte nicht sofort einschlafen. Ich musste immer wieder an das denken, was unserer Verfolgung des vielfachen Mörders in Gwalior eine neue Note gegeben hatte. Warbatty sollte verheiratet sein. Dieser in seiner Art einzig dastehende Gesetzesverächter schien seine Frau aufrichtig zu lieben. Seltsame Widersprüche der Menschenseele! Derselbe Mann, der mit der Kaltblütigkeit eines über alle moralischen Bedenken erhabenen Wahnsinnigen tötete und mit dem eigenen Leben ebenso leichtfertig spielte, besaß in seinem Herzen doch noch Raum genug für edlere Regungen!

Ich blinzelte zu dem schmalen, hellen Strich nach oben, den die Stoffhalbkugeln der Lampe frei ließen. In unserem Abteil war es im Übrigen völlig dunkel. Nur dieser eine weiße Schimmer milderte die Finsternis hoch über uns in der Wölbung des Dachschachtes.

Die Räder des Wagens sangen ihr träges, einförmiges Lied; nichts anderes war sonst zu vernehmen. Wie in einem großen Käfig glitten wir in unserer Kabine über den Schienenstrang dahin.

Meine Gedanken begannen zeitweise ins Traumland hinüberzuwandern, kehrten für Sekunden zurück in die Wirklichkeit, entwischten abermals in das Phantasieland der Unwirklichkeit. In diesem Zustand des Halbschlafs war es, als ich von Harsts Bett her ein leises Geräusch vernahm, das ganz so klang, als hätte mein Freund und Brotherr sich aufrecht gesetzt.

Ich wurde sofort munter, starrte hinein in das Dunkel und glaubte nun auch zu erkennen, dass Harst in seinem hellen Schlafanzug auf dem Bettrand zusammengeduckt hockte. Dann aber verschwamm mir infolge der Überanstrengung der Sehnerven alles vor den Augen; dann fühlte ich eine Hand, die sich leicht auf meinen Mund legte.

Harst, der nun auf dem Bastteppich vor meinem Bett kniete, flüsterte, mit dem Mund mein rechtes Ohr fast berührend: »Vorsicht! Die Geschichte hier ist nicht geheuer!«

Mir wurde noch heißer. Aber ich blieb regungslos liegen, wartete nun, was Harst weiter tun würde.

Aber ich hörte und sah nichts mehr von ihm, sah nur schräg über mir den weißen Streifen, der das polierte Holz des Dachschachtes in kleinem Umkreis glänzen ließ, hörte nur das Rollen der Räder und das feine Singen des Blutes in meinen Ohren.

Dann von der Tür her ein leises Knarren.

Sollte jemand eindringen wollen? Meine Rechte tastete sogleich unter das Kopfkissen, bekam den Revolver zu fassen.

Wieder wartete ich. Nun nichts Verdächtiges mehr – nichts! Aber gerade diese Stille war schwerer zu ertragen als alles andere. Meine Stirn troff von Schweiß. Ich öffnete das Moskitonetz, fasste mit der Linken hindurch, fühlte, ob Harst noch dicht vor meinem Bett sei. Nichts – nichts!

Ich hielt es so nicht länger aus, kroch mit dem Oberkörper, die Beine auf meinem Lager lassend und mich auf die Hände stützend, halb bis zu Harsts Bett hin und fuhr mit der Rechten über seine Kissen.

Leer – leer! Und vorhin das Geräusch an der Tür. Ich wusste Bescheid. Er hatte sich heimlich aus dem Abteil geschlichen. Aber wohin? Zu welchem Zweck?

»Die Geschichte hier ist nicht geheuer!«, hatte er mir zugeflüstert. Also war er nun wohl auf dem Weg, das, was seinen Verdacht erregt hatte, näher aufzuklären.

Nun, er sollte dabei Gesellschaft haben! Er hatte mir nicht verboten, ihm zu folgen. Ich erhob mich ebenso leise und fand die Schiebetür, die er nur immer in Millimetern ruckweise geöffnet haben konnte, noch handbreit offen.

Im Gang des Schlafwagens brannte eine einzelne Lampe unter Milchglocke etwa vier Meter rechts von mir. In diesem Halbdunkel gewahrte ich sofort jenseits des matten Lichtscheins eine Gestalt: Harst im Schlafanzug! Er stand tief gebückt vor einer Kabinentür und hatte den Kopf an das Holz gelehnt.

Ich glitt die wenigen Schritte schnell entlang, war nun neben ihm. Er wandte nur etwas den Kopf, winkte mit der Hand, richtete sich nach ein paar Minuten auf und zeigte auf eine bestimmte Stelle der Türfüllung links vom Schloss.

Ich beugte mich tiefer, hatte nun ein winziges Loch bemerkt und spähte hindurch.

Vor dem länglichen Tischchen einer sogenannten Luxuskabine saß eine Frau, ein junges Weib in heller Seidenbluse mit kastanienbraunem gescheitelten Haar. Das Profil war von klassischer Schönheit. Die langen Wimpern die starken Brauen und ein Paar etwas zu volle Lippen fielen besonders auf.

Die Frau hatte die Arme auf das Tischchen gestützt und hielt in den Händen … ja … was war es wohl? Was?

Ah, ein Löschblatt mit zersetzten Rändern, ein bekleckstes, schmutziges, rosa Löschblatt von der Größe einer Schreibunterlage!

Die junge Frau starrte auf dieses nichtige Ding hin, als gäbe es darauf sehr Wichtiges zu lesen. Wie eine Statue saß sie da. Zwischen den Wimpern drängten sich nun ein paar Tränen hervor.

Ich begriff nicht, weshalb Harst diese Frau beobachtete. Ich hatte sie noch nie gesehen. Sie wäre mir aufgefallen. Ein Gesicht von solcher Schönheit übersieht man nicht.

Harst schob mich nun beiseite, deutete mit der Hand zu der Ganglampe hin, machte die Bewegung des Ausdrehens.

Ich gehorchte. Die Milchglocke ließ sich herabklappen. Die elektrische Birne darunter brauchte ich nur ein paarmal nach links zu drehen, dann war die Stromleitung unterbrochen. Die glühenden Fäden erloschen.

Ich tappte vorsichtig zu Harst zurück.

Der flüsterte nun: »Der Schaffner schläft vorn im Wagen in seiner Kabine. Er hat Licht brennen. Sobald er sich regt, warne mich.«

Eine volle Stunde stand ich dann dort Posten. Der Schaffner hatte die Tür nur angelehnt und saß auf seiner Bank mit ausgestreckten Beinen und auf die Brust herabhängendem Kopf. Er schnarchte und war ungefährlich.

Dann kam Harst mich holen. Er hatte das Licht im Gang wieder eingeschaltet, raunte mir triumphierend zu: »Ich hab’s!« Er eilte mir voraus in unser Abteil.

Hier klappte er die Stoffhalbkugeln der Lampe hoch, kletterte auf sein Bett, schloss die Luftscheiben ganz fest, setzte sich dann auf seinen Bettrand, fasste in die Jacke seines Schlafanzugs hinein und reichte mir das bekleckste rosa Löschblatt.

Seine Augen waren dabei halb zugekniffen, aber sie funkelten vor Genugtuung. Um seinen Mund spielte ein besonderes Lächeln.

Ich besah mir das Löschblatt ganz genau. Ich hielt es so, dass auch Harst es gleichzeitig betrachten konnte.

Links oben waren die Reste eines länglichen schwarzen Stempelaufdrucks zu erkennen. Ich entzifferte unschwer, das Fehlende ergänzend: Post- und Eisenbahnabteilung. Öffentliches Eigentum!

Im Übrigen war an dem starken Löschblatt nichts Besonderes zu entdecken. Es war ohne Frage eine Schreibunterlage aus dem Schalterraum eines englischen Postamtes.

»Nun?«, fragte Harst.

Ich gab meine Weisheit zum Besten: Schreibunterlage … Postamt.

»Hm!«, meinte Harst. »Etwas wenig bei der Fülle von Auffälligem.«

Ich bin ehrgeizig. Also besichtigte ich das Ding nochmals von beiden Seiten. Leider blieb es nur ein bekleckstes Blatt, auf dem offenbar recht viele Schriftstücke getrocknet worden waren und ihre Tintenspuren zurückgelassen hatten, sodass die Mittelstücke auf beiden Seiten wie große dunkle Flecke aussahen.

Ich gab es Harst achselzuckend zurück. »Ich vermag wirklich nichts zu entdecken …«

»Und doch muss etwas zu entdecken sein!«, flüsterte er. »Ohne Grund wird die Kastanienbraune das Löschblatt kaum wie eine geheimnisvolle Zeichnung studiert haben. Ohne Grund stiehlt Harald Harst keine Löschblätter aus einer Handtasche aus einer verschlossenen Luxuskabine.«

Er bot mir aus seinem Zigarettenetui eine seiner immer spärlicher werdenden Mirakulum-Lieblinge an, hielt mir das Feuerzeug hin und paffte dann mit Wohlbehagen die ersten Rauchwölkchen in die Luft.

»Das Feuer läutert alles«, gab er mit jener liebenswürdigen Überlegenheit von sich, die bei ihm den Verdacht der Wichtigtuerei von vornherein ausschließt. »Ein scharfer Holzbohrer arbeitet, mit Speichel angefeuchtet, lautlos. So entstand das Löchlein in der Kabinentür der Miss Lizabet Doogston. Ein zweites Löchlein genügte, den Riegel mit der Spitze des Bohrers zurückschieben zu können. Sie schlief fest, die kastanienbraune Miss. Sie wird sehr unangenehm überrascht sein, wenn sie bei der Ankunft in Amritsar den Verlust bemerkt.«

»Glaube ich gern!«, sagte ich. »Zunächst aber: Wie bist du denn in aller Welt auf sie aufmerksam geworden?«

»Im Speisewagen, als wir die tadellosen Hammelrippen vom Rost aßen. Sie saß mit dem Rücken nach uns hin am dritten Tischchen, dicht verschleiert …«

»Ah, nun besinne ich mich. Sie kam an uns vorüber, als wir …«

»Ja, und sie hatte eine Handtasche aus Krokodilleder, hatte darin einen Taschenspiegel, den sie scheinbar ohne Absicht so aufbaute, dass sie mit einem Herrn, der durch den Gang getrennt neben uns saß, sich durch bestimmte Zeichen verständigen konnte; sehr raffiniert ausgeklügelte Zeichen beim Essen, so zum Beispiel kleine Schlucke Wein, Heben von Messer und Gabel, Zerknicken von Zahnstochern und so weiter. Es war eine recht eigenartige Telegrafie, aber Telegrafie war es bestimmt und der Herr neben uns …«

»… war groß und breitschulterig, hatte Blatternarben und viele Brillantringe«, vollendete ich. »Ich schätze auf einen Norweger oder Schweden.«

»Ganz recht. Jedenfalls genügte mir das Beobachten, die Kastanienbraune aufs Korn zu nehmen.«

»Augen hast du, Augen!«

»Zum Glück bessere als du, lieber Alter. Sonst würden unsere sterblichen Überreste wohl längst irgendwo …«

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