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Eine Räuberfamilie – Zwanzigtes Kapitel

Emilie Heinrichs
Eine Räuberfamilie
Erzählung der Neuzeit nach wahren Tatsachen
Verlag von A. Sacco Nachfolger, Berlin, 1867
Zwanzigstes Kapitel

Am Sterbebett

Wir verlassen nun das Städtchen Bisaccia, um es nicht wieder zu betreten, und kehren an den Golf von Neapel zurück.

Arabella della Cantonelli lag krank in ihrem Zimmer. Die furchtbaren Ereignisse hatten sie zu stark angegriffen.

Sie hatte den Marchese noch nicht gesehen und verlangte auch nicht nach seinem Anblick. Als jedoch der Arzt ihr von den Gästen erzählte, von der Rückkehr des Signor Leonardi und der bewunderungswürdigen Aufopferung des Bruders, da fühlte sie sich plötzlich stark genug, ihr Lager zu verlassen und Toilette zu machen. Dann ließ sie Signor Leonardi zu sich bitten.

Leonhardt trat ein und schritt langsam auf sie zu. Sein Antlitz zeigte keine Spur von Aufregung oder Befangenheit. Ruhig verbeugte er sich vor ihr und blickte sie dann fragend an. Dieses Betragen setzte die stolze Marchesa, welche ihrer alten Macht über ihn vertraut hatte, in Verlegenheit. Ihm die Hand reichend, sagte sie leise: »Ich heiße Sie von Herzen willkommen, Signor Leonardi! Sie scheinen sich des Wiedersehens nicht sehr zu freuen?«

»Gewiss freut es mich, gnädige Marchesa, Sie einem so furchtbaren Verderben, das Sie schon erfasst hatte, wie durch ein Wunder entrissen zu sehen. Danken Sie Gott auf den Knien für Ihre Rettung, Signorina Marchesa!«

Arabella fühlte sich durch diese Anrede verletzt. In gereiztem Ton erwiderte sie: »Mein freier Wille war allerdings bei jenem Akt gehemmt, ob derselbe mich jedoch ins Verderben gerissen hat, das ist eine Frage, welche Sie nicht bejahen können. Die Familie Rapo in Bisaccia …«

»Ist eine Räuberfamilie! In diesem Augenblick sind sie alle im Gefängnis.«

Arabella stieß einen Schrei aus und verbarg ihr Antlitz in die Kissen des Sofas. Dieser Schlag war zu hart, ihr Stolz, ihre Zukunft lag zertrümmert vor ihren entsetzten Blicken.

Eine Minute schaute Leonhardt auf sie hin. Hatte diese Frau, welche die Natur so schön geschaffen hat, gar kein Herz? Noch war sie seit ihrer Heimkehr nicht an das Krankenbett des Oheims getreten, dessen gefährlichen Zustand sie doch kannte. Leonhardt seufzte und sagte dann laut: »Signorina Marchesa, wünschen Sie nicht, den kranken Oheim zu sehen?«

Sie machte eine verneinende Bewegung und Leonhardt verließ das Zimmer. Sie hätte es verdient, dem Räuber angetraut zu werden.

Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, erhob sie sich. Jede Schwäche schien verschwunden zu sein. Ihre Augen funkelten wild, die Hände ballten sich vor innerer Aufregung.

»Räuberbraut!«, flüsterte sie, »und er ist hier, er und sein Bruder, des Oheims Lieblinge, den sie zu beerben hoffen. Ha!«

Sie blickte starr vor sich hin, dann gedachte sie des kostbaren Kästchens, welches sich noch in den Händen der Räuber befand, dessen Inhalt die Dokumente ihres ganzen Vermögens ausmachten. Noch einige Minuten sann sie nach, dann verriegelte sie die Tür, warf einen dunkelfarbigen Mantel über, dessen Kapuze sie über den Kopf zog, und verließ durch ein Hinterpförtchen, welches mit ihren Zimmern in Verbindung stand, den Palast, um sich zum General Pallavicini zu begeben.

Dieser empfing sie als eine alte Bekannte und war nicht wenig überrascht, sie allein und in solcher Vermummung bei sich zu sehen.

»Haben Sie Neuigkeiten aus Bisaccia, Herr General?«, fragte sie mit stockendem Atem.

»Die Schönsten von der Welt, meine Gnädigste! Soeben empfange ich eine Depesche von dort: Ein Brigantennest inmitten der Stadt ist glücklich ausgenommen. Die angesehenste Familie der Stadt, mit Namen Rapo …«

»Heilige Mutter Gottes! So sprach er die Wahrheit«, rief Arabella wankend, »General, helfen Sie mir, das Vermögen meines Oheims zu retten. Ich bin auf dem Weg nach Avellino ausgeplündert worden. Einer dieser Rapos wird ein Kästchen mit Wertpapieren und Dokumenten, auf den Namen meines Oheims lautend, an sich gebracht haben. Sie wissen, dass ich auf Anraten unseres Arztes meinen Oheim nach Avellino in eine Heilanstalt bringen wollte …«

»Und handelten so leichtsinnig, verzeihen Sie den harten Ausdruck, Signorina, ohne Bedeckung in jene unsichere Gegend zu reisen. Sie haben die Folgen schwer tragen müssen, und ich begreife noch zur Stunde nicht, welchem Zufall Sie Ihre Befreiung verdanken.«

Arabella hütete sich, Pasquale Rapo zu nennen, da der General offenbar von diesem neuen Bekannten nichts wusste. Es war ihr darum zu tun, dieses unselige Abenteuer so geheim wie möglich zu halten.

»Dann noch eins, mein lieber General«, sagte sie leise, »ich habe noch eine für mich recht unangenehme Pflicht zu erfüllen. Sie kennen das Schicksal meines unglücklichen Oheims?«

»Leider ja, dieser plötzliche Wahnsinn ist mir unerklärlich, und nun der Dolchstoß des Banditen dazu, armer Freund!«

»Ich habe diese fürchterliche Periode langsam herannahen sehen«, fuhr die Marchesa mit verstellter Traurigkeit fort, »jene wunderliche Liebe zu dem Deutschen, an welchem er irgendeine Ähnlichkeit entdeckt hatte, musste in ihrem Verlauf zum Wahnsinn führen, besonders, seitdem Signor Leonardi …«

»Ah, den kenne ich seit heute Morgen«, unterbrach sie der General lebhaft, »ein schöner, intelligenter Mann.«

»Ja, sehr intelligent«, sprach Arabella finster lächelnd, »man könnte ihn wohl eher schlau nennen. Er hat meinen armen Oheim in einer geheimen Unterredung wahnsinnig gemacht, indem er sich für seinen Sohn ausgab.«

»Rätselhafte Dinge«, sprach der General kopfschüttelnd.

»Seit jener Stunde schrie der Marchese fortwährend nach seinem Sohn, der mittlerweile einen wochenlangen Ausflug gemacht und wahrscheinlich an seine Familie nach Deutschland zur Unterstützung seiner Pläne geschrieben hatte, denn eines Tages kamen Vater und Bruder hier an. Nun haben sich alle bei uns einquartiert, als wären sie die Besitzer des Palastes Cantonelli, und lassen mich nicht eine Minute allein mit meinem kranken Oheim. Es ist klar, dass diese Menschen es auf mein Erbe abgesehen haben und sich in einem lichten Moment des Kranken ein günstiges Testament erschleichen wollen.«

»Ei, das wären ja verbrecherische Absichten, meine teure Signorina Marchesa!«, rief der General erstaunt. »Gehen Sie ruhig nach Hause, ich werde mich morgen früh bei Ihnen einfinden, um dort reines Haus zu machen.«

Arabella empfahl sich und erreichte unbemerkt ihr Zimmer wieder. Es wurde Mitternacht, sie wachte noch unruhig, die Räubergeschichte von Bisaccia wollte nicht aus ihrer Erinnerung weichen. Wer hatte ihr den Retter gesandt? War der Kammerdiener aus eigenem Antrieb gekommen oder war es Leonardis Werk? Die Pulse hämmerten ihr in den Schläfen, alles Blut strömte mächtig zum Herzen. Hätte sie ihn dafür vielleicht zum Dank verdächtigt? Und Pasquale Rapo? Jetzt war ihr die leichte Errettung aus Räuberhänden erklärlich. Da klopfte es leise, sie horchte.

»Signorina Marchesa!«, tönte die Stimme ihrer Zofe, »der Herr Marchese verlangt nach Ihnen, er läge im Sterben!«

Arabella stieß einen leisen Schrei aus und eilte in das Zimmer des Oheims, in dem sie verschiedene Personen antraf. Sie warf einen forschenden Blick umher. Was wollten diese fremden Menschen hier? Auf diesen Kranken hatte sie allein ein Anrecht, und sie war die Herrin in diesem Palast. Ihr Stolz fühlte sich empört und in der Mitte des Zimmers stehen bleibend, sagte sie mit schneidender Stimme zu dem Kammerdiener: »Wer sind diese Fremden? Mit welchem Recht drängen sie sich in dieses Sterbezimmer? Ich wünsche mit meinem Oheim allein zu sein.«

»Arabella!«, tönte es leise, wie eine Geisterstimme vom Bett des Kranken her.

War das der Oheim? Hatte er das Licht der Vernunft in der letzten Stunde wieder erhalten? Arabella schritt wankend auf das Bett zu. Es war ihr, als ob sie selber in das Grab hinabsteigen solle.

»Madonna sei gepriesen, ich sehe dich vor meinem Ende noch einmal, mein geliebtes Kind!«, sprach der Sterbende, ihr mit Anstrengung die hagere Hand entgegen streckend, »knie nieder, Arabella, und empfange meinen Segen!«

Die Marchesa schauerte zusammen und kniete nieder, worauf der Greis seine Hand auf ihr Haupt legte und leise fortfuhr: »Nacht war in mir, das Leben war schon tot für mich. Gott war mir gnädig, er sandte mir das Licht noch einmal zurück und den Versöhnungsengel, dessen letztes Friedenswort mich hinaustragen soll in die Räume der Seligkeit. Kommt beide her, gegen die ich schwer gesündigt im Leben. Sieh, meine Tochter, vor wenigen Minuten erwachte ich und erblickte jene beiden, welche der gnädige Gott mir gesandt hatte, um mein Ende zu erleichtern. Ihre Vergebung wird schwer wiegen in der Schale göttlicher Gnade!«

Er schwieg und blickte mit einem verklärten Lächeln auf Waldau und Leonhardt, welche Hand in Hand hinter Arabella getreten waren.

Und daneben tauchte das bleiche Antlitz der noch sehr schwachen Agnes auf, deren tränenumflortes Auge auf dem Sterbenden ruhte.

»Lebt wohl«, fuhr dieser mit noch leiserer, kaum verständlicher Stimme fort. »Gott segne Euch und auch dich, du treuer Retter meines Lebens, Fidelio! Sinnbild deutscher Liebe und Treue! Wie gern hätte ich dich vereint mit Leonardi, meine Arabella! … Nicht wahr, du liebst ihn?«

»Nein, nein«, fuhr sie heftig empor.

Der Sterbende stöhnte und schloss die Augen. »So liebst du jenen Mann aus Bisaccia?«, fuhr er mit Anstrengung fort.

»Fluch über ihn!«, schrie Arabella, »er war ein Räuber!«

»Verlasse sie nicht … mein Sohn … sie … ist … wahnsinnig«, stöhnte der Greis, sich gewaltsam erhebend, dann sank er zurück und war tot.

»Wahnsinnig!«, schrie Arabella, sich erhebend und einen wilden Blick umherwerfend, »ja, du hast mich wahnsinnig gemacht, elender Tedesco! Weg mit Euch, Ihr wollt uns alle wahnsinnig machen. Ihr führt das Tollkraut mit Euch, weg, sage ich, von diesem Toten, den Ihr bestehlen wollt. Ich bin Herrin hier, elender Bastard!«

»Gott verzeihe Ihnen dieses Wort, Signorina«, sagte Waldau ernst. »Hätte Leonhardt Sie nicht gerettet, dann gehörten Sie jetzt einer Räuberfamilie an. Wir verlassen noch in dieser Stunde einen Ort, welcher keine glücklichen Erinnerungen für uns enthält, um nach Deutschland zurückzukehren. Tun Sie Abbitte zu Füßen des Toten, Signorina, er war sein Vater, dem der Sohn Frieden und Versöhnung gebracht hat. Er konnte der Erbe des Palastes Cantonelli sein, er hat es ausgeschlagen, um den Namen Waldau bis an seinen Tod zu führen.«

Er ergriff die Hände seiner Kinder und verließ mit ihnen das unheimliche Totenzimmer, um zu seinem Hotel zurückzukehren.

Die Marchesa tat einen Schritt zur Tür, als wolle sie die sich Entfernenden zurückhalten, doch blieb sie, stolz den Kopf schüttelnd, wieder stehen. Dann jedoch, noch einen scheuen Blick auf den Toten werfend, der sie vorwurfsvoll anzustarren schien, floh sie, von Angst gejagt, in ihr Zimmer. Der alte Kammerdiener aber drückte seinem Herrn die Augen zu und weinte bitterlich. Er war der Einzige gewesen, welcher ihn treu geliebt.

Am nächsten Morgen kam General Pallavicini, seinem Wort getreu, in den Palast, um die fremden Erbschleicher zu verjagen. Er fand ein Trauerhaus. Die Marchesa hatte schon früh am Morgen, tief verschleiert, den Palast verlassen; wohin, wusste niemand zu sagen. Als der Kammerdiener dem General auf seine Frage das Nähere über die Fremden, wie deren Aufopferung mitteilte, und von der Marchesa und ihren Beziehungen zu der Familie Rapo erzählte, da verließ er kopfschüttelnd den Palast.

Sein erstes Geschäft war nun, dem früheren Briganten Marco Amnestie zu verschaffen und tausend Scudi als Belohnung des Staats einzuhändigen, womit derselbe Neapel verließ und nach Florenz zog. Es war ihm nicht geheuer in dem herrlichen Neapel, war doch das Brigantentum noch nicht ausgerottet, und wurde vielleicht in diesem Augenblick schon der Dolch geschliffen, welcher ihm den Gnadenstoß zu geben bestimmt war.

Bevor wir Neapel verlassen, wollen wir noch des Schicksals derer gedenken, welche ihr verbrecherisches Treiben durch den Arm der irdischen Gerechtigkeit so plötzlich beschlossen sahen.

Im Juni 1865 konnte die Untersuchung erst geschlossen werden, und die Gefangenen vor dem Assisenhof in Neapel ihr Urteil empfangen. Die Räuber wurden teils erschossen, teils zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt; die Männer der Familie Rapo mussten ihre Verbrechen durch zwanzigjährige, die Frauen durch fünfzehn- und zehnjährige Galeerenstrafe büßen.

Die ganze Bevölkerung von Bisaccia geriet darüber in die freudigste Aufregung, nur Cecci und Filippo fanden ein solches Urteil zu hart und klagten über den Verfall aller Geschäfte.

Und Signorina Marchesa della Cantonelli? Sie hatte sich an jenem Morgen in ein Kloster begeben und dort gebeichtet, worauf man sie so lange ins Gebet nahm, bis sie sich entschlossen hatte, den Freuden der Welt zu entsagen und den Schleier zu nehmen.

Das reiche Erbe dieser neuen Braut Christi kam dem Kloster zugute, obwohl das Kästchen mit den Wertpapieren, welches Pasquale Rapo an sich genommen, nicht wieder entdeckt worden ist.

Wahrscheinlich hatte der schlaue Student dasselbe noch im letzten Augenblick in irgendein sicheres Versteck bringen können, um es sich, falls ein Zufall ihm vielleicht die Freiheit verschaffen sollte, zu sichern.

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