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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – Kapitel VI

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Erstes bis drittes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

VI. D’Artagnan mit vierzig Jahren

Ach! Seit der Zeit, wo wir in unserem Roman Die drei Musketiere D’Artagnan in der Rue des Fossoyeurs Nr. 12 verließen, waren viele Dinge und besonders viele Jahre vorübergegangen.

D’Artagnan hatte sich nicht gegen die Umstände verfehlt, wohl aber verfehlten sich die Umstände gegen D’Artagnan. Solange seine Freunde ihn umgaben, war D’Artagnan in seiner Jugend und in seiner Poesie geblieben. Er war eine von den feinen und geistreichen Naturen, welche sich leicht mit den Eigenschaften anderer in Einklang setzten. Athos gab ihm von seiner Größe, Porthos von seinem Feuer, Aramis von seiner Eleganz. Hätte D’Artagnan fortwährend mit diesen drei Männern gelebt, so wäre er ein erhabener Mensch geworden. Athos verließ ihn zuerst, um sich auf ein kleines Landgut zurückzuziehen, das er in der Gegend von Blois geerbt hatte; sodann Porthos, um seine Prokuratorin zu heiraten; und endlich Aramis, um wirklich in den geistlichen Stand einzutreten und sich zum Abbé machen zu lassen. Von diesem Augenblick an fand sich D’Artagnan, der seine Zukunft mit der dieser drei Freunde vermischt zu haben schien, vereinzelt und schwach, ohne den Mut, eine Laufbahn zu verfolgen, auf der er, wie er fühlte, nur unter der Bedingung etwas werden konnte, dass ihm jeder von seinen drei Freunden, wenn man so sagen darf, einen Teil des elektrischen Fluidums, das er vom Himmel erhalten hatte, abtreten würde.

Obwohl Leutnant der Musketiere geworden, sah sich D’Artagnan darum nicht minder vereinzelt. Er war nicht von hinreichend hoher Geburt wie Athos, dass sich die großen Häuser vor ihm geöffnet hätten. Er war nicht eitel genug wie Porthos, um glauben zu machen, er sehe die vornehme Gesellschaft. Er war nicht Edelmann genug wie Aramis, um sich die Elemente hierzu aus sich selbst ziehend, in seiner natürlichen Eleganz zu erhalten. Eine Zeit lang hatte die reizende Erinnerung an Madame Bonacieux dem Geist des jungen Leutnants das Gepräge einer gewissen Poesie verliehen; aber wie die Erinnerung an alle Dinge dieser Welt vergänglich ist, so verwischte sich auch diese allmählich. Das Garnisonsleben ist sehr nachteilig, selbst für aristokratische Organisationen. Von den zwei entgegengesetzten Naturen, welche die Individualität von d’Artagnan bildeten, trug die materielle Natur endlich den Sieg davon, und ganz sachte war D’Artagnan, stets in Garnison, stets im Lager, stets zu Pferde, das geworden, was man gegenwärtig (ich weiß nicht, wie man es zu jener Zeit nannte), einen wahren Kavalleristen nennt.

Darum hatte d’Artagnan nicht gerade seine ursprüngliche Feinheit verloren, nein, durchaus nicht. Diese Feinheit hatte sich im Gegenteil vielleicht noch vermehrt oder erschien wenigstens doppelt merkwürdig unter einer etwas plumpen Hülle; aber er hatte diese Feinheit auf die kleinen und nicht auf die großen Dinge des Lebens angewendet, auf den materiellen Wohlstand, was die Soldaten darunter verstehen, d. h. auf den Besitz eines guten Lagers, einer guten Tafel, einer guten Wirtin.

Und D’Artagnan hatte all dies seit sechs Jahren in der Rue Tiquetonne unter dem Schild der Rehziege gefunden.

In der ersten Zeit seines Aufenthalts in diesem Gasthof verliebte sich die Wirtin, eine schöne, frische Flamänderin von fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahren, sterblich in ihn. Nach einigen Liebschaften, welche sehr durch einen unbequemen Gatten durchkreuzt wurden, dem D’Artagnan zehnmal zum Schein gedroht hatte, er werde ihm seinen Degen durch den Leib rennen, war dieser Gatte an einem schönen Morgen verschwunden, um für immer zu desertieren, nachdem er heimlicherweise einige Fässer Wein verkauft und das Geld und die Juwelen mitgenommen hatte. Man hielt ihn für tot, seine Frau besonders, die sich mit dem süßen Gedanken des Witwenstandes schmeichelte, behauptete keck, er wäre hinübergegangen. Endlich nach drei Jahren einer Verbindung, welche D’Artagnan zu brechen sich wohl hütete, denn er fand jedes Jahr seine Geliebte und sein Lager angenehmer als zuvor, hatte die Herrin des Hauses die auffallende Anmaßung, wieder in den Ehestand treten zu wollen und machte D’Artagnan den Antrag, sie zu heiraten.

»Ah, pfui!«, antwortete D’Artagnan, »Doppelehe, meine Liebe! Still, Ihr denkt nicht daran.«

»Aber er ist tot, ich bin fest davon überzeugt.«

»Es war ein ärgerlicher Schuft und er würde sicherlich zurückkommen, um uns hängen zu lassen.«

»Nun wohl, wenn er zurückkommt, so tötet Ihr ihn. Ihr seid so mutig und so geschickt!«

»Pest, mein Kätzchen, das ist ein zweites Mittel, um gehängt zu werden.«

»Also Ihr weist meine Bitte zurück?«

»Allerdings, ganz und gar.«

Die schöne Wirtin war in Verzweiflung. Sie hätte gerne aus Monsieur D’Artagnan nicht nur ihren Gatten, sondern auch ihren Gott gemacht. Er war ein so schöner Mann und ein so stolzer Schnurrbart!

Gegen das vierte Jahr dieser Verbindung kam die Expedition nach Franche-Comté! D’Artagnan wurde zur Teilnahme bezeichnet und schickte sich an, aufzumarschieren. Da gab es große Schmerzen, Tränen ohne Ende, feierliche Versprechungen, treu zu bleiben: Alles vonseiten der Wirtin, wohlverstanden. D’Artagnan war zu sehr vornehmer Mann, um etwas zu geloben. Auch versprach er nur, zu tun, was in seinen Kräften läge, um den Ruhm seines Namens zu erhöhen.

In dieser Hinsicht kennt man den Mut von d’Artagnan. Er bezahlte auf eine bewunderungswürdige Weise mit seiner Person. Und als er an der Spitze seiner Kompanie angriff, erhielt er eine Kugel durch die Brust, die ihn auf das Schlachtfeld niederstreckte. Man sah ihn vom Pferd fallen, man sah, dass er sich nicht wieder erhob, man hielt ihn für tot, und alle diejenigen, welche Hoffnung hatten, ihm in seinem Grade zu folgen, sagten auf gut Glück, er wäre es. Man glaubt gern an das, was man wünscht, denn von den Divisionsgeneralen, welche den Tod des Obergenerals wünschten, bis zu den Soldaten, die den Tod der Korporale wünschen, wünscht in der Armee jedermann den Tod von irgendjemand.

Aber D’Artagnan war nicht der Mann, der sich nur so töten ließ. Nachdem er während der Tageshitze ohnmächtig auf dem Schlachtfeld liegen geblieben war, bewirkte die Kühle der Nacht, dass er wieder zu sich kam. Er erreichte ein Dorf, klopfte an die Tür des schönsten Hauses und wurde aufgenommen, wie überall und immer die Franzosen aufgenommen werden, wenn sie verwundet sind. Man verband, pflegte und heilte ihn. Sich besser befindend als je, schlug er an einem schönen Morgen den Weg nach Frankreich ein, einmal in Frankreich, die Straße nach Paris, und einmal in Paris die Richtung der Rue Tiquetonne.

Aber d’Artagnan fand sein Zimmer von einem vollständigen Männerkleiderständer besetzt, abgesehen von einem Degen, der an der Wand befestigt war.

Er wird zurückgekommen sein, dachte er, desto schlimmer und desto besser.

Es versteht sich, D’Artagnan dachte immer an den Gatten.

Er erkundigte sich: Neue Kellner, neue Magd, die Herrin den Hauses war auf die Promenade gegangen.

»Allein?«, fragte d’Artagnan.

»Mit dem Monsieur.«

»Der Monsieur ist also zurückgekehrt?«

»Allerdings«, antwortete naiv die Magd.

»Wenn ich Geld hätte«, sprach d’Artagnan zu sich selbst, »so würde ich gehen, aber ich habe keines. Ich muss bleiben und bei Durchkreuzung der ehelichen Pläne dieses ungelegenen Gastes den Rat mein Wirtin befolgen.«

Er vollendete eben diesen Monolog, was zum Beweis dient, dass unter großartigen Umständen nichts natürlicher ist als der Monolog.

Da rief plötzlich die Magd, welche an der Tür lungerte: »Ah! Sieh da, hier kommt gerade Madame mit dem Monsieur.«

D’Artagnan warf einen Blick weit in die Straße hinaus und sah wirklich an der Biegung der Rue Montmartre die Wirtin, welche, am Arm eines ungeheuren Schweizers hängend, zurückkehrte. Der Schweizer wiegte sich im Gehen mit einer Miene, welche Porthos auf eine angenehme Weise seinem Freunde in das Gedächtnis zurückrief.

»Das ist der Monsieur?«, sprach d’Artagnan zu sich selbst. »Oh! Oh! Er ist gewaltig gewachsen, wie es mir scheint.«

Und er setzte sich in dem Saal an eine Stelle, wo er völlig sichtbar war.

Die Wirtin bemerkte D’Artagnan bei ihrem Eintritt sogleich und stieß einen kurzen Schrei aus.

Bei diesem Schrei stand D’Artagnan, der sich für erkannt hielt, rasch auf, lief auf sie zu und umarmte sie zärtlich.

Der Schweizer schaute mit einer erstaunten Miene die Wirtin an, welche ganz bleich blieb.

»Ah, Ihr seid es, Monsieur! Was wollt Ihr von mir?«, fragte sie in der größten Unruhe.«

»Der Monsieur ist Euer Vetter? Der Monsieur ist Euer Bruder?« sprach d’Artagnan, ohne sich im Geringsten aus der Rolle bringen zu lassen, die er spielte. Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, warf er sich in die Arme des Helvetiers, der ihn mit großer Kälte gewähren ließ.

»Wer ist dieser Mensch?«, fragte dieser.

Die Wirtin antwortete nur mit krampfhaften Zuckungen.

»Wer ist dieser Schweizer?«, fragte D’Artagnan.

»Der Monsieur will mich heiraten«, antwortete die Wirtin zwischen zwei Krämpfen.

»Euer Gatte ist also endlich gestorben?«

»Was geht das Euch an?«, entgegnete der Schweizer.

»Es geht mich viel an«, sprach d’Artagnan, »insofern Ihr diese Frau ohne meine Einwilligung nicht heiraten könnt, und insofern …«

»Und insofern?«, fragte der Schweizer.

»Und insofern ich sie nicht gebe«, antwortete der Musketier.

Der Schweizer wurde purpurrot wie eine Gichtrose. Er trug seine schöne, mit Gold besetzte Uniform. D’Artagnan war in eine Art von grauem Mantel gehüllt. Der Schweizer maß sechs Fuß; d’Artagnan kaum über fünf. Der Schweizer glaubte sich zu Hause; d’Artagnan erschien ihm als ein Eindringling.

»Wollt Ihr Euch wohl von hier entfernen?«, sagte der Schweizer und stampfte heftig mit dem Fuß, wie ein Mensch, der im Ernst zornig zu werden anfängt.

»Ich? Keineswegs«, sagte d’Artagnan.

»Aber man braucht nur Wache herbeizuholen!«, rief ein Kellner, der nicht begreifen konnte, wie es dieser kleine Mensch wagte, dem so großen Mann den Platz streitig zu machen.

»Du«, sagte D’Artagnan, den der Zorn ebenfalls an den Haaren zu fassen anfing, indem er den Kellner beim Ohr nahm. »Du bleibst auf dieser Stelle oder ich reiße dir aus, was ich in der Hand halte. Ihr aber, erhobener Abkömmling von Wilhelm Tell, Ihr macht einen Pack aus Euren Kleidern, die in meinem Zimmer sind und mich belästigen, und sucht Euch schleunigst eine andere Herberge auf.«

Der Schweizer brach in ein schallendes Gelächter aus. »Ich, gehen!«, sagte er, »und warum?«

»Ah, das ist gut«, erwiderte d’Artagnan, »ich sehe, dass Ihr das Französische versteht. Dann macht einen Gang mit mir, und ich werde Euch das Übrige erklären.«

Die Wirtin, welche d’Artagnan als eine feine Klinge kannte, fing an zu weinen und sich die Haare auszuraufen.

D’Artagnan wandte sich nach der Seite der schönen Tränenreichen um und sagte: »So schickt ihn fort, Madame.«

»Bah!«, versetzte der Schweizer, der einer gewissen Zeit bedurft hatte, um sich Rechenschaft vom Vorschlag d’Artagnan‘s zu geben. »Bah! Ihr seid ein Narr, dass Ihr mir zumutet, einen Gang mit Euch zu machen.«

»Ich bin Leutnant bei den Musketieren Seiner Majestät«, sprach d’Artagnan, »und stehe folglich in jeder Beziehung über Euch. Nur handelt es sich hier nicht um den Grad, sondern um Einquartierungsbillets, und Ihr kennt den Gebrauch. Holt das Eure, und wer zuerst zurück ist, nimmt sein Zimmer wieder hier ein.«

D’Artagnan führte den Schweizer fort, trotz der Wehklagen der Wirtin, die ihr Herz wieder zu ihrer alten Liebe sich hinneigen fühlte, aber nicht ungern dem stolzen Musketier eine Lektion gegeben haben würde, der ihr die Schmach angetan hatte, ihre Hand auszuschlagen.

Die zwei Gegner gingen geradewegs zu den Fossés Montmartre. Es war Nacht, als sie dieselben erreichten. D’Artagnan bat den Schweizer höflich, ihm das Zimmer abzutreten und nicht mehr zurückzukommen.

Dieser weigerte sich mit einem Zeichen des Kopfes und zog seinen Degen.

»Dann werdet Ihr hier ruhen«, sprach d’Artagnan. »Es ist eine hässliche Lagerstätte, aber das ist nicht mein Fehler, denn Ihr habt es so gewollt.«

Bei diesen Worten zog er ebenfalls vom Leder und kreuzte den Degen mit seinem Gegner.

Er hatte es mit einer rauen Faust zu tun, aber seine Geschmeidigkeit war über jede Kraft erhaben. Der Stoßdegen des Schweizers fand nie den des Musketiers. Der Schweizer erhielt zwei Degenstiche und nahm es anfangs nicht wahr. Plötzlich aber nötigten ihn der Blutverlust und die Schwäche, welche dieser zur Folge hatte, sich zu setzen.

»Seht!«, sprach D’Artagnan, »habe ich es Euch nicht vorher gesagt? Ihr seid nun weit vorgerückt, Ihr halsstarriger Mensch. Zum Glück habt Ihr nur für vierzehn Tage. Bleibt hier und ich werde Euch Eure Kleider durch den Aufwärter schicken. Auf Wiedersehen! Doch, halt! Quartiert Euch in der Rue Montorgueil in der spielenden Katze ein. Ihr bekommt dort vortreffliche Kost, wenn es immer noch dieselbe Wirtin ist. Adieu!«

Und danach kehrte er ganz heiter in die Wohnung zurück und schickte wirklich die Kleider dem Schweizer, welchen der Aufwärter auf demselben Platze sitzend, wo ihn d’Artagnan gelassen hatte und noch ganz verblüfft über das kecke Benehmen seines Gegners fand.

Der Aufwärter, die Wirtin und das ganze Haus legten gegen d’Artagnan die Achtung an den Tag, die man Herkules zollen würde, wenn er auf die Erde zurückkäme, um seine zwölf Arbeiten wieder zu beginnen.

Als er aber mit der Wirtin allein war, sagte er: »Nun schöne Madeleine, Ihr wisst, welcher Unterschied zwischen einem Schweizer und einem Edelmann stattfindet. Ihr aber habt Euch wie eine Schankwirtin benommen. Desto schlimmer für Euch, denn unter diesen Umständen verliert Ihr meine Achtung und meine Kundschaft. Ich habe den Schweizer fortgejagt, um Euch zu demütigen, aber ich werde nicht hier wohnen. Ich nehme mein Lager nicht da, wo ich verachte. Holla! Aufwärter! Man bringe mein Felleisen in die Liebestonne, Rue des Bourdonnais. Gott befohlen, Madame!«

D’Artagnan war, wie es scheint, während er diese Worte sprach, zugleich majestätisch und rührend. Die Wirtin warf sich ihm zu Füßen, bat ihn um Verzeihung und hielt ihn mit süßer Gewalt zurück. Was soll ich noch mehr sagen? Der Bratspieß drehte sich, der Ofen summte, die schöne Madeleine weinte. D’Artagnan fühlte, wie sich Hunger, Kälte und Liebe zu gleicher Zeit wieder in ihm regten. Er vergab, und nachdem er vergeben hatte, blieb er. So kam es, dass d’Artagnan in der Rue Tiquetonne, in der Herberge Zur Rehziege wohnte.

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