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Schauernovellen 4 – Das erlösende Gebet

Ferdinand Kleophas
Schauernovellen Band 2
Verlag Franz Peter, Leipzig 1843

Das erlösende Gebet

Wenn ich lebe, will ich für dich beten:
Das sind seine letzten Worte:
Aber ach! Ich höre ihn nimmer beten,
Ob ich auch mit Sehnsucht darauf warte.

Ich heiße Raoul Beaugenin. Als Mönch führe ich jetzt den Namen Pater Bertha und bin der legitime Sohn Bartholomäus von Beaugenin, Vasallen und Stallmeisters des hohen und mächtigen Herren Enguerrand von Marigny, Schatzmeister des Königs von Frankreich. Meine teure, hochverehrte Mutter Anna Margaretha Bonvouloir, aus der alten Familie der Bonvouloir, erzog mich in der Scheu vor der Sünde und in der Liebe zu Gott bis zum sechszehnten Jahr.

Nachdem ich eines Abends die Gebete meines Rosenkranzes gesprochen hatte, ging ich ihren Segen auf den Knien zu erbitten. Sie fing an, bitter zu weinen und drückte mich lange an ihren klopfenden Busen. Endlich sagte sie mir unter vielen Seufzern und Klagen, dass Herr Enguerrand, aus Liebe zu meinem Vater, mich als Page zu seinem Herren Bruder Philipp von Marigny, Bischoff von Cambrai schickte.

»Das ist«, sagte sie, »ein verehrungswürdiger Prälat, und du wirst bei ihm Erbauung und gutes Beispiel finden. Also«, fügte sie mit neuen Tränen hinzu, »halte dich bereit, teures Kind, halte dich bereit, morgen, nachdem du eine Messe zu Ehren des Patrons aller Reisenden gehört hast, abzureisen unter der Leitung Herrn Jacob Marlys, vom Kapitel unserer lieben Frauen. Dieser würdige Priester ist an unseren Oberherren vom Bischoff von Cambrai abgesendet worden und kehrt zurück, nachdem er zur Zufriedenheit eines jeden sehr wichtige Angelegenheiten beendet hat.«

Ich weinte auch; denn der Anblick der Traurigkeit meiner Mutter hatte mich betrübt. Aber eine kindische Freude brachte mir bald Trost. Nichtsdestoweniger konnte ich Schlaf finden und wendete mich hundertmal auf meinem Lager. Ich war närrisch vor Freude und dachte nur an das Vergnügen, eine so weite Tour auf einem hübschen Gaul zu machen.

Auch war ich der Erste auf den Beinen, als die Stunde der Messe schlug, die zu meinem Besten gelesen wurde. Hiernach gewahrte ich wohl, dass ich nicht der Einzige war, der die Nacht ohne Schlaf zugebracht hatte, denn nie sah ich eine bleichere und leidendere Frau, wie meine Mutter damals. Ohne ein Wort zu sprechen, so gepresst war ihr Herz, hing sie mir eine schöne, goldene Kette um den Hals, in welcher sich ein Stück von dem wahren Kreuz Christi befand. Dann umstrickte sie mich mit ihren zitternden Armen, und plötzlich sank ihr Kopf auf meine Schulter; sie lag in Ohnmacht. Mein Vater endlich, welcher sich fest und standhaft zu zeigen suchte, obwohl ungeachtet seiner Bemühung große Tränentropfen von seinen Wangen über seinen Bart rollten, empfahl mir mit bewegter Stimme, ein guter Christ zu sein, ergeben der Heiligen Jungfrau und treu meinem neuen Herren. Nachdem gab er mir seinen Segen und musste mich aus den Armen meiner Mutter fast gewaltsam losreißen. Ich reiste in einer unnennbaren Traurigkeit und Kümmernis ab. Ach! Ein anderer stechender Schmerz würde meine Brust erfüllt haben, wenn ich die kommenden Ereignisse hätte voraussehen können. Wenn ich gewusst hätte, dass mein Vater für die Verteidigung seines Herrn, Herrn Enguerrands sterben, wenn man mir gesagt hätte, dass meine Mutter ihm vor Kummer bald folgen würde.

Nach einem Monat abwechselnder Reise, während welcher uns die Begleitung von zwölf Gewaffneten des Königs, die vor und hinter dem Wagen Jacob Marlys ritten, wohl zustattenkam, gelangten wir in das bischöfliche Schloss, den 11. Mai im Jahr 1312 des Heiles der Welt.

Monseigneur Philipp war ein frommer, friedliebender Prälat, der bedacht war, den Frieden zwischen den Stiftsherren und den Bürgern der Stadt wiederherzustellen, was in Wahrheit keine leichte Sache war. Denn die Leute von Cambrai, stolz und eifersüchtig auf ihre Freiheiten, verschworen sich jeden Augenblick unter dem Vorwand, sie zu verteidigen. Und die Stiftsherren ihrerseits, welche neidisch auf die Freiheiten sahen, hörten nicht auf, die Rechte und Privilegien anzugreifen.

Während man so in der Stadt Zwietracht und Streitigkeiten herrschen sah, hatten sich Friede und Glück in das bischöfliche Schloss geflüchtet. Wie hätten sie nicht dahin gezogen werden sollen durch den Engel der Güte und Schönheit, durch die schöne und fromme Bertha von Marigny, die jüngere Schwester des Prälaten? Ein ungeschliffener, roher brutaler Mensch hätte sich ergriffen gefühlt von Huldigung und Verehrung bei dem Anblick ihres holden Lächelns, ihres träumerischen Blickes. Wäre er härter gewesen von Sinn und Herz, als der Feind der Menschen, wäre er des himmlischen Lichtes beraubt gewesen, er hätte sich den süßen Worten ihrer sanften Stimme ergeben müssen.

Ich, als ich sie sah, blieb stehen, ohne zu atmen, wie geblendet von einer so wunderbaren Schönheit. Acht Tage darauf gelobte ich der Heiligen Jungfrau nie eine andere Frau zu lieben. Doch wusste ich nur zu gut, dass mir nie vergönnt sein würde, meine Achtung, Liebe und Zärtlichkeit zu gestehen, und noch weniger daran denken durfte, sie vergolten zu sehen.

So verflossen mir schnell drei Jahre in einer Art traurigen, unbeschreiblichen Glückes, denn Fräulein Bertha wollte mir wohl. Sie lobte gern meinen Eifer, sie stellte mich zuweilen den anderen Pagen als Muster auf, war aber weit entfernt, den Grund meines treuen Eifers zu vermuten. Nichtsdestoweniger machte mich ein wohlwollendes Wort aus ihrem Mund, als schöner Page oder treuer Diener, von einem Schauer erbeben, den ich nicht ausdrücken kann, und verursachte mir sowohl Freude als auch Schmerz. Ich fand mich oft, wie ich es laut wiederholte. Während ich betete, machte es mir oft eine sündhafte Zerstreuung. Ach! Heute, wo ich ein Greis von 91 Jahren bin, verursacht mir diese Erinnerung noch eine große Unruhe und lockt die Tränen aus meinen trockenen Augen.

Zur Zeit des Bischoffs Guido von Collemedo hatte sich zwischen ihm und Robert, Grafen von Artois, ein sehr ernster Streit über die Gerichtsbarkeit erhoben, welche sich die Beamten der Grafschaft über Dörfer anmaßten, welche zwischen Cambrai und Arras lagen.

Allmählich überzeugt von der Ungerechtigkeit seiner Ansprüche hatte der Graf von Artois denselben entsagt. Als er aber tot war, erneuerte seine Witwe, die Gräfin Mahaud, diesen ungerechten Streit und ließ ihre Mannen auf den cambraischen Gefilden, die ihr zunächst lagen, rauben und plündern. Man musste Repressalien nehmen; daher Kriege ohne Ende, die viel Blut kosteten.

Da der Bischoff Philipp sich sehr über einen solchen Stand der Dinge betrübte, schlug er seiner Feindin vor, den König von Frankreich zum Schiedsrichter zu nehmen. Hierin lieferte er einen Beweis seltener Klugheit. Da nämlich die Gräfin Mahaud Vasallin des Monarchen war, konnte sie das Schiedsrichteramt des Königs nicht verweigern, und wenn ein Spruch gefällt wurde, musste sie sich demselben unterwerfen, wenn sie nicht den Zorn eines mächtigen Souverän auf sich laden wollte.

Überzeugt ferner von der Augenscheinlichkeit seines Rechts zweifelte Monseigneur Philipp nicht, dass die Entscheidung des Königs von Frankreich ihm günstig sein würde; dann wäre der Krieg unfehlbar beendet und den ungerechten Ansprüchen der Gräfin ein Ziel gesetzt.

Der König von Frankreich wählte zum Schiedsrichter in dieser Sache seinen eigenen Bruder, den Prinzen Karl von Valois. Dieser Herr kam also nach Cambrai, den 28. Mai des Jahres 1313.

Die ersten Tage verflossen mit Festen und Jagden; aber bald fing der Fürst, den man anfangs so vergnügungssüchtig gesehen hatte, an, die Ruhe und Einsamkeit zu loben, die er, wenn man ihm glauben durfte, allen anderen vorzöge. Trompeten konnten schmettern, wie sie wollten, Hunde bellen, Jagdhörner die Fanfare tönen, er kümmerte sich in keiner Weise darum.

Gleich vom Morgen an sah man ihn in das Betzimmer Berthas kommen, und immer hatte er ihr irgendein kostbares Geschenk zu machen. Bald war es ein Papagei, welcher schwatzte und lachte, wie es ein altes Weib nicht besser konnte; bald war es eine seltene Blume, die er um einen hohen Preis gekauft hatte, oder sonst reiche Spielereien von mühevoller, langer Arbeit.

Auf diese Geschenke, welchen Bertha freundliche Bewunderung schenkte, folgten galante Reden, die sich immer mehr verlängerten.

Da diese Gegenstände aus Frankreich, Italien oder Deutschland kamen, so nahm der Prinz von Valois Gelegenheit, von den Reisen zu erzählen, die er in diesen fernen Ländern gemacht hatte.

Er sagte nie etwas von den hohen Bestimmungen, die er in dem Letzten dieser Länder unfehlbar gehabt hätte, ohne die Umtriebe des Papstes Bonifatius. Denn nach der Ermordung des Kaisers Albert bei Rheinfelden durch den Herzog von Schwaben, wollten die Kurfürsten die Krone dem Prinzen von Valois geben; aber der Pabst hintertrieb es zufolge seines Hasses gegen den König von Frankreich, mit dem er ernste Streitigkeiten gehabt hatte.

Doch ungeachtet seines bescheidenen Stillschweigens, seiner Rücksicht dessen, was man so eben gelesen hatte, gab der Name Deutschland, vom Prinzen Karl ausgesprochen, hinreichend zu denken und warf auf seine Person den Glanz erhabenen Unglückes, das in Bertha eine ehrfurchtsvolle Teilnahme erweckte.

»Oh!« sagte er, »ich möchte jetzt mein Leben an diesen friedlichen, angenehmen Orten zubringen, fern von den Größen, welche drücken und quälen. Soll mir nie vergönnt sein, keine andere Sorge zu tragen, als durch Gehorsam und Liebe ein Lächeln zu erringen, wie es zuweilen über Ihren Lippen schwebt?«

Bertha, gerührt von diesen Worten, ließ ein Lächeln blicken, das mich mit Verzweiflung erfüllte, und sie senkte ihre langen, seidenen Wimpern, um die Verwirrung ihres Blickes zu verbergen.

Nach und nach wurde es bei Bertha Gewohnheit, wenn der Prinz kam, ihre Pagen und Gesellschaftsdamen ins Vorzimmer zu schicken. Sie hätte, wie sie sagte, wegen des Friedens wichtige Sachen mit dem Prinzen zu verhandeln. Sie blieb also allein mit ihm; und zuweilen, wenn die Stunde des Abendessens kam, musste man beide benachrichtigen, dass der Herr Bischoff sie erwartete, um den Segen des Mahles zu beginnen.

Während ich den Tod im Herzen hatte, freute sich alles um mich. Die Verschwiegensten bewegten geheimnisvoll den Kopf und sprachen ganz leise von Heirat. Andere, weniger zurückhaltend, sprachen ganz laut, dass die Schwester des reichen und vornehmen Schatzmeisters des Königs von Frankreich wohl Gräfin von Valois werden könne, denn nach ihnen war nichts zu hoch für die Dame, welche vornehme Geburt, wunderbare Schönheit, die Tugenden eines Engels und große Reichtümer vereinte. Endlich wiederholte man oft: »Die Gräfin Mahaud wird sicherlich den Prozess nicht gewinnen, und der Herr Bischof ist gewiss, seine guten Länder wieder zu erhalten.«

Diese Gerüchte, mit denen man sich anfangs bloß im Schloss trug, gelangten bald unter die Bürger und dann weiter nach Arras. Die Gräfin Mahaud, welche, um den Spruch des Schiedsrichters zu verzögern, sich sehr krank stellte, fasste alsdann einen plötzlichen Entschluss. Auf ihre seltene Schönheit und ihre teuflische List vertrauend, denn alle Mittel waren ihr gut, um zu ihren Zwecken zu gelangen, sah man sie eines Abends, ohne dass man sich dessen im Geringsten vermutet hättte, mit einem reichen und großen Gefolge im bischöflichen Schloss ankommen.

»Nun da, gnädigster Fürst«, sagte sie in heuchlerisch höflichem und betrübten Ton, »da sehen Sie mich kommen, demütig und bereit, Pardon zu erflehen, barfuß und die Schnur um den Hals, denn seit vier langen Monaten hält mich ein hitziges Fieber auf dem Krankenbett gefesselt und hat mich elend und hässlich gemacht. Diese zwei schönen Augen, die ich da sehe, haben den Prozess des Herrn Bischofs vollends gewonnen. Sie haben auch, ich bin dessen gewiss, mehr als nötig war, den Bruder des Königs von Frankreich gegen eine arme betrübte Witwe eingenommen.«

Nach diesen kühnen Reden, worüber Bertha hoch errötete, machte die Gräfin von Artois Miene, niederzuknien. Der Fürst ließ es nicht geschehen und zeigte die artigste Zuvorkommenheit, indem er bemüht war, sie wieder aufzurichten.

Indem sie sich dann auf die Hand des Fürsten stützte, flüsterte sie ihm leise ins Ohr und kehrte die tugendhafte Einfalt und natürliche Grazie Berthas so gut ins Lächerliche, dass der Prinz, umstrickt von ihren treulosen Reden, anfing, sich dessen zu schämen, was er anfangs mit vollem Recht so sehr geschätzt hatte.

Seitdem wurden die Freude und das Vertrauen, dessen man sich im bischöflichen Schloss bisher erfreut hatte, Traurigkeit und Mutlosigkeit.

Der Prinz hatte von diesem Tag an keine andere Sorge, als der Gräfin Mahaud zu gefallen, und dachte gar nicht mehr an die arme Bertha. Anstatt der endlosen Zwiegespräche im Betzimmer kamen Falken und Lanzen wieder in Gunst: Man hörte nur Rosse schnauben und Fanfaren schallen. Jeder suchte die Lanze und eilte auf die Stechbahn. Endlich wurde auf die inständigen Bitten der Gräfin Artois ein solennes Turnier auf den 9. November festgesetzt und verkündet. Der Prinz verschob auf denselben Tag die Proklamation des schiedsrichterlichen Spruches hinsichtlich des bewussten Streites.

Den folgenden Tag, es war der 2. September und das Fest unserer lieben Frauen, hieß mich der Herr Bischof mit einem Waffenherold abreisen, um den Rittern des Landes Botschaft zu bringen und sie zur Teilnahme am Turnier einzuladen.

Wir kehrten erst den Tag vor dem Turnier zurück.

Ungeachtet meiner Sehnsucht war es mir doch nicht vergönnt, vor meiner edlen Herrin zu erscheinen, weder am Tag meiner Ankunft noch am Morgen des folgenden Tages. Ich ging also, wie es meine Pagenpflichten mir auferlegten, mich am Fuße des Zeltes zu halten, das am Ehrenplatz von Samt aufgerichtet war, um die vornehmsten Damen, den Bischof, die Kampfrichter und die Stiftsherren aufzunehmen.

O wie verlangte es mich, Bertha kommen zu sehen, sie, deren süßer Anblick mir nicht seit zwei Monaten und sieben Tagen vergönnt gewesen war! Sie erschien endlich, geführt von einem vornehmen Ritter und hinter dem Bischof ihrem Bruder gehend, der der Gräfin Mahaud die Hand gab.

Heilige Jungfrau! Der bedauernswerte Zustand meiner edlen, unglücklichen Herrin sagte mir nur zu gut, welcher schreckliche Kummer sie verzehrte. Sie war bleich und mager geworden. Schon sah man etwas von einem Totengesicht in ihren Zügen, die eingefallen, aber doch noch schön waren. Ein kaum wahrnehmbares, leichtes, unbestimmtes, bläuliches Rot umzog ihre Wimpern, wodurch ihre Augen vergrößert erschienen. Endlich entfloh jeden Augenblick ein trockener, pfeifender Husten ihrer Brust.

Bei diesem Anblick war es mir unmöglich, einen Ruf des Entsetzens und der Verzweiflung zurückzuhalten. Sie hörte ihn, sie verstand ihn, denn sie warf einen Blick auf mich! … O, er brach mir das Herz.

Nach einigen Augenblicken des Wartens ertönten die Fanfaren und die Ritter sprengten in die Bahn. Der Prinz von Valois trug die Farbe der Gräfin Mahaud.

Ich kann hier nicht alle Kämpfe dieses Tages erzählen, meine Blicke waren nicht auf den Kampfplatz gerichtet, ein teurerer und traurigerer Gegenstand fesselte sie. Ich will nur kurz sagen, dass Monseigneur Karl, Prinz von Valois, der Sieger des Tages blieb.

Bertha, als Schwester des Bischofs, sollte dem Sieger den Preis des Turniers überreichen, welcher war, eine goldene Kette, mit einem kostbaren Stein in jedem Glied, sowie ein Degen von guter Klinge und prächtigem Gefäß.

Der Prinz kam also, um vor Bertha niederzuknien, aber als diese vortreten wollte, versagten die Kräfte und sie fiel in Ohnmacht. Während alle Damen sich um sie drängten, um ihr beizustehen und sich um nichts anderes kümmerten, nahm die Gräfin Artois die Kette auf, (wenigstens hat man mir es seitdem erzählt, ich war in zu schmerzlicher Angst, um es zu sehen) und hing sie mit Grazie um den Hals ihres Geliebten. Denn sie verhehlte es nicht mehr und war selbst stolz darauf, dem Prinzen das Geschenk liebenden Dankes zu gewähren.

Sollte man glauben, dass der Prinz mitten in der Unruhe eines solchen Unfalles sein Urteil proklamieren ließ, wegen der Streitigkeiten Cambrais und Artois?

Dieses Urteil verdammte die Stadt Cambrai gegen die Gräfin zu einer Vergütung von 32.000 Livres gutes Geld, viertausend jedes halbe Jahr bis zur ganzen Bezahlung.

Er verpflichtete allein die Gräfin zur Restitution der Sachen, welche in den Dörfern geraubt worden waren, die dem Kapitel und den Orten, die offenbar zum cambraischen Gebiet zählten, gehörten.

Wie soll man die Nacht beschreiben, welche folgte? Die Bürger von Cambrai, außer sich über die Ungerechtigkeit dieses Urteils, hatten sich hier und da in der Stadt zusammengerottet, schreiend und bereit, den Teil des Schlosses zu stürmen, welchen der Prinz bewohnte. Die Gewaffneten desselben wachten, die Lanze in der Hand, in der Befürchtung eines Angriffs und die Diener machten in der Eile die Vorbereitungen zur Reise. Ihr Herr hatte den Bischof gemeldet, dass er den folgenden Tag mit der Morgenröte aus dem Schloss gehen werde. Es war leicht, in einem solchen Mangel aller Höflichkeit die Ratschläge der Gräfin Artois zu erkennen. Man hat wenigstens gesagt, der Fürst hätte sich dazu erst nach langem Zögern entschlossen. Als dieses die abscheuliche Frau, welche er liebte, sah, hatte sie erklärt, dass sie allein abreisen und ihn nie wiedersehen werde, wenn er sie nicht den folgenden Tag begleite. Eine solche Macht übte sie über ihn aus, und er gehorchte.

Beim Anbruch des Tages hörte man also ein großes Geräusch von Pferden. Bertha fragte, woher es käme.

Monseigneur Philipp, welcher die Nacht am Bett seiner Schwester zugebracht hatte, erwiderte ihr sanft: »Es sind der Prinz von Valois und die Gräfin Mahaud, welche ohne Abschied vom Schloss gehen. Sie reisen zusammen, wie Mann und Frau, an den Hof des Königs Philipp.

Bertha faltete die Hände mit einer konvulsivischen Bewegung, wollte einige Worte hervorbringen und konnte nur einen schwachen Schrei murmeln. Es war der Letzte.

Seit mehr als sieben Wochen war ich bettlägerig, in Fieberhitze und Wahnsinn, indem ich immer Bertha rief mit lautem Schreien und doch keine Tränen vergießen konnte. Jedermann aus meiner Umgebung staunte über dieses plötzliche Übel. Man hatte mir nachher erzählt, das der Herr Bischof eines Tages ausgerufen hätte: »Beim heiligen Philipp, meinem hochseligen Patron, ich gäbe tausend Livres gutes Geld dem, welcher diesen armen Pagen heilen könnte, der sich in so großer Todesgefahr befindet, aus Schmerz über seine Herrin. Gegenwärtig gibt es so treue Diener nicht dutzendweise.« Er hätte sagen sollen, so betrübte Liebhaber.

In einer Nacht, wo ich wider Erwarten hatte einmal einschlafen können, hörte ich mich plötzlich bei meinem Namen rufen: »Raoul, Page Raoul!«

Jesus mein Heiland! Es war die süße Stimme Berthas. Sie war da, die Unglückliche, stand neben mir, traurig wie an dem letzten Tag, wo es mir vergönnt war, sie zu sehen. Ich fühlte mich bei ihrem Anblick traurig werden bis zum Tod, wie unser Herr Jesus Christus im Ölgarten. Seit dieser Zeit hat mich kein Christ je wieder lächeln sehen.

»Raoul, Page Raoul«, sagte sie, »ich komme, um von dir das Ende meiner Leiden zu erbitten, von dir, dem ich so viel verursacht habe, ohne es aber zu wissen, denn du verbärgest gut und sorgfältig deine brennende, schmerzliche Liebe. Raoul … (und hier glaubte ich eine kaum bemerkbare Röte die bleichen Wangen der Seele leicht färben zu sehen) … Raoul! Ich habe gefehlt… Der Prinz von Valois … Zur Züchtigung für diesen Fehler, werde ich im Fegefeuer zurückgehalten, bis zu dem Augenblick, wo der, welcher mich sündigen ließ, ein de profundis für mich gesprochen hat. Ach, er hat noch nicht einen Gedanken für mich gehabt! Für mich, die ich seinetwegen gestorben bin und so sehr leide im Fegefeuer, weil ich ihn so sehr geliebt habe! Und doch, Raoul, Gott und die Heilige Jungfrau sind meine Zeugen, dass ich gern noch tausend Jahre an diesen Orten der Finsternis und der Tränen bliebe, wenn er nur einmal bei der Nachricht von meinem Tod gesagt hätte: Arme Bertha! Gehe denn, Raoul, zu dem Prinzen von Valois! Sage ihm, dass Berthas arme Seele im Fegefeuer leidet, und dass, wenn er will, nur ein einziges Mal ein de profundis für sie beten, die Engel sie ins Paradies führen werden. Er wird es dir nicht verweigern, Raoul. Man muss es wenigstens hoffen, denn ist ein Christ hart genug, um ein Gebet zu verweigern, wenn es sich selbst um das Seelenheil eines Juden handelte?«

Diese Erscheinung gab mich dem Leben wieder, wie durch ein Wunder. Von diesem Augenblick an verschwanden Fieber und Wahnsinn, und ehe zwei Monate vergingen, war ich mit Gottes Hilfe imstande, die Reise zu unternehmen, welche Bertha von mir begehrt hatte.

Um diese Reise glücklich zu vollbringen, musste ich die Erlaubnis des Bischofs erhalten. Ich begab mich also zu ihm und bat ihn, meine Beichte zu hören. Die wunderbare Erscheinung, welche ich gehabt, und die Pflicht, welche mir Bertha auferlegt hatte, wurden treulich von mir erzählt, nur wagte ich aus Scham nicht die hoffnungslose Liebe zu bekennen, welche ich für die Verstorbene genährt hatte.

Dem ungeachtet war meine Beichte wahr und getreu, denn so keusche und so geheime Liebe kann keine Sünde sein.

Monseigneur Philipp hörte mir schweigend zu. Endlich sagte er: »Das sind übernatürliche Sachen und man muss nicht zu leicht daran glauben. Vielleicht ist es ein krankhafter Fiebertraum. Übrigens, mein Sohn, gibt es hundert und über hundert Hindernisse, welche sich der Erfüllung deines frommen Planes entgegensetzen. Es sind große und traurige Ereignisse in unserem Haus vorgekommen.«

Dann fing er zu erzählen an, wie der König von Frankreich, Philipp der Schöne, gestorben sei. Sein Sohn, der König Ludwig X., war ihm gefolgt, der Prinz von Valois unter dem neuen König allmächtig am Hof geworden. Getrieben von der schändlichen Gräfin Mahaud, hatte Monseigneur Don von Enguerrand seines Dienstes entsetzt und ihn in voller Versammlung der Verschwendung der Staatsschätze beschuldigt, indem er von ihm zu wissen verlangte, wie die bedeutenden Kontributionsgelder, die man von Flandern erhoben hatte, angewandt worden wären. Nun waren dieselben vom Großschatzmeister in die Hände des Prinzen selbst gegeben worden.

Messier Enguerrand antwortete also mit Freimütigkeit: »Ich habe Ihnen einen guten Teil davon zugestellt, Monseigneur, wie es gültige Dokumente, die mit Eurem Siegel gesiegelt sind, beweisen werden.«

»Die Pergamente lügen«, rief der Prinz.

»Monseigneur, wenn gelogen ist, ist es nicht durch die Pergamente, sondern wohl von Ihnen«, unterbrach der Großschatzmeister, mit Recht unwillig über solche Beleidigung.

Der Prinz zog seinen Degen, er würde Messier Enguerrand damit verwundet haben, aber die besonnenen Männer des Rates setzten sich dagegen. Er ging alsdann, bei dem lebendigen Gott schwörend, dass er an dem Großschatzmeister blutige Rache nehmen wolle.

»Seit der Zeit, dass mein Bruder selbst mir die Nachrichten hat durch einen treuen Boten zugehen lassen«, fuhr der Bischoff fort, »bin ich in großer und peinlicher Unruhe über das, was geschehen ist. Der Graf von Valois wird nicht ruhig sein, bis er Enguerrand vernichtet hat. Urteile, mein Sohn, ob er geneigt sein wird, für die Seele Berthas zu beten. Gehe denn in Frieden, Raoul, wir wollen morgen eine feierliche Messe lesen für das Seelenheil deiner Herrin, der du dich so treu bezeigst. Deinem Plan aber musst du entsagen, als einem kühnen und unüberlegt gefassten.«

Ich musste gehorchen. Aber gleich in der Nacht, die auf diese Unterredung folgte, wurde ich durch ein klägliches Seufzen geweckt. Bertha war wieder da, die Hände faltend zum Zeichen der Trauer und des Gebetes. Ich beschloss abermals zum Bischof zu gehen. Als ich mich anschickte, mich zu ihm zu begeben, kam ein Deiner von ihm, mich zu holen.

»Raoul«, sagte er, »die Seele meiner Schwester ist mir diese Nacht erschienen, traurig und leidend. Ohne Zweifel habe ich unrecht gehabt, dich von deinem frommen Entschluss abzubringen. Gehe denn, mein Sohn, und der Segen unseres Heilands und der eines alten Mannes begleite dich.«

Bei diesen Worten berührten seine verehrungswürdigen Hände meine Stirn. Er stellte mir eine reich gefüllte Börse zu und sagte, dass der Prevot seines Hauses Befehl hätte, mir das beste Ross auswählen zu lassen, das in den Ställen des Schlosses wäre.

Ich machte mich den folgenden Tag auf den Weg. Es war der 10. März im Jahre des Heils 1314. Die Kirche feierte das Fest der vierzig heiligen Märtyrer.

Ich kam nach Paris nach einer achttägigen Reise ohne Zwischenfall. Meine erste Sorge war, mich in den Palast des Großschatzmeisters zu begeben. Wie schnell schlug mein Herz, als ich seine hohen Türme, seine skulptierten Mauern, seine hundertfarbigen Fensterscheiben erblickte! Dreimal ließ ich mit zitternder Hand den eisernen Klöpfel des ungeheuren Tores ertönen, um einen Huissier zu rufen, aber der Klöpfel mochte tönen, wie er wollte, Niemand kam mir zu öffnen.

Nun erst kam mir die Ahnung von den traurigen Nachrichten, die ich bald erhalten sollte.

Während ich hier stand und Blicke der Ungewissheit und des Schmerzes um mich warf, machte mir ein alter Mann geheimnisvoll ein Zeichen, ihm zu folgen, und führte mich in die einsame Straße, wo er wohnte.

Als er um sich gesehen hatte, in der Befürchtung, dass man ihn höre, fragte er mich: »Habt ihr so große Sehnsucht nach dem Beil, dass Ihr in Paris in den Farben des Bischofs von Cambrai einhergeht? Wisst Ihr nicht, dass Herr von Marigny in Ungnade ist, dass er gefangen sitzt im Turm des Louvre, des Hochverrats angeklagt? Außerdem beschuldigt man ihn, die königlichen Schätze verräterisch verschwendet zu haben. Der Palast des Herrn von Marigny ist mit den Siegeln des Königs verschlossen worden. Man hat Diener, Pagen, Knappen schimpflich fortgejagt, diejenigen wenigstens, welche, wie ich, nicht das Glück hatten, bei der Verteidigung unseres Herrn getötet zu werden.«

»Und mein Vater? … Im Namen des Himmels! Mein Vater, Herr Bartholomäus Beaugenin? …  Sagt mir von ihm …«

»Requiescat in pace!«, antwortete der Greis. »Er ist in einer besseren Welt als dieser; ebenso seine verehrungswürdige Gemahlin. Er starb an einem Lanzenstich, sie vor Schmerz und Gram.«

Meine Verwirrung und Verzweiflung bemitleidend, nahm mich der Greis, der ein Stallmeister des Großschatzmeisters und der Freund meines Vaters war, mit in seine Wohnung und stärkte mich durch fromme Ermahnungen.

Während der drei Tage, die ich bei ihm wohnte, erweckten Gott und die Heilige Jungfrau in meiner Seele einen frommen Entschluss, den sie schon mehrmals da hinein gesenkt hatten; aber ich hatte ihn stets fern gehalten, denn um ihn zu vollbringen, hätte ich mich auf immer von Bertha trennen müssen.

Dieser Entschluss war der, in ein Kloster zu gehen und den Rest meines Lebens dem Dienste Gottes zu weihen.

Was sollte ich noch in der Welt, wenn die, welche darin meine Freude machten, tot waren? Welche Liebe, außer der göttlichen Liebe, konnte die Leere füllen, welche Berthas Tod in meiner Seele gelassen hatte?

Aber bevor ich ins Kloster trat, musste ich noch eine große und heilige Pflicht erfüllen. Ich ging also in den Louvre, wo der Prinz von Valois wohnte.

Der Seneschall, von dem ich eine Audienz bei seinem Herrn begehrte, fragte mich nach meinem Namen und Stand.

»Raoul Beaugenin, Page des Herrn Philipp von Marigny, Bischof von Cambrai.«

Er sah mich erstaunt und verwundert an, ging und kam wenige Augenblicke darauf zurück, um mich hineinzuführen.

Als ich mich vor dem Onkel des Königs allein sah, fühlte ich mein Herz hoch schlagen, meine Knie zitterten unter mir.

Endlich versuchte ich mich zu fassen und erzählte die Erscheinung, die ich gehabt, wie ich eine so lange und so beschwerliche Reise unternommen hatte, um Berthas Seele aus dem Fegefeuer zu erlösen, wozu nur ein de profundis vom gnädigen Prinzen von Valois gesprochen, nötig wäre.

Während ich mit demütiger Zerknirschung meine Erzählung so vorbrachte, dass ein Felsenherz hätte erweicht werden können, wandte der Prinz jeden Augenblick seine Augen nach einem purpurnen Vorhang, der ein großes Fenster umhüllte. Da erschallte ein lautes Gelächter hervor. Die Gräfin Artois erschien und zog mich zum Balkon: »Da«, rief sie, »so spricht man Gebete für die Marignys!«

Heilige Jungfrau! Der Großschatzmeister wurde, den Strick um den Hals, aus dem Louvreturm geführt und zum Galgen von Monfaucon gebracht.

 

*

 

Zwei Jahre darauf ging ich zu einem armen Kranken, der in der Gegend des Louvre wohnte, um ihm in seiner letzten Stunde beizustehen. Ich wandte mich eben zum Kloster der Minimen, als zwei Diener auf mich zukamen und sagten: »Ehrwürdiger Vater, im Namen unseres Heilands, kommt! Unser Herr stirbt ohne Beichte, wenn er nicht sogleich von Euch gehört wird. Wir können seinen Beichtvater nicht finden.«

Ohne mir zu sagen, wohin sie mich führten, zogen sie mich mit sich fort.

Man denke sich mein Erstaunen, als ich mich in den Palast des Prinzen von Valois und vor das Bett des Herren selbst führen sah!

Bei meinem Anblick stieß er einen schrecklichen Schrei aus: »Gott ist gerecht, Raoul! Meine Verbrechen sind sehr schwer in dieser Stunde der Züchtigung. Wird Jesus Christus mir verzeihen? Mir, der ich den unschuldigen Marigny aus Rache umgebracht habe? Wird die Heilige Jungfrau für mich bitten, da ich die Unglückliche im Fegefeuer gelassen habe, deren Tod ich verschuldet habe und die ich mit einem de profundis erlösen konnte? … O, Verzweiflung! … O, schrecklicher Zorn! … Ich bin verdammt!«

Ich versuchte diesen Sünder zu einigem Vertrauen in die göttliche Barmherzigkeit zu bewegen, aber nichts konnte ihm die Hoffnung des Heiles geben. Er gab in meinen Armen seinen Geist auf, indem er wiederholte: »Ich bin verdammt!«

Dieselbe Nacht erschien mir die Seele Berthas mit einem Kranz hehren Lichts um das Haupt. Zwei Engel von wunderbarer Schönheit führten sie ins Paradies.

So wurde Berthas Seele aus dem Fegefeuer erlöst, sie, die gelitten hatte, weil sie aus Liebe gefehlt.

Sie ist nun in der Wohnung der Seligen und preist die Güte des Herrn in Ewigkeit.

Möge die himmlische Gnade mich einst mit Bertha und den Auserwählten in ewiger Glorie vereinen! Amen!

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