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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Das Netz der Eisernen Seite – Teil 4

Die Hoffnung wurde mit jedem Tag geringer, und mit jedem neuen Tag, an dem sie sich in diesen völlig leeren Augen gespiegelt sah, wuchs eine andere Hoffnung. Dass es bald vorbei sein möge. Es waren nicht die Anstrengungen der Pflege, die Lucille Chaudieu zermürbten, nicht die tausend Löffel Brei, die sie in Tony Tanners sabbernden Mund stopfte, und nicht die Peinlichkeiten der Hygiene bei einem Männerkörper, der ohne Geist und Bewusstsein war, aber auf der körperlichen Ebene bestens funktionierte.

Es war vielmehr, auch wenn sie sich selbst diese Gewissheit nie eingestand, die Schuldgefühle, dass sie wieder einmal versagte. Dass sie nicht die Fähigkeiten hatte, einem Mann, der hilflos war, zurück in das Leben zu helfen. Hier half keine Schönheit, keine Koketterie, kein Hüftschwung, kein Sex-Appeal oder wie immer das in den Hochglanzpostillen bezeichnet wurde. Hier war etwas anderes gefragt, etwas, das ihr allem Anschein nach fehlte.

Sie wartete auf den Moment, in dem der ruhige, gleichmäßige, leicht pfeifende Atem verstummen würde. Sie hoffte auf diesen Moment und fürchtete ihn. Aber dann war zumindest alles eindeutig und offen gelegt, und sie konnte sich ihren Schuldgefühlen – und einem Wunsch nach Vergeltung – völlig hingeben.

Sie schaute in das Zimmer, in dem Tony Tanner schlief. Er lag bewegungslos, mit offenen Augen, als würde er für einen kurzen Moment tief nachdenken. Lucille schloss die Tür und nahm ihre Wanderung auf der Terrasse wieder auf. Sie hatte einige Dinge zu erledigen gehabt in den letzten Tagen, Einkäufe, Telefonate, eine Urlaubsverlängerung bei ihrem Arbeitgeber.

Das hatte sie abgelenkt. Nun waren diese Dinge abgehakt, das Gebüsch, in dem sie sich verstecken konnte, abgebrannt, und sie stand deckungslos einigen Fragen gegenüber.

Wie lange sollte sie noch hier bleiben? Sie hatte ihr Möglichstes getan, nun tat sie Unmögliches und wusste, dass ihr eigener Zusammenbruch sich schon in dem nervösen Zittern der Hände, in ängstlichen Zuckungen und vielen anderen Kleinigkeiten ankündigte.

Sie musste ihn in ein Krankenhaus bringen, am besten vor die Notaufnahme und dann verschwinden.

Irgendwohin in ein kleines Hotel, wo sie sich für einige Tage verkriechen konnte, um wieder zu Kräften zu kommen. Und um zu vergessen. Denn in ihrem Kopf klang immer noch und immer wieder das Krachen nach, mit dem der Schädelknochen eines Menschen unter ihrem Tritt zerborsten war. Es war ein Geräusch, das sie nie vergessen würde.

Und sie stellte sich Tag um Tag die Frage, wieso sie, Lucille Chaudieu, in ihrem Leben an diesen Punkt gekommen war.

Montalban hatte ihr in einer stillen Stunde seine Philosophie des Tötens auseinandergesetzt.

Es war ein Thema, das ihn faszinierte. Sie hatte über diese Mischung aus Kopfjäger-Mythologie und Existenzialismus gelacht. Und nun wusste sie, dass er recht gehabt hatte.

Einen Menschen getötet zu haben, bedeutete, in ein anderes Leben eingetreten zu sein. Nichts war mehr so wie vorher. Man selbst war nicht so wie vorher. Man war ein Mörder. Zugehörig dem Stamme des Kain, mit dem unsichtbaren Mal auf der Stirne, mit dem Wissen im Kopf, dass man ein Leben beendet hatte, dem noch viele Jahre beschieden gewesen wären.

Hier hätte Montalban gesagt, dass man sich die Jahre des anderen zur Beute gemacht habe. Aber er war schon so fern – nicht mehr als eine Erinnerung. Für sie begann die Phase der Verteidigung. Sie redete sich ein, dass sie keine andere Möglichkeit gehabt hatte, dass es nicht ihre Schuld war. Aber es half nicht. Selbst keine andere Möglichkeit gehabt zu haben, war vor dem strengen Gericht des eigenen Gewissens eine schwächliche Verteidigung. Es war wie Ertrinken, das Wasser drang in die Lungen und jede Argumentation war angesichts des Versinkens ohne Wirkung. Im Grunde hatte es dieser bewusstlose Körper, den sie versuchte durch die Zeit zu retten, besser.

***

Ein Schrei riss Dorkas aus dem Schlaf. Er hatte sich vorgenommen, wach zu bleiben und war doch eingeschlummert. Er sprang auf, verhedderte sich in die Decke und plumpste bäuchlings auf den Boden. Seine Füße strampelten vergeblich mit der Decke, und so kroch Dorkas auf allen vieren und mit der Eleganz eines Seeelefanten in den Raum, in dem Little geschlafen hatte. Entgegen seinen Befürchtungen saß Little ruhig auf dem Sofa und schaute etwas müde und verwirrt.

»Ich hatte einen Schrei gehört«, sagte Dorkas.

»Ich auch.«

»Ich dachte, Sie wären es.«

»Das dachte ich von Ihnen.«

»Ich habe nicht geschrien.«

»Ich auch nicht.«

Das Gespräch drohte, etwas kompliziert zu werden, und Dorkas wollte gerade das Heft in die Hand nehmen, um die Sache klarzustellen, als Little auf einen Gegenstand deutete.

»Was ist das?«

»Derartige Geräte nennt man in England Koffer«, verkündete Dorkas freundlich und mit einem leichten Anflug von Ertapptsein.

»Ich weiß, was ein Koffer ist. Aber am Abend war er noch nicht da. Und Sie hatten mir einiges über den Kreis erklärt, in den nichts eingefügt werden darf, stimmt’s?«

Dorkas begann sich zu winden. »Ja, ja, Sie haben ganz recht. Es war ein Versuch.«

»Ich habe die Nase voll von Versuchen.«

»Es war ein Versuch zu unserem beider Nutzen – der Koffer gehört Tony Tanner.«

»Ahh, ich verstehe. Sie dachten, wenn Sie einen Gegenstand hier hineinstellen, der etwas mit dieser Person zu tun hat … Hören Sie, wir spielen hier doch nicht Seance anno achtzehnhundertneunzig

»Sie müssen zugeben, dass Ihre Aussagen bezüglich Ihrer – mmmhh tja – besonderen Befähigung in diese Richtung deuteten.«

»Falsch. Sie verwechseln ein Taxi, das zu einem Kunden gerufen wird mit einer Kreuzung, über die tausend Taxis fahren, die keiner gerufen hat.«

»Na gut«, brummte Dorkas. »Bleibt die Frage, woher der Schrei kam, den sowohl Sie als auch ich gehört haben.«

 

Ja, woher war dieser Schrei gekommen? Nicht von außerhalb der Wohnung jedenfalls.

Die beiden Männer gingen sämtliche Möglichkeiten durch, ohne auf eine plausible Erklärung zu kommen. Mit einem Gähnen verabschiedete sich Dorkas. Der Blick auf die Uhr zeigte, dass ihm noch einige Stunden Schlaf zustanden. Bevor er ging, wollte er den Koffer entfernen.

»Lassen Sie«, wehrte Little ab. »Ich hatte zwar einen absolut traumlosen Schlaf, besser als seit Jahren, aber vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit …«

»In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin eine gute Nacht«, verkündete Dorkas feierlich und stolzierte zurück in sein Schlafgemach. Zumindest sein Abgang sollte von Würde geprägt sein, wenn schon sein Erscheinen eher den Charakter einer zweitklassigen Schenkelklatschnummer im Kinderzirkus gehabt hatte.

Kurze Zeit später herrschte friedvolle Ruhe in Dorkas’ Domizil, wenn man von ekstatischen Schnarchgeräuschen einmal absehen will.

***

»Versuchen Sie sich die Szene noch einmal ganz deutlich vor Augen zu führen«, beschwor Dorkas am nächsten Morgen seinen Gast.

Little war zu beschäftigt, sich die Orangenmarmelade, die ihm auf die Finger gelaufen war, abzuschlecken, um sofort zu antworten. »Eine Art Keller. Vielleicht auch ein Labyrinth. Jedenfalls viele Gänge, eng, schmal, hohe Wände, graues Licht. Jemand läuft darin herum«, antwortete er dann kauend. »Haben Sie vielleicht noch etwas Brot? Ich habe wirklich Appetit heute.«

»Dort im Kasten. Das macht die Londoner Luft. Was meinen Sie, warum hier so viele fette Leute rumlaufen. Also ein Mann, sagen Sie?«

»Eindeutig ein Mann. Ziemlich jung, nicht mehr ganz jung, aber jünger als wir. Wirkt verwirrt. Läuft herum und findet keinen Ausgang. Oh schade, die Marmelade ist alle.«

»Kein Problem, ich habe noch ein Glas. War sonst noch was Bemerkenswertes?«

»Vielen Dank, ja, ich hatte die Frau nicht erwähnt, können Sie mir bitte die Butter – mein Stück ist alle.«

»WAS FÜR EINE FRAU?!« Dorkas verschluckte sich fast.

»Die Butter bitte. Ach so, ja, diese Frau – knackig, würde ich mal sagen. Langes rötliches Haar, Locken, schönes, etwas herbes Gesicht. Langes rotes Gewand mit irgendwelchen Applikationen, die ich nicht erkennen konnte.«

»Was macht diese Frau?«

»Nichts. Sie ist da. Aber es ist klar, dass sie die Sache in der Hand hat. Sie beherrscht das Labyrinth. Es ist ihr Ort, sozusagen.«

Erschrocken schaute Little auf. Dorkas’ Stuhl war zu Boden gepoltert, als dieser aufsprang und mit einer Maske von Wut im Gesicht und geballten Händen vor dem Tisch stehen blieb.

»Sarah«, keuchte Dorkas. Sein Zorn war so groß, dass er ihm förmlich die Kehle verstopfte und die Worte kaum durchließ.

»Saaraaahhh, du dreckiges Stück, du babylonische Hure, du hinterhältige Hexe, du schleimige, du abgerissenes … von einer – einer …«

Wutschreiend stampfte Dorkas durch die Küche und begann mit Töpfen zu schmeißen. Dann bekam er sich selbst wieder unter Kontrolle und stützte sich schwer atmend auf das Fensterbrett ab.

»Sie hat ihn gefangen, soviel ist klar. Ich weiß nicht, was passiert ist und welchen Mist er gebaut hat, aber sie hat irgendwie seine Seele und seinen Geist in ihre Gewalt bekommen. Darum also ist er verschwunden. Irgendwas muss passieren, sonst wird sein Körper irgendwo verfaulen und seine Seele irrt für Ewigkeiten durch dieses Labyrinth. Aber das kriege ich in den Griff!«

Dorkas klatschte sich die Faust in die Handfläche der anderen Hand. Seine Stimme war rau von seinem Gebrüll. Jetzt brauchte er erst einmal einen Tee. Aber Little, der Dorkas’ Ausbruch mit mäßigem Interesse verfolgt hatte, hatte die Kanne geleert. Drei Liter? Dieser Mann war unglaublich!

Während Dorkas sich um neuen Tee kümmerte, machte Little eine erstaunliche Entdeckung. Er hatte deutlich die roten Wellen der Wut gespürt, die von Dorkas ausgingen. Aber jetzt hatten sie ihn nicht umgeworfen wie eine Brandung, sondern er konnte darauf reiten. Er konnte tatsächlich auf diesen Wellen roher Gewalt gleiten wie ein Wellenreiter und spürte deutlich, wie sich sein Körper und sein Geist kräftigten und mit Energie aufluden. Er überlegte, dann begann er, in der Küche herumzutanzen.

»Ist ja gut«, knurrte Dorkas. »Der Tee ist gleich fertig, da brauchen Sie nicht so einen Aufstand zu machen.«

Aber Little hüpfte weiter durch die Küche und rief mit sich überschlagender Stimme: »Phase Zwei – ich habe die Regeln gelernt. Ich habe sie gelernt!«

***

Jeremy Steel, noch immer an Dorkas’ Fersen geheftet, lief mit einer unbeantworteten Frage umher: Wer war dieser Mann? Als er in Dorkas’ Haus gehuscht war, war er ein zittriges Nervenbündel gewesen. Nun, zwei Tage später, wirkte er wesentlich gesünder. Er ging weniger gebeugt, er entwickelte sogar eine erstaunliche kräftige Harmonie der Bewegungen, und er hatte etwas an sich, das Jeremy Steele nicht verstand und sozusagen nur mittelbar registrieren konnte. Fischglatt. Jeremy Steele nannte diesen Mann bei sich selbst Fischglatt.

Er bemerkte es an den Reaktionen des Weißhaarigen, der beim Anblick von Fischglatt sofort auf Distanz gegangen war – und zwar auf eine erstaunlich weite Distanz, als ginge es hier nicht um das Nicht-Gesehen-Werden, sondern noch um eine andere Form der Tarnung, für die der Schritt hinter die Hausecke keineswegs ausreichend war. Fischglatt seinerseits musste auf irgendeine Weise den Weißhaarigen registriert haben. Jedenfalls blieb er stehen und legte die Hände an die Schläfen, sein Körper begann wieder zu zittern, während Dorkas besorgt um ihn herumwuselte und ihn schließlich am Arm weiterzog.

Der Zustand dieses Fischglatt besserte sich bald, und er gelangte zurück zu einem Verhalten, das ihn unauffällig in der Menge des Piccadilly Circus versinken ließ. Und dennoch – es gab da eine Verbindung. Der Weißhaarige hatte es gemerkt und dieser merkwürdige Fischglatt auch. Welche es war, verstand Jeremy Steele nicht. Das hätte ihn ärgern können, aber er war, was seine Zielperson Dorkas anging, bescheiden geworden. Dorkas war nicht nur anders, er war sogar auf andere Weise anders, als man von ihm vermuten konnte.

Jetzt saßen Dorkas, der Mann, den Steele Fischglatt nannte, und ein Dritter, jüngerer, in einem Schnellimbiss und waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Fischglatt stopfte sich ölgebackene Kartoffelstäbchen in den Mund, als habe er seit Monaten nichts mehr zu essen bekommen.

Dorkas gestikulierte wie eine Mischung aus Dirigent und Volksredner, und der Jüngere zuckte, als müsse er einen Gangsta-Rapper der härteren Kategorie imitieren.

Diesen Jüngeren kannte Steele. Er hieß Alex Pillbury, in einschlägigen Kreisen der Schlüssel genannt. Es war derselbe junge Mann, der nach einem Treffen mit Dorkas vor einer Reihe von Museen und Instituten randaliert hatte. Pillbury erhob sich, klatschte sich nach einem komplizierten System mit Dorkas ab und zuckelte dann die Straße hinunter. Er ging mit jener modischen Lockerheit, die auf Außenstehende den Eindruck erwecken musste, dass mit der Gelenkbefestigung des Betreffenden etwas nicht stimmen konnte.

Dorkas und Fischglatt blieben sitzen. Steele schwankte einen Augenblick und entschloss sich dann, unauffällig ein Auge auf Pillbury zu werfen. Langsam folgte er ihm.

 

»Sind Sie sicher, dass Sie sich in dieser Sache nicht verrennen?«

»Inwiefern verrennen?«, fragte Dorkas unschuldig. »Das Rennen ist mir schon aus Gründen der Physiologie abhold.«

»Sie verstehen genau, was ich meine. Ich hatte einen Traum, eine Vision, ein inneres Bild, wie man das auch immer nennen will. Sie haben mich darüber in den letzten zwei Tagen verhört wie einen Schwerverbrecher und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht Dinge dazufantasiert habe … Auf jeden Fall frage ich mich, ob es gut ist, diese Dinge so ernst zu nehmen.«

Dorkas faltete die Hände und beugte sich über den Tisch. »Gerade von Ihnen, Herr Little, hätte ich mehr Verständnis für die Macht innerer Imagination erwartet. Nehmen wie die Sache von einer anderen Warte – glauben Sie, dass die Formeln der Atomphysiker, dieser ganze Kram mit Tabellen von Elementarteilchen, glauben Sie, dass das etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat? Kein Physiker, der nicht völlig verbohrt ist, würde das behaupten. Es handelt sich um Annäherungen, um Umschreibungen von Dingen, die man nicht anders in den Griff kriegt, weil dem Menschen die Sinne fehlen. Jede andere Behauptung würde nur beweisen, dass man hier die Landkarte mit der Landschaft verwechselt. Und so ist es auch in unserem Fall. Wir müssen uns irgendwie zurechtfinden. Und dafür haben wir nur diese Karte, die Sie sozusagen gezeichnet haben. Was den Faktor Fantasie angeht: Wenn die Vision erst einmal steht, dann bewegt sich die Fantasie im Rhythmus des Bildes. Nun schauen Sie nicht so verständnislos – vielleicht haben Sie etwas dazufantasiert, was Sie ursprünglich nicht gesehen haben.

Aber dann passt diese Fantasie. Es ist, als würden Sie eine Fremdsprache sprechen. Da schalten Sie auch nicht einfach zurück in Ihre Muttersprache, verstehen Sie?«

Little nickte mit jener Art Nicken, das deutlich macht, dass man nur um des lieben Friedens willen auf weitere Anmerkungen verzichtet. Er stach mit seinem Plastikgäbelchen in eine Pommes, führte sie genüsslich durch einen Klecks Ketchup und steckte sich das Ergebnis dieser Aktion in den Mund.

»Soviel zur Theorie«, sagte er dann kauend. »Und was sind die Schlussfolgerungen, die Sie gezogen haben?«

»Schlussfolgerung eins: Glück gehabt. Ich kenne mich sozusagen in diesem Bereich bestens aus – ich muss sagen, dass Sarah Hamilton etwas unvorsichtig in der Auswahl ihres Schlachtfeldes war. Aber vielleicht ist sie ja auch nicht frei in ihren Auswahlmöglichkeiten, wer weiß?«

»Wer ist Sarah Hamilton und wieso Schlachtfeld?«

»Wer Sarah ist, werden Sie wohl noch früh genug erfahren – auf die eine oder andere Weise. Jetzt genauere Erklärungen zu geben, würde zu weit führen. Und wieso Schlachtfeld?

Wir haben hier doch das klassische Muster des Schamanismus – wie bekommt man eine verirrte Seele zurück in den Körper?«

»Wollen Sie etwa anfangen zu tanzen und zu trommeln, um sich in Ekstase zu versetzen?«

»Mitnichten«, antwortete Dorkas und musste bei dem Gedanken, er würde schamanisierend durch ein Zimmer tanzen unwillkürlich grinsen. »Wir haben einen mächtigen Verbündeten auf unserer Seite …«. Dorkas machte eine Kunstpause und breitet die Arme aus, als würde der Verbündete jetzt gleich auf eine Bühne treten. »… Zeus Andronergetes!«

Little betrachtete Dorkas mit einem müden Augenaufschlag und stand auf, um sich etwas zu essen zu holen. Seine Hose begann an der Taille schon zu spannen, was Little mit Befriedigung erfüllte, denn seit dem Vorfall im Tank hatte er mindestens zwanzig Kilo verloren und kam sich zuweilen selbst in diesem nervösen, dürren Körper fremd vor. Er hatte die feste Absicht, demnächst wieder mit sportlichen Aktivitäten zu beginnen, aber vorerst war er zufrieden, sich muskelfreie Fettmasse anzulegen.

Als er zurückkam, lag immer noch das verklärte Leuchten auf Dorkas’ Gesicht, das mit der Nennung des Namens aufgeschienen war.

»Zeus Andropowas? Nie gehört!« beschied Little kurz, denn er musste sich um das Essen kümmern.

Dorkas setzte ein mildes Lächeln auf. »Zeus Andronergetes. Es wundert mich keineswegs, dass Sie noch nie etwas davon gehört haben. Erstens sind Sie Amerikaner und von daher sowohl geografisch als auch … sagen wir geistig … gewissen Segnungen des Wissens fremd. Zweitens ist Zeus Andronergetes ein Aspekt des Göttervaters, der völlig einmalig in der griechischen Geschichte ist.«

»Wampf heischt dasch überhaumpft?«, fragte Little, etwas undeutlich, denn er sprach mit vollem Mund. Dorkas sah großzügig über diesen Fauxpas hinweg.

»Zeus Andronergetes ist Zeus der Männermacher. Wir haben es weder mit einer Art antikem Football-Trainer noch mit einem Drill-Sergeant zu tun, sondern mit einem Kriegerorden und Mysterienbund, der viel älter ist als der von Eleusis. Zeus Andronergetes ist nur an einem Ort in der Argolis verehrt worden. Argolis – sagt Ihnen das was?«

Little schüttelte den Kopf und hörte ob der verwirrenden Erkenntnis, dass Dorkas ihm einen Mangel an Bildung bescheinigte, für einen Moment auf, zu kauen.

»Mykene«, flüsterte Dorkas geheimnisvoll. »Der Ort der Verehrung liegt nur einen Steinwurf weit von Mykene entfernt.«

»Aus Ihrer Betonung dieser Tatsache muss ich schließen, dass es damit eine besondere Bewandtnis hat?«

»Richtig, völlig richtig. Es deutet nämlich auf die vorgriechischen Wurzeln des Mysterienbundes hin!«

»Moment mal, die griechischen Einwanderer haben Mykene doch weggeputzt, so um 1200 vor. Soviel weiß man sogar in Amerika.« Little spielte seine Karte in gönnerhafter Bescheidenheit.

Dorkas grinste frech. »Das ist eine ganze Menge. Aber einerseits ist die Forschung heute der Überzeugung, dass die Zentren nicht einfach verschwanden, sondern in kleinerem Maßstab weiterlebten, und zweitens bedeutet Eroberung ja auch, dass man sich der Götter des eroberten Landes bemächtigen kann.«

»Auch dieses Self-Service-System kennen wir in Amerika. Schön und gut, aber ich verstehe nicht, wie Ihnen das bei Ihrer Seelenrückführung helfen soll. Aber ich bin ja auch nur Amerikaner.«

Dorkas ging auch auf diese unverhohlene Aufforderung nach einer Entschuldigung für die Schmähung Amerikas nicht ein. »Ein Zweifler«, seufzte er theatralisch. »Dabei weiß dieser Mann ja noch nicht einmal, um was es geht!«

»Um einen Mysterienbund, sagten Sie doch.«

»Richtig, aber um was für einen …! Zufälligerweise habe ich mich vor einiger Zeit in diese Sache eingearbeitet. Vorstudien zu einem zweiten Band. Nach dem Alten Orient wollten wir uns um die Ägäis kümmern: Mysterienvereinigungen, Geheimgesellschaften und Kriegerbünde im antiken Mittelmeerbereich. Tja, und dann kam etwas dazwischen …«

Dorkas ließ den Satz in der Luft stehen und schaute eine Weile versonnen durch die großen Glasscheiben auf die Straße hinaus. Dann riss er sich sichtbar zusammen und fuhr mit seinen Erklärungen fort. »Es gibt über diesen Bund nur wenige Nachrichten der antiken Schriftsteller. Eine Anrufung des Zeus ist überliefert, aber die besagt schon eine ganze Menge. Außerdem existieren eine kleine Tonstatue des Zeus Andronergetes und eine Amphore im protoattischen Stil, aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert. Beide Stücke wurden am selben Fundort ausgegraben, obwohl ihre Entstehungszeit weit auseinanderliegt.«

»Ich lerne viel von Ihnen, bloß mit dem Verstehen hapert es noch.«

»Das kommt gleich. Aber ich muss jetzt doch etwas trinken. Unser Freud Alex braucht sicherlich auch noch eine Weile.«

Als Dorkas mit einem Becher zurückkam und mit aufgepusteten Backen und rotem Kopf am Strohhalm gesaugt hatte – seine Technik zeigte in dieser Hinsicht deutliche Mängel – kam er auf seine Erläuterungen zurück.

»Ich habe mir die Mühe gemacht, mich intensiv mit der Amphore zu befassen. Seltsamerweise war ich der Erste, der versuchte, die Bilder darauf zu entschlüsseln. Was dabei herauskam, war allerdings ziemlich kurios.«

»Kurios? Sie machen mich neugierig.«

»Nun, was halten Sie zum Beispiel von harten Jungs in Frauenklamotten?«

»Ein antiker Tuntenball?«

»Ja und nein. Die Antike war in gewisser Hinsicht äußerst freizügig auf diesem Gebiet, andererseits stand diese Verkleidung ja unter einem religiösen Aspekt. Außerdem finden sich solche Maskeraden, auch unter umgekehrten Vorzeichen häufig. Bei bestimmten afrikanischen Stämmen gehört das noch heute zu Feiern der Initiation. Sie gucken immer noch so skeptisch …«

»Verzeihung, aber ich verstehe immer noch nicht so ganz, warum es geht.« Littles Gesicht verriet aber viel von seiner erwachten Neugier.

»Mein Fehler – also ich fange mal von der anderen Seite an. Zeus hat, soweit ich das aus den Bildern erkennen konnte, ein kleines Techtelmechtel mit einer Dame gehabt, aus dem eine Tochter entsprang, die bei den Mysterien eine große Rolle spielte. Na, kommt’s jetzt?«

»Nein.«

»Eine Frau bei den Mysterien des Zeus des Männermachers! Das ist doch auffällig.«

»Also, wenn ich meine Erfahrung auf diesem Gebiet summieren darf – es gibt wohl mehr als einen Knaben auf der Highschool, der erst durch eine Frau zum Mann gemacht wurde …«

»Sie machen es mir nicht einfach, Herr Little. Was ich sagen will, ist, dass wir es hier mit einem Beispiel eines mythisch umgeformten alten Kultes zu tun haben. Verstehen Sie, ursprünglich gehörten den Mysterien der uralten dreifältigen Muttergottheit. Das konnte man in Zeiten der Zeusverehrung natürlich nicht akzeptieren. Aber der Ruf des Mysteriums war so groß, dass man auch nicht riskieren konnte, es einfach zu zerstören. Zumal wohl auch die griechischen Frauen daran Anteil hatten. Was macht man? Richtig – Zeus muss her. Er treibt es mit der Dame des Hauses, sprich mit der Muttergottheit, sinnigerweise auf einem Löwenfell, wo doch der Löwe das Symboltier der alten Göttin war, lässt eine Tochter entstehen – und schon hat man beide Aspekte versöhnt. Natürlich hat sich niemand hingesetzt und gesagt: So machen wir das jetzt. Das entwickelte sich über viele Generationen hinweg.«

»Wie alt ist dieses – Mysterienspiel Ihrer Meinung nach?«

»Zehntausend Jahre ist nicht zu hoch gegriffen. Das verläuft sich nach hinten sozusagen im Dunkel der Steinzeit. Apropos Steinzeit: Man weiß, dass das Metall Eisen bei der Verehrung des Zeus Andronergetes absolut verboten war. Keine Eisengegenstände als Opfer. Bronze ja, besser noch Feuerstein. Schmiede waren ausgeschlossen. Noch ein Beweis für das Alter dieses Vereins.«

»Und noch immer weiß ich nicht, was das mit Ihrem Plan zu tun hat.«

»Wir nähern uns dem Kern der Sache. Schauen Sie nicht so unverschämt erleichtert! Also – wir haben einerseits ein umgeformtes Mysterium der Alten Göttin und andererseits einen Kriegerbund. Kreative Spannung nennt man so was heutzutage wohl. Sinn dieses Mysterienspieles, wie jedes anderen auch, war der Versuch, schlicht mehr Durchblick auf das Leben zu bekommen. Zu verstehen, wie man lebt, schlicht gesagt.«

»Bedeutet das, dass sich der Kriegerbund nach Ende der Aufklärung auflöst und keine Lust mehr auf Keilerei hat?«

»Unterbrechen Sie mich bitte nicht mehr. Ich komme nämlich zu einem wichtigen Punkt – das Labyrinth. Ruhe, Herr Little! Das Labyrinth, der typische Erscheinungsort der Alten Göttin. Das Labyrinth ist dreizehn Windungen tief. Dreizehn, die Zahl der Mondmonate. Mondmonate – Matriarchat – Alte Muttergöttin, klar? Im Gegensatz dazu Zeus, der Gott der Sonne, des hellen Tages. Noch ein Widerspruch. In dieses Labyrinth gehen die Angehörigen des Mysterienbundes, um sich den Prüfungen zu stellen.«

»Welchen Prüfungen denn?«

»Das weiß ich nicht. Vermutlich ging es alleine darum, zu überleben und herauszukommen. Denn, darauf kommt es an, dieses Labyrinth war beileibe nicht ihr Revier. Sie kennen die Geschichte von Theseus und dem Minotaurus?«

»In etwa. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Darauf, dass Ariadne, die verliebte Dame mit dem Faden, natürlich ursprünglich eine andere Rolle spielte. In der ursprünglichen Version des Mythos war sie nämlich die Herrin des Labyrinthes. Und es gab auch keinen Minotaurus, sondern die Freier mussten sich mit der Schönen in persona prügeln, um an sie heranzukommen. Das kommt ja oft genug vor. Die Sphinx, die nichts ahnende Wanderer von der Seite anquatscht, ist auch so eine von der Sorte.«

»Schön. Ihre einsatzbereiten Krieger tapern also durch das Labyrinth. Na und? Warum suchen Sie nicht nach dem Ausgang?«

»Weil dort die Göttin in ihrer dritten Gestalt auf sie warten würde. Verstehen Sie – die Alte, die Greisin, der abnehmende Mond – der Tod. Kali, die Schwarze, die Verschlingerin!«

»Der reinste Kultur-Mix! Klingt nach einem Problem.«

»Es ist ein Problem. Aber der Sinn solcher Veranstaltungen besteht ja darin, den Teilnehmern zu zeigen, wie sie einen Weg finden, der anderen verschlossen ist.«

»Also, wenn Sie mich fragen, da bleibt nur die Kavallerie oder der Luftweg.«

Dorkas strahlte über das ganze Gesicht. »Sie haben es erfasst«, rief er voller Enthusiasmus. »Der Luftweg. Das ist es.« Er lehnte sich zurück und zitierte, die Arme im Nacken verschränkt und den Blick gegen die Decke geheftet. »Dir, machtvoller Zeus, Blitzes Schleuderer, Eichenzerschmetterer, dir spreche ich diese Worte, dass du mich anhörst mit Großmut, vom Grunde der schwarzen Nacht erklingt meiner Zunge Beschwörung … so geht das eine Weile weiter, wunderschön und eindrucksvoll, aber das würde zu weit führen, wichtig ist die letzte Zeile … dass auf deines hoch kreisenden Vogels Schwingen ich reite, hinaus aus der Wirrnis tausendfach gewobener Nächte, hoch aufstrebend in den Glanz deiner Macht.«

Dorkas’ Stimme war laut und klingend geworden, als wollte er einen weitaus größeren Raum füllen.

Einige Leute drehten sich erstaunt um, und als Dorkas ihre Blicke bemerkte, räusperte er sich und war eine Weile bemüht, möglichst unauffällig an seinem Strohhalm zu saugen.

Little unterbrach das Schweigen. »Ich nehme also an, dass so eine Art Göttervogel eine Rolle in dem Mysterienspiel hatte?«

»Richtig. Aber nicht so eine Art, sondern der Adler, der Vogel des Zeus. Auf der Amphore ist deutlich dargestellt, wie ein Mann auf dem Rücken eines Adlers aus dem Labyrinth entkommt. Ein Nachklang ist übrigens die Geschichte von Ganymed. Sie wissen, der schöne Jüngling, den Zeus höchstselbst in Gestalt eines Adlers auf den Olymp entführte, um ihn dort zum Mundschenk der Götter zu machen. Als Kenner der Materie werden wir da natürlich misstrauisch. Denn woher holt Ganymed den Trank für die Götter? Aus einem Kessel richtig, und selbiger ist eigentlich ein Attribut der Alten Göttin, die auch manchmal Helden darin kochte, um sie neu zu formen. Ganymed hat also der weiblichen Konkurrenz zwei Aspekte – den Kessel und die Tatsache, dass er zumindest zum Teil für die Ernährung zuständig ist. Raffiniert was?«

Wieder nickte Little automatisch mit dem Kopf. Aus den Erzählungen von Dorkas war ihm ein Bild im Kopf geblieben – die verschlingende Göttin, die am Ende eines Labyrinthes sitzt. Dieses Bild brachte etwas in Little zum Klingen. Blitzschnell aufscheinende Erinnerungen, aus dem Dunkel gerissen wie Bilder in einem dunklen Zimmer, über die der Lichtstrahl einer Taschenlampe gleitet. Die verschlingende Göttin – Augen, die ihn kalt und spöttisch betrachten – weiße, unförmige Leiber – Fäden, die in knochendürren Händen gebündelt sind …

»Ist Ihnen nicht gut? Das liegt am Ketchup …«, erklang die besorgte Stimme von Dorkas in seinem Ohr.

»Es geht schon. Nur eine … eine Art Erinnerung. Sagen Sie, in welcher Gestalt hatte man sich diesen dritten Aspekt der Göttin vorgestellt?«

»Wie immer in diesem Bereich – tausend Möglichkeiten, alle widersprechen sich und alle sind wahr. Ich hatte schon Kali genannt. Denken Sie an die Märchengestalt der alten hässlichen Hexe. Ebenso gut könnte man an die böse Stiefmutter im Märchen denken, die zwar mies ist, aber meistens enorm knackig, sonst würde sie den alten Depp von König ja nicht um den Finger wickeln.«

»Erzählen Sie noch etwas von diesem Mysterienbund«, bat Little.

Dorkas schaute erstaunt auf. Er war sich sicher gewesen, dass er Little an den Rand des geistigen Abschaltens getrieben hatte. Interesse an seinem Forschungsgebiet registrierte er mit einer gewissen ungläubigen Rührung.

»Gerne. Wenn ich die Amphorenbilder richtig gelesen habe, und bei aller Bescheidenheit, besteht da bei mir kein Zweifel, fand die Einweihung in das Mysterium an drei Tagen statt.

Erster Tag: Jungs zieht die Röcke an, wenn ich mal salopp formuliere. Die Teilnehmer kleideten sich in Frauenkleidung. Einige malten sich gigantische Brüste auf und schminkten sich. Muss ganz fidel gewesen sein. Es wurden Reigentänze getanzt, die sonst den Mädchen vorbehalten waren, man machte Mädchenspiele, durfte lautstark heulen, wenn man sich wehgetan hatte, und schleppte Puppen mit sich herum.«

»Sehen Sie irgendeinen Sinn in dieser Veranstaltung?«

»Durchaus. Wie schon gesagt, etwas in der Art wird selbst heute noch praktiziert. Man nähert sich sozusagen dem Gegenpol – Mädchen kleiden sich als Jungen und umgekehrt. In unserem Fall vermute ich noch einen anderen Grund, eine Erinnerung daran, dass dieser Ort früher nur für Frauen zugänglich war. Sie kennen sicher die Geschichte von Achill, der von seiner Mutter bei den Frauen versteckt wird, um ihn daran zu hindern, nach Troja, in den vorhergesagten Tod, zu ziehen? Aber hier bin ich sicher, dass dieser Mythos auf mein Mysterienspiel zurückgeht.

Denn – zweiter Tag: alle Mann zu den Waffen. Die Frauenkleider wurden abgelegt und zertrampelt, und dann stürzten sich die Männer auf einen Haufen Waffen, der für sie bereitlag. Es folgte eine Löwenjagd, wobei alle die volle Kriegsmontur mitzuschleppen hatten. Löwen – wir erinnern uns, nicht wahr? Abends dann Waffenspiele, Scheingefechte und ein richtiges Männerbesäufnis.

Ja, danach am dritten Tag dann der Gang in das Labyrinth.«

»Unbewaffnet!«

»Absolut. Der Mann, der auf dem Adler davonreitet, ist sogar nackt dargestellt.«

»Wie habe ich mir dieses Labyrinth vorzustellen.«

»Sie fragen mich zu viel. Es könnte eine Höhle sein, vielleicht hat man Steinmauern aufgeschichtet oder tiefe Gräben gegraben. Vielleicht gibt es auch kein Labyrinth …«

»Und worüber unterhalten wir uns die ganze Zeit?«

»Es könnte sein, dass die Bilder, die der Maler auf die Amphore gebracht hat, etwas darstellen, das in dieser Form nur so gemeint war, aber nicht stattgefunden hat. Die Löwenjagd zum Beispiel. Haben die Männer wirklich einen Löwen gejagt? Möglich wäre es. Aber vielleicht musste sich auch einer der ihren als Löwe verkleiden und symbolisch gejagt werden. Habe ich das mit den Tonköpfen erwähnt?«

»Tonköpfe, nein?« Little war im Gesicht röter geworden, wodurch sich der Kontrast seiner Haut zu den Ketchupstreifen um seinen Mund verringerte.

»Also, vor dem rauschenden Fest am zweiten Tag, wurden dem Zeus Tonköpfe geweiht. Eine ziemlich offensichtliche Symbolik. Früher waren das mit Sicherheit echte Köpfe.«

»Ein Bund von Kopfjägern?«

»Ursprünglich sicherlich. Aber das wurde jetzt eben sublimiert und man nahm Tonköpfe. Ja, dieses Besäufnis. Keiner kann sagen, ob nicht Drogen genommen wurden, sodass der dritte Tag so etwas war wie eine Trancereise, also nicht durch ein wirkliches Labyrinth, sondern durch ein inneres, fantasiertes Labyrinth, und der Einweihungspriester trat als Adler auf, der die Irrenden aus der Verwirrung führt. Das gäbe Sinn, aber vielleicht war es auch ganz anders.

Ein echtes Labyrinth ohne Drogen oder beides mit Drogen – wann erfindet endlich jemand die Zeitmaschine, damit man bei diesen Dingen zuschauen kann?«

»Und nach dem dritten Tag war Schluss. Die Verwirrten waren normal, der Weg aus dem Labyrinth war gefunden?« Little zogen wieder Bilder seiner Experimente durch den Kopf.

»Exakt. Es gibt allerdings ein kleines Detail, das mich misstrauisch macht. In Zusammenhang mit diesem Kriegerbund ist kein einziger Feldherr je erwähnt worden, keine überlieferte militärische Leistung wurde je einem Mitglied zugeschrieben.«

»Vielleicht war sie ja so eine Art Ninjas, die sich immer im Hintergrund hielten?«

»Mag sein. Ich vermute eher, dass diese ganze Kriegersymbolik nur eine Metapher war. Mich überkam schon der Verdacht, dass der Übergang vom zweiten zum dritten Tag so etwas einen Aufstieg aus der Krieger- in die Priesterkaste bedeuten könnte. Wenn ich mal indische Maßstäbe anlege. Aber auch im Bereich der Priesterschaft hat man nie etwas von dem Bund gehört. Da ich mich aber weigere, zu glauben, dass hier nur Nieten am Werk waren, nehme ich an, dass es den Leuten um etwas ganz anderes ging. Sie fragen um was? Da muss ich passen – vielleicht entwickelten sie so eine Art Yogatechnik, die Disziplin des Waffen tragenden Kriegers wurde auf eine andere Ebene gehoben. Ich denke an die ganze Philosophie, die sich die Japaner um die Samurai herum aufgebaut haben. Der wahre Krieger hat ein verrostetes Schwert, denn ihn umgibt die Aura der Unbesiegbarkeit, die jeden Feind flüchten lässt. Das stammt, glaube ich, von Hagemono. Na ja, es ist klar, was ich meine.«

»Sie meinen, dass Herr Zeus Männer machte, die nachher auf dem Hügel saßen und meditierten. So in der Art von Fool on the Hill

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, dass hier irgendetwas geformt wurde, das die Möglichkeit zur Wirkung hatte. Dass diese Wirkung nicht offensichtlich war, bedeutet absolut nichts. Vielleicht war es so gewollt. Eine Geheimgesellschaft, wenn Sie so wollen. Aber das führt jetzt zu weit. Ich habe ich ganze Geschichte nur erzählt, weil ich Sie heute in die Sache einspannen muss.«

»In welche Sache? In diese Befreiung einer gefangenen Seele aus einem Irrgarten?«

»Richtig. Ich sage es mal so – man gibt mir eine Rechenaufgabe. Ich suche nach einer Formel, die mir die Berechnung ermöglicht. Hier ist die Formel – eine mythische Formel sozusagen. Ich habe die Geschichte, ich habe das wichtige Gebet an Zeus, und ich werde die Statue des Zeus Andronergetes zur Verfügung haben.«

»Sie können Sie ausleihen? Das ist großzügig von den Besitzern.«

»Es stimmt zwar, dass ich die Statue auszuleihen gedenke. Allerdings setze ich die Großzügigkeit des Leihgebers aus praktischen Gründen voraus.«

»Was habe ich mir nun darunter vorzustellen?«, bohrte Little, etwas misstrauisch geworden, nach.

»Ich lasse die Statue stehlen«, antwortete Dorkas mit gesenkter Lautstärke.

»Daher dieser seltsame Typ …«

»Dieser seltsame Typ heißt Alex Pillbury und ist ein Genie auf seinem Gebiet. Ich lernte ihn vor einiger Zeit zufällig kennen und ahnte schon damals, dass man die Bekanntschaft mit solchen Leuten pflegen muss. Ah, da kommt er ja!«

 

Pillbury schlurfte zwischen Tischen auf sie zu. Seine Schultern bewegten sich, als würde er einen Raddampfer imitieren und dabei schnippte er lässig mit den Fingern. Er zog sich mit dem Fuß einen Stuhl heran und nahm dann breitbeinig Platz, wobei er die Arme auf die Lehne legte.

»Das wird ‘ne voll geile Schaffe, Alter«, beschied er Dorkas die Zusammenfassung seiner Erkundung. »Passt alles wie der Arsch auf den Eimer. Heute früher Schluss, weil – da treffen sich irgendwelche Fritzen zu ‘ner Veranstaltung. Kommt alles durch den Nebeneingang, aber die Alarme sind solange lahmgelegt. Schätze, die Säcke werden hinterher noch das Buffet leerfressen, also Ende offen, nicht vor Mitternacht. Und wenn die Jungs dann den Laden dichtmachen – Huihuihuihui.«

Pillbury konnte die Alarmanlage so gut nachmachen, dass unter den Angestellten hinter der Theke fast eine Panik ausbrach. Pillbury schlug sich auf die Schenkel. »Äh geil, voll der Lärm, und der Gartenzwerg ist schon seit Stunden bei mir inner Tüte. Ich mach mich nass, ist das ein Hammer.«

»Ruhig Alter, bisschen Respekt. Is’ nich mit Gartenzwerg. Das ist Zeus, der Chef persönlich«, sagte Dorkas.

»Okay, okay, Alter. Ich mach deinen Zeus schon nich’ an. Is bei mir in besten Händen.«

»Kein Zweifel, du bist der Beste«, bestätigte Dorkas und musste seine Handflächen beim Abklatschen mit Pillbury wieder strapazieren. »Gut, das läuft also bestens«, stellte Dorkas fest. »Es gibt noch etwas.« Er schaute Pillbury nach, der eben zur Theke tänzelte. »Ich brauche Energie.«

»Was«, fragte Little verständnislos. »Strom? Einen Stromerzeuger oder was?«

Dorkas schüttelte entsetzt den Kopf. »Nein doch. Denken Sie an den Abend des zweiten Tages. Eine Gruppe verschwitzter Krieger, bis in die Haarspitzen vollgepumpt mit Testosteron, nachdem sie den Tag mit einer Jagd in der Sonnenhitze des Mittelmeerraumes verbracht haben, Waffenspiele und Scheingefechte absolviert haben. Diese Art von Energie meine ich. Menschliche Energie. Die Energie der Aggressivität!«

Dorkas lächelte Little an, und etwas in diesem Lächeln machte Little Sorgen. »Sie sagten, dass Sie mich einplanen. Sie wollen doch nicht etwa …?«

»Sie haben es erfasst. Wer anders als Sie könnte mir dazu dienen? Bevor Sie jetzt noch viel Protest anmelden, der sowieso überflüssig wäre – Sie wollen doch auch Tony Tanner treffen, nicht wahr? Und hier sehe ich die einzige Möglichkeit, die wir haben, um dieses Treffen zu arrangieren.«

»Gäbe es keine Alternative? Diese Stadt ist doch voller Spinner, die bei jeder esoterischen Veranstaltung voll dabei sind?«

»Erstens sind diese Spinner Schlaffsäcke – Ausnahme bestätigen die Regel. Zweitens rennt uns die Zeit davon. Wenn meine Vermutung hinsichtlich Herrn Tanner richtig ist, dann sollte er demnächst Seele und Körper wieder zusammenführen, sonst haben wir einen ganz banalen medizinischen Fall eines Komapatienten, der nicht wieder aufzuwecken ist. Hei Alter, wo geht denn heute die Post ab?»

»Mädels?«, erkundigte sich Pillbury.

»Nein, ich brauche so eine Art Prügelei. Nicht ganz, aber es muss so etwas in der Luft liegen.« Dorkas war von seinem eigenen Mut ganz überrascht.

Pillbury überlegte eine Weile und zuckte dann die Achseln. »Sieht Scheiße aus. Fußball ist erst morgen, da gäb’s ja sonst geilen Rabatz. Ich glaube auch nicht, dass sich die Hools heute zu ‘ner Klopperei treffen. Machen die nur am Wochenende, weil ‘se sonst ja inner Anwaltskanzlei oder so Geld scheffeln, die Ärsche, die.«

Er kratzte sich am Kopf. Dann hellte sich seine düstere Miene auf. »Wie wär’s mit Boxen?«

»Boxen ist gut.«

»Ich weiß, Alter. Wrestling. Das ist es. Ist alles nur Show, aber die Zuschauer sind härter drauf als die Fettsäcke im Ring. Moment. Ich hab doch irgendwo ein Plakat gesehen.«

Er stand auf und ging auf die Straße, um kurz darauf mit einem Zettel, zurückzukommen, den er von einer Wand gerissen hatte. »Hier – Wrestling. Das is’ heute. Na ja, wird keine volle Halle geben, bei diesen Luschen, die da antreten. Ich wette, die setzten sich zum Pinkeln hin, so sehen die aus. Aber mehr is’ nich’ heute.«

Dorkas schaute auf die Uhr. »Zwei Stunden, dann kannst du die Sammlung Owen-Shrewford kurz besuchen. Dann geht es ab in die Halle – falls da keine Stimmung ist, musst du was organisieren, Alter. Und ich werde inzwischen noch ein paar Sachen erledigen. Wir treffen uns vor der Halle.«

***

»Sagten Sie dreißig Stück, Sir?«, fragte die junge Verkäuferin.

Der dickliche Mann nickte unverdrossen. »Ich sagte es in der Tat, und ich meinte es auch exakt so, wie ich es sagte.«

»Soll ich es Ihnen als Geschenk einpacken, Sir?«

»Nein, danke, sehr freundlich, aber sie sind für mich selbst gedacht. Ach, noch eins: Wie kriege ich das Zeug wieder herunter?«

»Ich empfehle Ihnen Demaquillage Soft Pads mit besonders ergiebigem Alantonin-Anteil für die Haut der Frau über dreißig. Wie viel wollen Sie?«

Der Mann schaute an sich herunter und schien für einen Moment in Berechnungen über die Quadratmeterzahl seine Hautoberfläche vertieft. »Geben Sie mir bitte zehn Pakete«, antwortete er dann.

Nachdem der Kunde gegangen war, blieb der Verkaufsraum kurze Zeit leer. Dann betrat ein hagerer, weißhaariger Mann das Geschäft und erkundigte sich nach einer italienischen Pflegeserie für Herren. Er bekam das Gewünschte und unterhielt sich noch kurz mit der Verkäuferin über das Thema männliche Kundschaft und ihre Wünsche. Als Steele den Laden verließ, musste er fast gewaltsam den Gedanken an seine Frau verdrängen, die ihm irgendwann einmal – mit einem neckischen Du bekommst mir zu viele Knittern, mein Schatz – diese Pflegeserie geschenkt hatte.

Immerhin hatte er etwas über den Einkauf von Dorkas erfahren. In gewisser Weise passte der Einkauf von Dorkas wieder in das Bild, das sich Steele von ihm gemacht hatte: dreißig Lippenstifte. Kreisch-Rot, wie die Verkäuferin mit einem verächtlichen Senken der Mundwinkel bemerkt hatte. Das ließ an eine Orgie größeren Ausmaßes denken. Aber warum hatte Dorkas in den letzten Stunden fünfzehn Säcke Blumenerde, vier Eichen-Bonsai und eine große Plastikplane gekauft und zu sich nach Hause schaffen lassen? Und warum hatte er Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, bis er in einem kleinen Kramladen eine original Steinaxt aus Neuguinea gefunden und erstanden hatte?

Steele ging im Kopf sämtliche Erklärungsmöglichkeiten durch. Aber keine vermochte Eichen-Bonsais und Lippenstifte in einen befriedigenden logischen Zusammenhang zu bringen. Und was um alles in der Welt hatte dieser Fischglatt damit zu tun?

Wenn diese Halle jemals bessere Tage gesehen haben sollte, dann lagen diese Tage weit in der Vergangenheit. Jetzt war sie eine schäbige Hülle für die Vergnügungen des zeitgenössischen Großstädters, und sie zeugte in unüberbietbarer Eindeutigkeit für die Tristesse moderner Vergnügungen.

 

Die steil aufsteigenden Zuschauerränge mit ihren harten Holzsitzen drängten sich wie sensationsgeile Katastrophengaffer eng um eine verschüchter-kleine Mittelfläche und lehnten sich mit dem Rücken gegen nackte Ziegelwände. Das Dach ruhte auf einem Gebälk aus rostfarbenen Eisenträgern, über denen sich eine tintige Finsternis angesiedelt hatte. Starke Lampen hingen von den Trägern herunter und schufen einen Lichtkegel über dem Ring, der unten aufgebaut war.

Little rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. Dieser Ort bedrückte ihn. Mehr noch, er bedrängte ihn, er beflüsterte Little mit tausend weichen Stimmen, zugleich unhörbar und unüberhörbar. Seine Haare schienen zu Berge zu stehen, sie verwandelten sich in weißes, fein gegliedertes Wurzelwerk, das die Atmosphäre dieser Halle aufsaugte und mit verstärktem Druck in sein Bewusstsein presste. Littles Augen fielen auf ein halb abgerissenes Plakat, das noch an einer abstoßend mürrisch aussehenden Mauer pappte. Er sah es und im gleichen Moment verspürte er den sauren Schweiß der Niederlage, das Johlen der Masse, den Schmerz an einer Unterlippe, die ebenso zerplatzt war wie die Lebensträume eines Mannes, der es nicht einmal schaffte, sich hier mannhaft aus der Affäre zu ziehen, weil seine Schmerzen und seine Angst vor der nächsten Runde zu übermächtig waren.

Während er die Bitternis dieses Zerschmettertwerdens auf der Zunge spürte wie den Geschmack eines giftigen Pilzes, öffnete sich unter Little der Boden, und er spürte den Sog, den Kegel eines grauen Strudels, der die Nichtigkeit alles menschlichen Bemühens in sich einsaugte und der tief, tief reichte, bis in die Schächte der Verleugnung und der Vernichtung, und dort saßen sie und hielten die Fäden in der Hand und betrachteten kaltäugig und mitleidlos das hektische Strampeln von Kreaturen, die sich in einem Anfall von eitler Selbstüberschätzung als Krone der Schöpfung zu bezeichnen wagten.

Langsam rutschte Little über den Rand, wurde von dem Sog angezogen, gab seine Abwehr auf und gab sich selbst auf. Da klatschte eine harte Hand auf seine Schulter, schmerzhaft und erschreckend plötzlich, und schockte ihn zurück in sein Dasein und die Welt der Regel Numero Zwei.

»Voll die Scheißbude hier«, sagte Pillbury. »He Alter, wo is’ dein Kumpel?«

»Dorkas? Der steht noch vor dem Eingang.«

»Äh geil, der wartet draußen auf mich und ich bin hier drinnen!« Pillbury sann einen Moment über dieses Phänomen nach und drückte Little dann eine braune Papiertüte in die Hand. »Vorsicht, nich’ werfen, gut aufpassen drauf, weil das Ding da drin is’ für Dorkas wertvoll. Hat mich was an Schweiß gekostet, war aber trotzdem ‘ne fette Kiste. Also, bis dann.«

Die Tüte auf den Knien, von beiden Händen festgehalten, setzte sich Little steif hin und wartete ab. Unter seinen schwitzigen Handflächen spürte er einen harten Gegenstand. In diesem Moment wusste er nicht, was in der Tüte war, aber allein die Härte und die Festigkeit des Inhaltes hatte etwas Beruhigendes.

Kaum eine Minute war vergangen, da konnte sich Little schon wieder munter umschauen.

In die Halle passten zweitausend Zuschauer, wie Dorkas überschlägig berechnet hatte. Aber jetzt waren vielleicht nicht einmal hundert Personen anwesend, sodass sich der Eindruck einer verlassenen Halle einstellte. Direkt am Ring saßen einige Damen, die das Mittelalter schon hinter sich gelassen hatten und diese traurige Tatsache mit Hilfe von blondierten Haaren und multiplen Schminkeschichten zu verdrängen dachten. Einige Rentner waren da, einige Männer, die aussahen, als hätten sie früher selbst gecatcht, und einige Schüler, die sich mit zusammengeknüllten Papiertüten bewarfen. Ihre dünnen Stimmen taumelten durch die Halle wie einsame Luftschlangen auf einem missratenen Fest.

Im Sturmschritt erschien Dorkas aus der düsteren Öffnung eines Ganges und wuchtete sich, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hoch. Pillbury folgte ihm und redete auf ihn ein. Schnaufend erreichte Dorkas den Platz und neben Little und warf sich mit letzter Kraft auf den Sitz. Wortlos reichte ihm Little die Tüte.

Pillbury nahm Aufstellung und deckte die beiden gegen Beobachter von der Gegenseite. Mit großer Vorsicht entfernte Dorkas die Tüte und zog eine handlange Figur heraus.

»Das ist er«, flüsterte er ehrfurchtsvoll. »Zeus Andronergetes, Zeus, der Männermacher. Schauen Sie, dreitausend Jahre ist diese Figur alt, 120 Generationen von Menschen sind entstanden und vergangen und all dieses ist hier in dieser Figur enthalten. Es – ist -unglaublich.« Seine Stimme brach vor Rührung, und er musste schniefend die Nase freimachen.

Little beugte sich vor und betrachtete die Figur, die Dorkas so aus der Ruhe brachte.

 

Lang wie eine Hand, aus hellbraunem Ton gemacht, zeigte sie eine stehende Gestalt in langem Gewand, die ihre Arme zur Seite ausgebreitet und zugleich erhoben hatte. Das Gesicht hatte einen vogelartigen Ausdruck, denn die Nase war übermäßig betont. Das Haar fiel bis auf die Schultern, der Schöpfer der Statue hatte sich viel Mühe damit gemacht, die einzelnen Locken durchzuformen.

Die eindrucksvollen, großen Augen waren mit schwarzer Farbe bemalt, ebenso der Mund, der sich zu einem feinen Lächeln formte. Das Gesicht hätte auch einer Frau gehören können, wenn nicht der gewellte, sorgsam frisierte Bart gewesen wäre, der Wangen und Kinn bedeckte.

»Man nennt diese Werke Psi-Figuren, weil ihre Armhaltung dem griechischen Buchstaben Psi ähnelt. Eigentlich sind die Figuren immer weiblich. Das ist die einzige mir bekannte Ausnahme. Aber ich habe mich ja schon zur Genüge darüber ausgelassen, dass hier ein Kult der Muttergöttin umgeformt wurde.« Nach dieser geflüsterten Erläuterung, drehte Dorkas die Statue um und untersuchte die Rückseite.

»Was suchen Sie?«, fragte Little.

»War nur eine Vermutung. Auf der Amphore scheint es, als würden die Männer, die dem Labyrinth entronnen sind, mit einem Zeichen auf den Schultern versehen. Vielleicht so eine Art Tätowierung oder eine Schmucknarbe. Leider ist diese Stelle der Amphore stark zerstört, sodass sich kein klares Bild ergibt.« Nachdem er seinen Schatz wieder sorgfältig verpackt und in die Tasche gesteckt hatte, schaute sich Dorkas stirnrunzelnd um.

»In einer Gruft ist mehr Stimmung«, befand er. Seine Zeigefinger tippte auf Pillburys schwarze Lederjacke, die bei den derzeitigen Temperaturen eine höchst unpassende Kleidung darstellte. »Dein Einsatz, Bruder.«

»He Alter, was soll ich machen? Die Leute kitzeln oder was?«, meckerte Pillbury und zwinkerte hektisch mit den Lidern.

»Bleib cool, Mann«, beruhigte ihn Dorkas. »Nur kein Stress, alles easy. Ich sag dir, was läuft.«

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und erhob die Arme, als würde er segnende oder triumphierende Haltung der Zeus-Statuette imitieren wollen. »Ab jetzt ist hier Party«, verkündete Dorkas. Dann schob er seine Hand in den Hosenbund und begann, in seiner Unterwäsche zu wühlen.

Little und Pillbury starrten ihn entgeistert an.

Dorkas fummelte mit finsterer Miene in die Tiefen seiner Intimbekleidung und förderte dann einen Packen zusammengerollter Geldscheine ans Licht. »Sorry, Alter, das da unten ist mein Tresor. Geheimversteck«, erklärte er, während er das Gummiband zur Seite rollte und mit dem Daumen über die Scheine fuhr. Dann drückte er das Geld dem erstaunten Pillbury in die Hand. »Also, es ist Party-Time. Alles ganz einfach. Du kaufst ein paar Freikarten, organisierst ein paar Getränke und sprichst ein paar Leute an. Du kennst zwei und die kennen wieder zwei und so weiter. Schneeballprinzip. Schaffst du das?«

Pillbury wog das Bündel Geldscheine in seiner Hand. »Damit kriege ich die abgedrehteste Party der Woche hin.«

»Noch eins«, sagte Dorkas und wurde ernst. »Ich brauche echte Stimmung, verstehst du? Die Halle muss kochen. Ich will zweitausend Leute auf den Stühlen haben, egal, welche Fettsäcke sich da unten blamieren. Also – du nimmst dir zwei oder drei deiner Kumpel, platzierst sie auf der anderen Seite und den andern da gegenüber und ihr heizt die Leute an. Schreit Parolen, klatscht in die Hände, wird euch schon was einfallen. Sprecht euch ab, damit ihr für jeweils für den andern Kämpfer einsteht, klar?«

Dorkas schaute auf die Uhr und rechnete. Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er versuchte, sich über den Verlauf des Abends klar zu werden. »Okay, Alter«, fuhr er dann fort. »Du hast eine Stunde, um die Halle vollzukriegen, und eine weitere, um die Leute an die Decke zu bringen. Um elf Uhr muss hier die Hölle los sein. Schaffst du das mit der Knete? Der Rest ist für dich.«

»Schon unterwegs«, rief Pillbury von der Treppe herauf.

Dorkas nickte zufrieden. »Guter Junge. Es geht nichts über zuverlässige Mitarbeiter. Und nun zu Ihnen, Herr Little. Ihr Einsatz ist um fünf Minuten nach elf. Zwei-drei-null-fünf.«

Sie machten einen Uhrenvergleich. Dorkas bestand darauf, dass ihre Uhren auf die Sekunde genau gingen. Zum Glück trugen beide recht teure Zeitmesser, mit denen man solche Manipulationen ohne großen Aufwand durchführen konnte.

»Saugen Sie es in sich auf«, forderte Dorkas. »Ohne Sie ist alles sinnlos. Also – nehmen Sie die Energie in sich auf, bündeln Sie die Kraft und visualisieren Sie einen Strom von Energie, der Sie zu mir senden. Ich habe es Ihnen erklärt. Hierauf kommt es an.«

Dorkas tatschte mit den Fingern auf Littles Bauch. »Hier ist das Zentrum – Hara, die Mitte. Von hier aus schleuderten die Zauberer der Angelsachsen ihren Willen heraus wie einen Spinnenfaden, der sich um das Ziel wand und mit dem sie sich zu dem Ziel hinzogen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« Littles Stimme war brüchig, die Erwähnung von Fäden hatte ihn schon wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. »Das ist alles – so bizarr. Ich komme mir vor wie in einer Freak-Show …«

»So, so!« Dorkas beugte sich nach vorn und brachte sein Gesicht vor dasjenige Littles. »Hören Sie«, sagte er ernst. »Wenn Sie etwas wirklich Bizarres sehen wollen, dann schauen Sie sich die übermüdeten Visagen all der Londoner an, die sich morgens in der Frühe, wenn sämtlicher Biorhythmus noch nach Schlaf schreit, in den U-Bahn zusammenrotten, um zu einem Job zu fahren, der sie anödet, damit sie Geld verdienen für Dinge, die ihnen nichts nutzen, nichts bedeuten, die gesundheitsschädlich sind oder deren Gebrauchsanweisung sie nicht verstehen. DAS ist bizarr. Und dass sich diese Leute von einem Grinsemann aus Downing Street bestätigen lassen, dass das alles so sein muss. Die echten Freak-Shows laufen zur Hauptnachrichtenzeit. Was wir machen, ist lediglich ein bisschen traditionelle Folklore. Also, in diesem Sinne – Sie schaffen das schon. Pillbury erinnert Sie an die Uhrzeit. Nach der Veranstaltung kommen Sie direkt zu mir. Ich muss jetzt gehen, ich habe noch Vorbereitungen zu treffen. Nicht vergessen – zwei, drei, null, fünf – alle Energie, die Sie in sich aufnehmen können. Bis dann.«

 

Mit einer flatternden Handbewegung verabschiedete sich Dorkas und hastete zu einem der Ausgänge.

Little schaute ihm mit einer gewissen Bewunderung nach. Dieser Dorkas hatte das Zeug zu einem Anarchisten der Spitzenklasse. Dann versuchte er, sich zu entspannen. Für eine Stunde geschah nichts, wenn man davon absah, dass aus Lautsprechern scheppernde Rockmusik troff. Dann erschienen die ersten Trüppchen in den Zugängen und nahmen ihre Sitzplätze in Beschlag. Tüten mit Bierdosen wurden in die strategisch günstigste Position gebracht, und bald erklang von überall das öffnende Zischen. Es dauerte nicht lange, bis ein ständiger Strom von Menschen durch die Eingänge drang: Alte Männer und Frauen, die sich erstaunt umsahen und mit Sicherheit zum ersten Mal im Leben an einem solchen Ort waren, schlurften herein; blasse Büromenschen, die mit ihren grauen Krawatten und schlecht sitzenden Jacketts in dieser Umgebung so exotisch wirkten wie bunt bemalte Urwaldindianer; Hausmuttchen in geblümten Kitteln, die auf den Weg vom Laden an der Ecke kurz hierhinein zu schauen schienen; die gesamte männliche Besatzung eines Altenheims, mit der verschmitzt-verrunzelten Entschlossenheit, einen tollen Abend zu haben und alle Mädels unter siebzig anzubaggern, bis zu dem gesamten statistischen Querschnitt des Völkchens, das sich abends auf Großstadtstraßen herumtreibt, von Goldkettchen-Jungs mit den lackierten Fingernägeln über geschniegelte Kultur-Schickimickis bis zu den sinistren Typen in den schwarzen Lederjacken mit Nietenbesatz.

Pfiffe schrillten, Anfangen-Rufe erklangen und wurden mit rhythmischem Klatschen unterstützt.

Little zuckte zusammen, als sich Pillbury neben ihn setzte. Dieser trug zwei schwere Tüten auf dem Arm, ließ sie fallen, sodass Bierdosen herauskollerten, und begann, die Dosen zu verteilen. Für Little hatte er Mineralwasser mitgebracht.

»Kein Sprit, Alter. Du musst eine klare Rübe behalten – ANFANGEN! ANFANGEN! – ich weiß nich’ warum – ANFANGEN, HOJAHOJAHE – aber wenn Dorkas das meint, isses okay.«

Little nickte nur und war dankbar, das Mineralwasser durch die trockene Kehle rinnen zu lassen. Ihn überkam das Gefühl, zum ersten Mal im Leben etwas zu machen, was keine Spielerei war. Bisher hatte er gespielt – gefährliche Spiele, aber Spiele. Jetzt kam es auf ihn an und er zweifelte, ob er wirklich das Vertrauen verdiente, das Dorkas in ihn setzte.

Aus den Lautsprechern krächzte ein blecherner Tusch, der wie der Todesseufzer des letzten Dinosauriers klang, das Licht wurde abgedunkelt und im Kegel eines einzelnen Scheinwerfers erschien unten ein Mann in einem bunten Paillettenanzug.

Das Publikum feierte sich inzwischen schon selbst. Die Altmännerriege probte unter heroischer Vernachlässigung ihrer Bandscheibenprobleme und Hüftversteifungen La Ola.

Der einsame Pailletten-Mann griff mit erstaunlicher Gelassenheit nach einem Mikrofon und versuchte, die Aufmerksamkeit des werten und so überraschend zahlreich erschienenen Publikums auf sich zu ziehen. Es gelang ihm, aber erst, nachdem aus der Anlage das schmerzhafte Kreischen von Rückkoppelungen den Lärm in der Halle schlagartig zum Verstummen gebracht hatte. Der Ringrichter wurde vorgestellt und im klugen Vorgriff auf kommende Entscheidungen eifrig ausgepfiffen.

Dann begann der Einzug der Gladiatoren. Die Kämpfer trugen eindrucksvolle Namen wie West End Bone Crusher oder Soho Undertaker und bemühten sich, mit finsterem Gesicht ihren Namen gerecht zu werden. Sie marschierten mit geblähter Brust und großspurig abgewinkelten Armen aus den Katakomben der Halle herein. Einigen sah man an, dass sie tägliches Training hatten, weil sie für die Müllabfuhr Container durch die Gegend schoben, andere wirkten mit ihren rundlichen Formen eher wie verfettete, weibische Eunuchen.

Die Paarungen wurden ausgelost. Die abschließenden Worte über fairen Sport und Anstand wurden abgekürzt, weil die ersten Bierdosen flogen. Selbstverständlichen waren die Dosen leer und sie wurden auch nicht gezielt geworfen, sondern bildeten eher einen kreativen Konfetti-Ersatz.

 

Der erste Kampf wurde eingeläutet. »DU WANDELNDER AIR-BAG! DU KANNST DOCH NICH’ MAL DEINEM SPIEGELBILD EINE REINHAUEN! DU FEHLERHAFT GEKLONTER MÜLLSACK! DU BIST SO HÄSSLICH, DASS DU DICH IM DUNKELN RASIEREN MUSST! HAU AB AN DEINEN STRAND ZU DEN ANDEREN SEE-ELEFANTEN!«

Pillbury sprang auf seinen Sitz und grölte, mit den Händen fuchtelnd, seine Gemeinheiten. Zwei, drei Einpeitscher von der Gegenseite antworteten ihm.

Die Altmännerriege bezichtigte lautstark beide Kämpfer einschließlich des Ringrichters und des entfernter sitzenden Publikums als »schwule Katamarane«, zweifelhafter Herkunft, politischer Abartigkeit und mangelnder Fähigkeiten als Liebhaber und Autofahrer. Anschließend begann sie zu schunkeln und patriotische Lieder zu singen, die von den Umsitzenden entweder aus voller Kehle mitgeschmettert oder ebenso laut niedergebrüllt wurden.

Nach kurzer Zeit war Pillbury schweißgebadet. Er ergänzte seine Körperflüssigkeit aus einer Bierdose und begann dann erneut, mit schleppender werdender Zunge, die Zuschauer aufzuheizen. Im Grunde war das schon nicht mehr nötig. Die Luft war zum Schneiden dick, grauer Zigarettenqualm zog in Wolken zu den Scheinwerfern hoch, der Geruch von Bier und Schweiß legte sich auf die Lunge und machte das Atmen schwer.

Die Kontrahenten im Ring wurden vom Publikum mit unerhörtem Gebrüll zu Höchstleistungen getrieben. Sie schmissen sich krachend auf die Bretter, sie nutzten die Seile wie Katapulte und prallten mit schmerzhaftem Klatschen zusammen, sie ließen den Boden wie eine Kriegstrommel unter ihren Tritten dröhnen.

Staub wolkte unter ihren Füßen auf und stieg hoch bis zu den Lampen. Der Ringrichter wuselte bei diesem Mischmasch aus Kinderspiel und Gemetzel wichtigtuerisch um die Kämpfer herum und bemühte sich vor allem darum, nicht in die Reichweite der Schläge zu geraten. Der Lärm in der Halle wurde mit jeder Minute betäubender. Sprechgesänge (Hässlich, hässlich, hässlich wie die Nacht, sag’ welch’ Monster hat dich zur Welt gebracht) wurden aus dem Stegreif erfunden und mit der langsamen Ernsthaftigkeit eines Kirchenhymnus vorgetragen.

Frauenstimmen kreischten Anweisungen für die nächsten Aktionen (Tritt dem Sack das Knie durch, du feiger Versager!), rhythmisches Klatschen und Trampeln peitschte Signale der Erregung durch die Ränge, ein Wald von erhobenen Armen, wie ausgefahrene Stacheln eines Urtieres zuckte im Gleichtakt. Die Halle kochte.

»’ne Viertelstunde noch«, stieß Pillbury Little in die Seite. »Denken Sie daran!«

Fortsetzung folgt …