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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Das Netz der Eisernen Seite – Teil 3

Die Grenze zwischen hinreißend und billig ist ein schmaler Grat, und es bedarf einer gehörigen Portion Erfahrung, Selbstkritik und Selbsterkenntnis, um stets auf der richtigen Seite zu bleiben. Lucille Chaudieu besaß diese Fähigkeiten neben einer ganzen Reihe weiterer solcher, und so trug sie ein dunkelrotes Seidenkleid, das die Schultern frei ließ und eine Handbreit über dem Knie endete, das einiges andeutete und versprach wie eine kultiviert flüsternde Kupplerin und nichts verriet.

Lucille war sich ihrer blutgefäßsprengenden Aura durchaus bewusst und erlaubte sich, während sie bei Fenocchio einen Eisbecher genoss – der garantiert nichts von dem enthielt, was ihr Anette anempfohlen hatte – ihre Zunge in etwas übertrieben verspielter Manier über den Löffel gleiten zu lassen. Es gehörte zu ihrem Beruf als Stewardess, Menschen einzuschätzen. Daher brauchte sie nur Sekunden, um hinter der Lässigkeit des Mannes in dem hellen Leinenanzug, der jetzt durch die Tür trat, eine unterdrückte Unruhe zu erkennen.

Dieser Mann stand unter Spannung. Er war nicht so, wie er wirkte. Er war gut gekleidet, aber seine Eleganz wirkte oberflächlich und aufgesetzt. Wie hieß es so schön: Eleganz können nur Menschen besitzen, die etwas zu sagen haben.

Für Lucille gab es keinen Zweifel mehr. Dieser Blender, Befehlsempfänger ohne viel Eigenleben und voller verborgener Nervosität, war ihr Mann. Sie hatte die geheime Beziehung, die zwischen ihnen bestand, zuerst erfasst und sie wollte diesen Vorteil nutzen.

Als seine Blicke, die er über die Gäste schweifen ließ, über sie hinweg glitten, winkte Lucille unmerklich mit ihrem silbernen Eislöffel. Der Mann schien für einen Moment wie steif vor Kälte zu werden und schlenderte dann zu Lucilles Tisch.

»Ist dieser Platz noch frei, Mademoiselle?«

Lucille antwortete lediglich mit einem kurzen Nicken und beachtete ihr neues Gegenüber nicht weiter. Der Mann gab seine Bestellung auf und ließ, so fand zumindest Lucille, allzu sehr den Kenner und Stammgast heraushängen. Sie wartete noch eine ganze Weile, bis sie ihren ersten Stich setzte.

»Wann kann ich ihn sehen?« Der Mann suchte mit der Löffelspitze die Schokoladenstückchen aus dem Stracciatella-Eis und knackte sie hörbar zwischen den keramikverblendeten Schneidezähnen.

»Wann Sie möchten. Er wird nicht mehr sehr lange durchhalten. Eine Viertelstunde maximal, und wenn er das Maul hält, sind wir hilflos, denn man kann ihn nicht hart anpacken. Sagen wir: nicht mehr. Er hat es hinter sich.«

»Bisher hat mir noch jeder gesagt, was ich wissen wollte!« Mit hochgezogenen Augenbrauen ließ Lucille die eindeutige Doppeldeutigkeit ihrer Aussage wirken und stellte fest, dass sie Punkte gesammelt hatte. Zwar wusste sie immer noch nicht genau, welche Rolle sie spielte und worum es eigentlich ging, aber abgesehen davon hatte sie ihren Spaß. Für den Fall, dass der Spaß enden sollte, hatte sie ebenfalls vorgesorgt.

In ihrer Krokoledertasche, die von der Stuhllehne baumelte, warteten zehn rot lackierte, künstliche Fingernägel auf ihren Einsatz, Schmuckstücke aus härtestem Stahl mit Schneiden, die an Schärfe nur noch mit einem der modernen Keramikskalpelle amerikanischer Chirurgen vergleichbar waren.

Diese einzigartigen Waffen waren ihr wertvollster Schatz. Nicht allein die Tatsache, dass es solche Kunstwerke der Messertechnik in der nichtjapanischen Welt wohl kein zweites Mal gab, machte sie so wertvoll. Sie waren das Geschenk ihres abgestürzten Freundes, der unter dem Kommando von Montalban gestanden hatte. Er, dem es leicht fiel, in der ganzen Welt Freunde zu finden, hatte sie vom kaiserlichen Küchenmessermacher in Tokio erhalten – und Lucille hatte es ihm nicht geglaubt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass es einen kaiserlichen Küchenmessermacher überhaupt gab. Später hatte sie gewusst, dass sie ihm Unrecht getan hatte – denn sie selbst war später Augenzeugin der jährlichen Todeszeremonie für ausgediente japanische Küchenmesser geworden, was ihr einen Einblick in eine vom Westen völlig unverstandene Kultur gegeben hatte.

Getragen hatte sie ihre tödlichen Schmuckstücke schon oft, allein vor dem Spiegel, und sie hatte viele Stunden damit verbracht, sie aufzukleben und zu entfernen, sie zu tragen und sich mit ihnen zu bewegen, ohne sich selbst zu verletzen. Eine einzige unvorsichtige Bewegung hätte genügt, eine Pulsader zu öffnen, ein Kleid zu zerfetzen oder ein Auge auszustechen.

Lucille war sich inzwischen sicher, dass sie diese Waffe beherrschte – eine tödliche Waffe, die kein Gegner sieht, weil er sie nicht als Waffe vermutet.

»In einer Viertelstunde verlassen Sie diesen Raum, ich folge Ihnen später. Sie gehen einhundert Meter die Straße nach rechts entlang und warten dort auf mich. Verstanden?«

Der Mann nickte und schien die Skepsis Lucilles nicht zu teilen. Die hielt ihre Anweisung für billiges Theater, gerade schlecht genug für einen Agentenfilm der B-Kategorie, denn jeder Trottel konnte sie zusammen an diesem Tisch sehen und ihren Spuren folgen. Aber anscheinend bedurfte diese Welt gewisser Rituale, um sich ihrer Wichtigkeit zu versichern, und so war sie nur den Regeln der Höflichkeit gefolgt. Lucille gönnte sich einen weiteren Eisbecher und trat dann auf die Straße.

 

Der helle Anzug leuchtete aus dem Schatten einer Markise und folgte ihr, als sie vorüberschlenderte.

Unter den zahlreichen Touristen, die sich um diese Zeit in Nizza tummelten, wirkten der Mann und die Frau wie zwei Fremde, die zufällig denselben Weg einschlugen.

Niemand bemerkte die kurzen Anweisungen, mit denen der Mann Lucille durch die Straßen lotste. Er führte sie zu einem Fiat der größeren Kategorie, in dem ein Mann wartete. Er startete den Motor, ohne ein Wort zu verlieren, nachdem Lucille und ihr Begleiter auf der Rückbank Platz genommen hatten.

Der Fahrer gefiel Lucille nicht. Sie sah nur seinen speckigen Nacken, der aus einem teuren Hemd quoll, Wurstfinger, die das Lenkrad und den Schalthebel mit lässiger Sicherheit bedienten, und ein paar dunkle Augen im Rückspiegel, über denen schwarze Brauen wie Gestrüpp wucherten. Das war eine andere Kategorie als der Typ neben ihr, keiner, der sich leicht bluffen ließ.

Der schnaufende Atem des Fahrers und die Fahrgeräusche begleiteten die Insassen, während der Wagen die Küstenstraße entlangfuhr. Es gelang Lucille, ihre kühle Arroganz zu bewahren, obwohl einige rasante Überholmanöver des Fahrers sie fast zum Schreien brachten.

Einmal begegneten sich ihre Augen im Rückspiegel, und sie war sicher, dass er damit ihre Reaktion testen wollte. Der Wagen bremste mit quietschenden Reifen und fuhr über eine kurze Zufahrt auf ein umzäuntes Areal zu. Ein verrostetes Schild verkündete von der Vergangenheit des Geländes: Joseph Maistre et Fils – Fischereibetrieb.

»Warum hier?« Der Mann neben Lucille zuckte bei der Frage zusammen, während der Fahrer vernehmlich grunzte.

»Es ist ein optimaler Platz. Kaum noch genutzt, nur noch Lager für einige Händler. Bassins, in denen früher Fische waren …«

 

Zwei halb verfallene Schuppen standen auf dem Gelände. An der Seeseite ragte eine Mole in die Wellen, ein Krangerippe und ein halb versunkener Fischdampfer vervollständigten die Kulisse von lang anhaltendem Verfall. Das Tor war mit mehreren Schlössern gesichert und wurde hinter dem Wagen sofort wieder geschlossen. Der Fahrer steckte die Schlüssel in seine Hosentasche und stieg wieder ein, um den Wagen direkt vor den hinteren Schuppen zu lenken.

Der Eingang lag zur Seeseite hin und war vom Ufer aus nicht zu sehen. Wieder klapperten Schlüssel. Obwohl die Tür verrostet erschien, hatte sie nagelneue Sicherheitsschlösser.

Der Mann schaltet das Licht ein. Drei Deckenlampen erhellten einen kahlen Raum. Der Fahrer schleifte scharrend einen Stuhl aus einer Ecke und stellte ihn unter eine Lampe. Er blieb neben dem Stuhl stehen und begann, Lucille mit unverhohlenem Interesse anzustarren. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu verbergen, dass er sie jetzt in Gedanken nackt auszog.

Sie starrte zurück, aber er gewann das Duell der Blicke. Sie wandte den Kopf zur Seite und war sich bewusst, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte.

Der andere Mann machte sich an einer Bodenplatte zu schaffen. Er hob sie ächzend hoch und ließ sie mit lautem Krachen auf den Boden schlagen. Dann tastete er mit dem Fuß in dem dunklen Viereck, fand die oberste Leitersprosse und begann hinabzusteigen.

»Wie soll ich diesen Sack Knochen bloß hochgetragen bekommen«, jammerte er.

»Du schaffst das schon«, sagte der Fahrer. Er grinste anzüglich und fixierte Lucille. »Bist ja ein starker Junge.«

Lucille öffnete ihre Tasche und suchte nach einem Taschentuch. Nachdem sie sich die Mundwinkel abgewischt und die Tasche wieder verschlossen hatte, glitzerte ein roter Fingernagel mit einer seidenfeinen Stahlschneide an ihrem linken Zeigefinger.

Der Fahrer bemerkte es nicht. Er begutachtete Lucilles Beine und näherte sich dabei, wie ein Hai Kreise ziehend, der Frau. Plötzlich stand er hinter ihr. Sie konnte seinen Atem im Nacken spüren.

Ein Schauer lief über Lucilles Rücken und schüttelte sie durch, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Der Mann hinter ihr gluckste spöttisch. Die Pfefferminzpastillen, die er krachend zerkaute, konnten seinem Atem nicht den ungepflegten Modergeruch von Zigaretten und Absinth nehmen.

Lucille blieb wie erstarrt auf ihrem Platz. Jetzt nur nicht ausweichen, nicht fliehen, nicht noch ein Moment der Schwäche zeigen. Sie hob stolz den Kopf und beobachtete die Öffnung im Boden, aus der jetzt, wie aus größter Tiefe, Geräusche von klappernden Eisentüren und daneben, deutlich hörbar, menschlichem Stöhnen hervorklangen.

Schwere Schritte dröhnten über die Leitersprossen und wurden lauter und lauter. Schließlich tauchte eine dunkle Form auf, die Lucille auf den ersten Blick nicht einordnen konnte. Sie fuhr vor Schreck zusammen, als der Kopf des Mannes aus dem Fenocchio auftauchte und es aussah, als hätte er sich in den schwarzen Tiefen unter dem Gebäude in ein buckliges, schmutziges Monster verwandelt.

Der Fahrer hinter Lucille kommentierte ihre unwillkürliche Bewegung mit einem fetten Lippenschmatzen. Der Mann krabbelte mühsam aus dem Loch, schwankte zu dem Stuhl und ließ die Last, die er quer über die Schultern getragen hatte, auf die Sitzfläche fallen.

Zuerst schien es nichts zu sein als eine ausgestopfte Puppe, die in dem Moment, in dem sie keine Stütze mehr hatte, zur Seite kippte und mit einem hässlichen Knall mit dem Kopf zuerst auf den Boden schlug.

Der Mann fluchte lautstark und riss die Puppe an den Haaren wieder hoch und platzierte sie erneut auf den Stuhl, diesmal sorgfältig darauf bedacht, dass das Gleichgewicht bewahrt blieb. Es gab einen schier endlosen Moment der Stille, als wären die drei Personen und die Puppe in durchsichtiges Plastik eingegossen und erstarrt: der Mann neben dem Stuhl, der nervös und unsicher war und sich cool gab; der Fahrer, der in bibbernder Geilheit auf das Kleid der Frau starrte, unter dessen dünnem Stoff sich die Rundungen ihres Hinterteiles wie Pfirsiche abzeichneten, und der in diesem Moment entschlossen war, sie zu vergewaltigen und ihr dabei die Arme auf den Rücken zu drehen, was die Frau noch mehr schreien lassen und das Vergnügen erhöhen würde; die Frau, die auf die Puppe starrte und sich gegen das Erkennen wehrte, das wie der Mechanismus einer Hinrichtungsmaschine dennoch unabänderlich in ihr Bewusstsein drang, und die sich an einen glücklichen Moment ihrer Kindheit erinnerte und nicht wusste, welcher Zusammenhang zwischen diesem Kinderglück und dem Stück Leben, in dem sie nun gefangen war, bestehen könnte; die Puppe, die ihr Menschsein durch ein heiseres Stöhnen beweisen wollte und mit unendlicher Mühsal den Kopf hoch und aus zwei winzigen, matten Augen starrte, die so leer waren wie die von griechischen Statuen.

Bitte, lieber Gott, flehte Lucille innerlich, mach, dass es nicht wahr es ist. Lass mich bitte aufwachen und ich liege im Bett und Daniel kommt mit dem Frühstückstablett und – Warum nur? Aber es gab keine Hilfe, es gab kein Erwachen, keine Linderung, keine Tröstung, es gab nur das entsetzliche Abtasten der zerstörten Züge im Gesicht der Puppe.

Dann gab Lucille ihren Widerstand auf und legte die Folie der Erinnerung auf dieses Gesicht – Bombay – dieser Frechling mit seiner hinreißenden Mischung aus Charme und Tapsigkeit – Kairo – diese absurde Situation, in der sie ihm so nah war, dass sie die Trennung schmerzhaft spürte, als wäre schon ihrer beider Haut miteinander verwachsen.

Und was sie nun sah und erkennen musste, nachdem die schützende Decke des letzten Zweifels weggezogen war, war seine Leiche, seine lebendige Leiche, ein angefaulter, stinkender Körper ohne einen Funken Seele. Lucille räusperte sich. In der leeren Halle klang das raue Geräusch lange nach.

»Was soll das? Ich wollte nicht mit einem Zombie plaudern.«

»DesolÈ, aber mehr war nicht zu machen. Ohne Ihren Anruf hätte er schon gestern die Augen auf null gestellt.«

»Was soll ich mit einem Mann, der noch nicht einmal mehr die Zunge heben kann, verdammt noch mal?« In Lucilles laute Stimme mischten sich die ersten schrillen Töne von Panik und Hysterie. Sie hatte sich in eine Situation begeben, ohne zu wissen, was sie wollte. Sie war hinein ins Dunkle gesprungen und nun spürte sie den Aufschlag. Und dabei war alles so lächerlich. Kein bisschen heldenhaft, nicht romantisch oder abenteuerlich. Es war einfach auf eine blöde Art absurd.

»Los, mach die Türen zu«, unterbrach die Stimme des Fahrers das Echo von Lucilles letztem Satz, das noch in den Ecken der Wellblechbedachung vibrierte.

»Aber warum denn, nicht schon wieder runter, vielleicht kommt er ja noch hinein …?«

»Schnauze, du Sackgesicht. Vorschrift ist Vorschrift und Vorschrift ist, mach die Klappen dicht. Und was dieses Stück Scheiße angeht, Mademoiselle will mit ihm plaudern und dann kommt er zu den Fischen und gibt einen richtig ekligen Kadaver ab. Du kennst doch den Plan …«

Der Mann wollte noch etwas erwidern, aber ein Blick seines Kumpans ließ ihn zusammensacken und zu der Bodenöffnung gehen, wo er grummelnd verschwand.

»So ein Idiot«, sagte der Fahrer. »Er hat dir doch tatsächlich deine Geschichte abgenommen, Süße. Aber mich kannst du nicht vergackeiern, mich nicht!«

Bevor Lucille irgendeine Bewegung machen konnte, hatte der Mann ihre Arme gepackt und in einen Polizeigriff genommen, dessen Wirksamkeit er wohl oft bei sich selbst beobachtet hatte.

Sie schrie auf und knickte in den Knien ein, nur um mit einem schrilleren Schrei sofort wieder ihre ursprüngliche Position einzunehmen.

»So ist es gut, Schätzchen. Ich weiß nicht, wie du an die Telefonnummer und an den Treffpunkt gekommen bist, ist mir auch scheißegal. Aber du bluffst, und das machst du nicht mal besonders gut. Dieser Typ war nicht zum Aushorchen gedacht, dieser Typ war zum Kaltmachen, verstehst du? Und jeder, der was anderes vorgibt, mischt sich in das Spiel ein. Was bist du? Deuxieme Bureau, SecuritÈ presidentielle oder wie ihr Schwachköpfe euch nennt? Und seit wann hat die SuretÈ solche Flittchen wie dich? Egal, du gehst mit deinem Liebling. Aber vorher brauche ich dich noch. Oder zumindest einen winzig kleinen Teil von dir!«

 

Er rammte sein Knie zwischen Lucilles Beine und in dem Moment, in dem sie vor Schmerz und Schrecken schrie, fast umfiel und breitbeinig nach Halt suchte, wechselte er seinen Griff und umklammerte ihre Handgelenke nur noch mit einer seiner riesigen, verschwitzten Pratzen. Er drängte sich an sie, und sie spürte ganz hart und körperlich, was er mit brauchen meinte.

»So ist es schön«, keuchte der Mann, »Weiber sollten ihre Schenkel überhaupt nicht zusammenklappen dürfen. Nie im Leben.«

In einem Moment Grauen erregender Klarheit sah Lucille, als würde sie als Betrachterin über der Szene schweben, den Mann, der seinen Gürtel öffnete, und vor ihm die in Panik zu zerbrechlichem Glas erstarrte Frau, breitbeinig und in der Hüfte nach vorn geklappt. Bis zu ihrem schwebenden Standort konnte sie den säuerlichen Geruch der Angst registrieren, den die Frau ausdünstete und darüber, dicke Fettaugen auf einer Gerüchesuppe, das ordinär dick aufgetragene Duftwasser des Mannes und darunter seinen Schweiß, der jetzt den triumphierenden, mit dichtem, schwarzem Haar bepelzten Körper überfloss, in den speckigen Falten des Nackens glitzerte und unter dem nassen Hemdrücken zwischen seine zitternden Arschbacken rann.

Mit der freien Hand warf er Lucilles Rock hoch und riss ihr in der gleichen Bewegung den Slip herunter. Der Slip blieb über ihren Knien hängen und wirkte wie eine Fessel, als sich der Mann gegen sie warf und sie zu einem lächerlichen Watschelgang zwang. Er schob sie vor sich her, lachte wie ein Verrückter über ihre Entwürdigung und trieb sie bis in eine Ecke der Halle. Lucille krachte mit dem Kopf gegen einen Eisenvorsprung und war hilflos festgeklammert zwischen Wand und dem vor Geilheit dampfenden Körper des Mannes, der sich jetzt seiner Unterwäsche entledigte.

Die Frau kreischte, schrill und ohne Unterbrechung. Ihr geöffneter Mund gehörte nicht mehr zu ihrem Gesicht. Er war zu einem eigenen Wesen geworden, das sich in gellenden Klagen austobte.

Ihr eigenes Schreien stand Lucille wie eisige Stille in den Ohren. Sie wurde von Ekel und Scham geschüttelt, es packte sie wie ein Beben, auf das sie keinen Einfluss mehr hatte. Sie schrie dem Rest von Würde und Stolz hinterher, den sie sich in ihrem Leben bewahrt hatte, und die sie nun in dieser Mischung aus Schrecken und Lächerlichkeit verlieren sollte.

Wut sprang in ihr auf. Ein winziges Fünkchen nur, aber es reichte, um sie aus der Erstarrung zu reißen und ihrem linken Zeigefinger eine kleine Wendung zu geben.

Mit einem Fluch zog der Mann seine Hand zurück und starrte einen Augenblick lang verwundert auf die klaffende Wunde, aus der Blut über Lucilles Rücken und ihre Beine entlang tropfte. Er hatte instinktiv reagiert und wollte nun seinen Fehler wieder gutmachen. Blitzschnell schnappte seine Hand zu, aber Lucille hatte sich schon abgedreht. Ihr Kopf schlug an der Wand an, ihre Stirn schrammte eine Schraube, und als sie sich umdrehte, hätte der Mann die klaffende Platzwunde bemerken können.

Aber er sah nur die Augen der Frau, und dieser Anblick lähmte ihn, ließ ihn erstarren, als hätte er das Antlitz der Medusa erblickt.

Lucille fauchte ihn mit gefletschten Zähnen an wie eine Raubkatze.

Jetzt bewegte sich der Mann. Er hob die eine Hand zur Abwehr, nahm die andere Hand in die Höhe und war wieder so weit, dass er zum Angriff übergehen konnte. Es war alles zu spät.

Die linke Hand der Frau blitzte an seinem Hals vorbei. Ein kleiner Schnitt, harmlos wie ein Mückenstich. Der Mann lachte hart, griff mit einer Hand nach Lucille und klatschte sich mit der anderen gegen die Wunde. Dann spürte er den heißen, pumpenden Blutstrahl, schaute völlig erstaunt auf seine blutüberströmte Hand, bemerkte vielleicht sogar noch das Klatschen, mit dem der Blutstrom aus seiner Halsschlagader gegen die Wand prallte und Lucille mit einem roten Schauer überzog.

Dann verdrehte der Mann die Augen und kippte nach hinten weg, während sein Herz mit den letzten Schlägen eine schwächer werdende Blutfontäne über den Betonboden pumpte.

Ein kehliges Fauchen war alles, was Lucille Chaudieu noch an Sprache zur Verfügung stand. Sie machte einige Schritte, stolperte, weil sie ihre peinliche Fessel vergessen hatte, raffte sich wieder auf und glitt noch einmal auf der Blutlache aus und schlug sich das Knie wund.

Dennoch rettete der Sturz ihr das Leben, denn der Mann, der aus der Bodenluke aufgetaucht war, hatte genug Zeit gehabt und mit Sorgfalt gezielt.

Er hatte den Lärm gehört und war so schnell wie möglich die Leiter hinaufgestiegen. Dort stand er immer noch, sein Oberkörper ragte aus der Lukenöffnung. Er zielte erneut. Sein erster Schuss war an Lucilles Schläfe vorbeigepfiffen und schlug mit lautem Krachen ein Loch in die Wand.

Der Standort des Schützen war schlecht. Er musste sich auf einer schmalen Eisensprosse halten, unter sich eine Tiefe von mehr als zehn Metern, und dabei zielen, schießen und noch den Rückschlag der Waffe ausgleichen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.

So schoss er ein zweites Mal daneben und sah zugleich, wie sich die Frau aufraffte. Nein, sie sprang in die Höhe wie eine gespannte Feder, die unter Kraftaufwand zusammengedrückt worden war. Wie eine Furie rannte sie auf ihn zu, kreischend, mit wirrem Haar, verwundet, von Blut gänzlich übergossen.

In ihren Augen glitzerte etwas, das den Mann erschlaffen ließ. Es war die Begegnung mit einer Urangst aller Männer, die Verkörperung eines vagen Verdachtes, einer selten erwähnten Ahnung – dass sich in den Formen zarter Hände, in blütenweichen Schenkeln und herzzerreißend geschwungenen Hüften eine Kraft verbergen könnte, die jeden Anflug von Männlichkeit wegfegen kann wie ein Orkan eine Fliege von der Tischplatte bläst.

Dem Mann auf der Leiter wurde diese Gnade nicht zuteil. Er wartete auf das Urteil, das über ihn gesprochen werden sollte, und dann war Lucille bei ihm. Sie trat zu und sie rammte ihm den Absatz ihres rechten Pumps bis zum Anschlag in den Kopf.

Der Mann wirbelte mit den Armen, seine Finger zuckten und jagten die verbliebenen Kugeln aus seiner Pistole in die Decke. Er kippte nach hinten und riss Lucille fast mit, die mit einem weiteren Fauchen ihren Fuß aus dem Schuh befreite und zusah, wie seine Leiche in die Tiefe stürzte und in der

Schwärze verschwand bis zum dunkel vibrierenden Dröhnen des Aufschlags.

Lucille warf ihm den anderen Schuh hinterher.

 

Die menschliche Lumpenpuppe auf dem Stuhl hatte sich während der ganzen Zeit nicht bewegt. Lucille strich sich das Haar aus der Stirn, sie zuckte zusammen, als sie an die Platzwunde kam, in der sich Blut und Haarsträhnen verklebt hatten. Sie war wie in Trance, alles, was sie sah, hatte nichts mit ihr zu tun. Sie befand sich in einer Albtraumwelt. Dann hörte sie neben sich ein Stöhnen und wurde sich darüber klar, dass etwas geschehen musste.

Sie schaute sich um. Dann griff sie zur Lehne des Stuhles, kippte ihn nach hinten und schleifte ihn samt Puppe zur Tür. Mit letzter Kraft gelang es ihr, die Puppe auf die Rückbank des Autos zu zerren. Der Zündschlüssel steckte. Als sie auf das Tor zufuhr, fiel ihr ein, dass es verschlossen sein musste. Sie überlegte keine Sekunde, sondern drehte den Wagen und fuhr ein Stück vom Tor weg. Dann richtete sie sich den Rückspiegel ein, rangierte den Wagen in die richtige Position und gab Vollgas.

Ihr nackter Fuß presste das Gaspedal auf das Bodenblech und stützte sie gleichzeitig, als sie sich mit aller Kraft gegen die Sitzlehne drückte.

Der Motor heulte auf, der Drehzahlmesser sprang in den roten Bereich. Das Heck des FIAT krachte gegen das Tor. Der Aufprall war brutal, und Lucilles Nacken wurde von einem grellen Schmerz durchschnitten. Aber die beiden Metallflügel wirbelten zur Seite, Eisen kreischte über Lack, ein Sturm von Glassplittern fegte von der explodierenden Heckscheibe durch den Wagen.

Lucille wirbelte das Lenkrad herum und brachte den Wagen in einer quietschenden Kurve, die Front zur Straße, zum Stehen. Sie schaute in den Rückspiegel. Das Heck war zerstört, aus den Resten der Auspuffanlage brabbelte und wummerte der Motor, bei dessen Leerlaufgeräusch das Rasseln lose geschlagener Ventile nicht zu ignorieren war. Ein Geruch von verbranntem Gummi lag in der Luft, auf dem Zufahrtsweg dampften die verschnörkelten Spuren durchgedrehter Reifen.

Lucille warf noch einen kurzen Blick auf das, was ehemals ein Tor gewesen war, und fuhr dann auf die Straße. Sie wollte nur fahren, nur weg von diesem Ort. Sie war schon immer eine schändlich schlechte Autofahrerin gewesen, die übernervös und verkrampft hinter dem Lenkrad saß. Nun schmerzte ihr Knie und behinderte sie zusätzlich, sodass der Wagen bei jedem Gangwechsel hopste oder einige Meter an Gummispur auf der Straße hinterließ.

Sie erschrak, als sie sich selbst im Rückspiegel sah. War sie das wirklich? Es konnte nicht sein, dieses fremde, blutverschmierte Gesicht konnte ebenso wenig das ihre sein, wie dieses Leben, in dem sie im Augenblick verfangen war wie in einem Spinnennetz, das Ihrige sein konnte. Lucille fuhr, und während sie die Landschaft mit tieffliegerähnlichem Motorengedröhn überzog und dem Verlauf der Straße folgte, näherte sie sich langsam der Realität, als wäre diese das Ziel ihrer Fahrt.

Sie fand einen einsamen Strand, lenkte den Wagen zwischen Pinien und schleppte die Puppe hinaus. Dann entkleidete sie sich und stieg in das laue Wasser. Sie wusch sich den Schmutz und den Schweiß und das Blut von der Haut.

Das Salzwasser brannte in den Wunden. Sie schwamm hinaus, immer weiter, bis der Strand nur noch ein schmaler heller Streifen war, auf dem jemand eine reglose Puppe in Menschengestalt abgestellt hatte. Sie wünschte sich, immer weiter zu schwimmen, das Wasser an ihrem nackten Körper entlanggleiten zu spüren, die eigene Kraft zu genießen, die sie vorwärtstrieb.

Vorwärts, bis nur noch Wasser und Himmel bei ihr waren und sie sich sinken lassen konnte, dorthin, wo ihr keine Gewalt mehr folgen und keine Scham wie Nadelspitzen unter der Haut sitzen konnte. Aber etwas hielt sie zurück.

Da saß noch diese sprachlose Puppe, und dieser Gedanke war wie ein Gummizug, den sie trotz aller Kraft nicht zerreißen konnte und der sie zurückbrachte.

Mit kräftigen Zügen kehrte sie zum Strand zurück und stieg aus dem Wasser, als wäre sie trotz aller Wunden und schmerzenden Erinnerungen neu geboren worden. Sie wusch ihr Kleid aus, und dann fand sie zu ihrer Verwunderung ihre Tasche neben dem abgeworfenen Kleid.

Mit dieser Entdeckung gewann sie langsam ihre Fassung zurück. Ihre Instinkte waren wohl zuverlässig. Völlig unbewusst und automatisch hatte sie ihre Tasche mitgenommen, die vielleicht in den Momenten größter Not, die sie durchlebt hatte, so ungefähr das Unwichtigste von allem gewesen war. Erst als sie ihren Hals betastete und die aufgescheuerten Stellen, wo der Riemen entlang gelaufen war, bemerkte, wurde ihr klar, dass die Tasche während der ganzen Zeit an ihr gebaumelt haben musste wie an einem hölzernen Garderobenständer.

 

Tony Tanner gab es heiseres Stöhnen von sich, einen nicht mehr menschlichen Laut.

Lucille spürte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Sie raste in den nächsten Ort, hielt mit wummerndem Motor vor dem einzigen Laden des Ortes, kaufte einige Liter Mineralwasser und war wieder fort, bevor die ersten Dörfler überhaupt auf die Straße rennen und nach der Panzerdivision schauen konnten, die eingerückt zu sein schien.

Lucille musste Tonys Kopf halten, um die ersten Tropfen über die zersprungenen Lippen rieseln zu lassen. Da saß sie nun, auf einem Strand an der CÙte d’ Azur, eine stinkende Halbleiche im Schoß, als wäre sie die Travestie der Schmerzensmutter. Sie hielt zugleich den Kopf und die Flasche, deren Inhalt die vielleicht letzte Überlebenschance Tony Tanners war.

Nach einer Weile zuckte seine Hand und sie konnte ihn auf den Rücken betten, wo er wie ein Säugling, die Flasche an dem zerrissenen Mund, liegen blieb.

Aus Tonys Schulter stach der rückwärtige Teil von Lucilles Fingernagel hervor. Vorsichtig zog sie ihn heraus, aber es folgte kein Blut. Mechanisch pflückte Lucille die Glaskrümel der Heckscheibe von Tonys zerfetzter Kleidung.

Lass ihn nicht sterben …, dachte Lucille, und wandte sich damit an einen unbekannten Gott, der vielleicht, wenn man ihn nett bat, ein Wunder vollbringen würde.

Lucille reinigte ihre kleine Waffe und steckte sie in das Etui mit den unbekannten japanischen Schriftzeichen. In der Tasche fand sich ihr Handy. Die Ignoranz, mit der dieses Stück Technik dem Schicksal seiner Besitzerin gegenüberstand und immer noch klaglos funktionierte, als wäre sie nicht in der Zwischenzeit durch die Hölle gegangen, hatte für Lucille fast etwas Empörendes.

Sie tippte Anettes Nummer, und natürlich war die Nervensäge nach zehn Sekunden am Apparat.

»Hallo, Süßi«, flötete Lucille und versuchte, den rauen Unterton ihrer strapazierten Stimmbänder mit gespielter Munterkeit zu überdecken.

»Luuuucille, Luci-Schnucki, ja, wenn das keine Überraschung ist. Geht es dir gut, Herzchen?«

»Es geht mir einfach blendend! Ich habe einen Typ kennen gelernt, dagegen ist dein Herzchen nur eine Kerze im Vergleich zum Eiffelturm. Suuupertyp, sage ich dir …«

»Du, lass nichts auf meinen Cutie kommen, sonst werde ich böse!«

Anette klang wahrhaftig leicht pikiert. Die Unterstellung, dass sie nur mit dem zweitbesten Mann zusammen sein könnte, ging ihr an die weibliche Ehre und damit wohl entschieden zu weit.

»Überhaupt, Luci-Schatzi, was ist denn mit deiner Nobili-Adelität? Oder fahren wir jetzt zweispurig …?«

 

Tony Tanner hatte es irgendwie geschafft, die erste Flasche zu leeren.

Lucille, das Telefon am Ohr, klemmte sich die zweite Flasche zwischen die Schenkel und bemühte sich, mit einer Hand den Verschluss zu öffnen. Als sie es geschafft hatte, zog sie Tony hoch, lehnte ihn an einen Baumstamm und gab ihm die Flasche.

»Lucille, du stöhnst ja! Was ist denn los, kriegste die Wehen?«

»Rate mal!«

»Du bist beim Hausputz, Schrubbi-schrubbi!«

Tony Tanner wurde von einem Krampf geschüttelt. Mit lautem Stöhnen sank er zur Seite, konnte sich aber mit einiger Anstrengung von selbst wieder hochdrücken.

»Luuucille-Baby! Das warst doch nicht du, die da stöhnt, oder?«

»Ohh Anette, du hast einfach keine Phantasie. Worüber reden wir gerade? Das ist doch der Typ, um den es geht.«

»Soll das heißen, du telefonierst und gleichzeitig – treibst du – fummelst du – an ihm rum? Beim Telefonieren? Das ist ja der absolute Knaller!« Anette war merklich beeindruckt. Diese Variante des Liebeswahns hatte sie noch nie in Betracht gezogen. Obwohl es für jemanden, der wie sie gern telefonierte – von anderen Dingen abgesehen – nahe gelegen hätte.

»Tja, Anette-Kleinchen, so was musst du bringen. Aber deswegen rufe ich auch an. Wir haben in gewisser Weise ein Platzproblem. Und da dachte ich, dass du oder dein Schnucki, der doch sicherlich blendende Beziehungen hat, uns helfen könnten, ein kleines verschwiegenes Domizil in Nizza zu finden?«

»Nizza, wieso Nizza? Du warst doch gestern noch ganz woanders?«

»Gestern war gestern und heute ist heute.«

 

Lucille keuchte vor Anstrengung, als sie Tony hochwuchtete, damit er sich stehend gegen den Baumstamm lehnen konnte. Ihr Keuchen und sein Stöhnen verbanden sich zu einer Geräuschkulisse, die Anette Augen rollend und im Zustande einer gewissen Erregung am Telefon sitzenließ. Dort fand sie auch der Mann ihres Herzens, dem sie nun handgreiflichst klarmachte, dass er zwar immer ihr Herz füllte, dass bisweilen aber auch andere Tätigkeiten der Erfüllung gefragt waren.

Aber Anette war nicht nur eine leidenschaftliche Schönheit, sondern auch eine treue Freundin, und so versäumte sie nicht, bevor sie an ihm Markenkleidung im Wert von mehreren tausend Franc zerfetzte, die Bitte Lucilles an ihren Freund weiterzugeben.

Dieser wiederum, obwohl stark abgelenkt, fühlte sich, quasi aus Gründen inniger Dankbarkeit, zur Hilfe verpflichtet, und so konnte Lucille mit dem, was von Tony Tanner übrig geblieben war, in einem einsam gelegenen Ferienhaus in der Nähe Nizzas unterschlüpfen.

Im Grunde lief alles glatt, wenn auch das Abholen des Schlüssels mit dem ramponierten Wagen und in ihrem derangierten Zustand etwas Nerven erforderte. Aber Lucille entledigte sich dieser Aufgaben mit der routinierten Herzlichkeit der ausgekochten Stewardess und hinterließ bei allen, denen sie begegnete die Frage, warum nicht alle Frauen solche Salzkrusten-Frisuren und -kleider hatten und laute Autos mit zertrümmerten Heckpartien fuhren.

Dann war alles erledigt. Sie hatte ihren Koffer aus dem Schließfach geholt, der Wagen lag als ausgeglühtes Wrack in einer tiefen Schlucht, Tony Tanner war versorgt, so gut es unter diesen Umständen ging. Eigentlich gehörte er auf eine Intensivstation, aber so wenig Lucille von den Umständen der ganzen Affäre verstand, dieses zumindest war ihr klar: Sowohl Tony Tanner als auch sie hatten das größte Interesse daran, niemanden zu sehen und von niemandem gesehen zu werden. Wann würde die Polizei auf die Leichen auf dem verlassenen Gelände stoßen? Wann würden die Kumpane der beiden unruhig werden? Die Fragen stellten sich, aber Lucille drängte sie beiseite. Es gab nur eines, was in diesem Moment zählte: Dieser wunderbare Mann, der dort drüben im Bett lag und sich, von Schmerzen und Albträumen bedrängt, mühselig hin- und herwälzte, musste überleben!

 

Nachdem Jeremy Steele den Mann einige Tage beobachtet hatte, war er sich seiner Sache sicher. Er hielt ihn für einen Homosexuellen, eventuell für einen Freizeit-Transvestiten, der seinen dicklichen Körper an jedem Wochenende mit High Heels, Strapsen und Seidenfummel aufdonnerte, um in den einschlägigen Lokalitäten auf Jagd zu gehen. Allerdings hielt Steele es für wahrscheinlicher, dass dieser Mann eine unselige Vorliebe für Kinder hatte, und zwar eher für Knaben als für Mädchen. In all seiner Biederkeit war dieser Mann verloren, ein Opfer seiner Triebe, die er entweder zeit seines Lebens unter Aufbietung enormer Energien bekämpfen musste oder denen er nachgab, was ihn mit einer geradezu zwangsläufigen Mechanik irgendwann in das Abseits juristischer Verfolgung treiben würde.

Bisher hatte Steele nichts an dem Mann beobachten können, was auf einen Ausflug in die Gefilde der Perversion hindeutete. Aber die Anzeichen mehrten sich, dass es bald soweit war – der Mann stand unter Druck, er zeigte Anflüge von Hektik, gefolgt von Phasen halbgelähmter Langsamkeit und Depression. Alles dies waren Anzeichen einer psychischen Stimmung weit jenseits einer auch nur halbwegs alltagstauglichen Ausgeglichenheit. Vielleicht hatte Steele selbst dazu beigetragen. Das war zwar seine Absicht gewesen, aber dennoch war er selbst von den Auswirkungen seiner Enthüllungen überrascht. Der Mann schien, oberflächlich betrachtet, ein in festen Geleisen dahinziehendes Leben zu haben. Er pendelte zwischen seiner Wohnung, seinem Laden, dem Lesesaal des Britischen Museums, einigen kleineren Bibliotheken und Buchhandlungen hin- und her.

Dann gab es wieder plötzliche Sprünge, die Steele nicht verstand. Treffen mit einem der berüchtigtsten Anwälte der City, Besuche bei Journalisten von großem Einblick in die verschwiegenen Geschehnisse der Stadt und entsprechend schlechtem Ruf. Einmal verlor der Mann eine Geldbörse, nachdem er eine Weile mit eine anderen geplaudert hatte. Der andere, dieses herauszufinden kostete Steele Zeit und Mühe, war Polizist und er war sicherlich nicht bestechlich, aber er steckte die Geldbörse des Mannes ein, ohne mit der Wimper zu zucken.

Am meisten irritierte Steele, dass sich der Mann in einem Schnellimbiss in der Nähe des Piccadilly Circus mit einem pickelbedeckten Jüngling traf und eine augenscheinlich höchst angeregte Unterhaltung führte. In gewisser Hinsicht passte das Pickelgesicht in das Schema, das sich Steele von dem Mann gemacht hatte, und er war sicher, dass er es hier mit einem Zuträger oder Kuppler für Männer mit besonderen sexuellen Vorlieben zu tun hatte. Aber es entwickelte sich nichts aus diesem Gespräch.

Der pickelige Jungmann, an dessen Fersen sich Steele heftete, zog nach dem Treffen durch die Stadt, besuchte einige Kneipen und betrank sich mit seinen Kumpels. Danach zog er volltrunken weiter, randalierte vor einigen Häusern und versuchte, die Bewohner aus dem Schlaf zu klingeln, was ihm selten gelang, denn meist handelte es sich um Gebäude von Institutionen, die zu später Stunde von einem Sicherheitsdienst kontrolliert wurden und ansonsten in völliger Ruhe und Dunkelheit dalagen. Das alles ergab keinen Sinn.

Steele überkamen Zweifel, ob er sich nicht der Sünde der Zeitverschwendung schuldig machte, wenn er den Mann weiter beschattete. Auf der anderen Seite hatte er keine Alternative und es lohnte sich, auf einen Fehltritt des Mannes zu warten, auf eines jener kleinen, schmutzigen Geheimnisse, die ihn erpressbar machten.

Aber dann war dieser andere Mann aufgetaucht, und Steeles schon fast eingeschlafener Jagdinstinkt erwachte sofort wieder zum Leben. Eigentlich waren es zwei Männer, aber den einen sortierte Steele sofort unter der Rubrik harmloser Spinner ein und vergaß ihn. Dafür erschien der andere umso interessanter – und gefährlicher. Ein weißhaariger, drahtiger Mann, dessen plötzliches Erscheinen und Verschwinden etwas von dem Flattern einer Fledermaus in einer lauen Sommernacht hatte. So war es weniger Steeles Aufmerksamkeit, die seine Blicke auf den Mann lenkten, als sein Instinkt. Und mit einem leisen Schaudern fragte er sich, ob nicht er seinerseits schon seit Tagen von dem Weißhaarigen beobachtet worden war, ohne auch nur einen Schimmer von Verdacht deswegen zu hegen.

Was wollte der andere? Den Mann, also das gleiche Opfer wie Steele? Oder Steele selbst?

Oder beide? Steele musste sich damit abfinden, dass wieder einmal eine kleine Gewissheit in seinem Leben zerbröckelt war. Er reagierte sofort, wechselte das Hotel, verbrachte einige Tage damit, Spuren zu verwischen, falsche Fährten zu legen und sich unsichtbar zu machen.

Dann saß er auf dem Laken eines Bettes eines Zimmers einer Etage einer Pension eines Viertels von London und dampfte rote Wut aus, weil er so unvorsichtig gewesen war, so lächerlich selbstsicher und von sich eingenommen.

Und dennoch – das Spiel begann, an Fahrt zu gewinnen; Steele spürte das ganz genau.

Denn egal, wer der Weißhaarige war, er interessierte sich für seinen Mann, ob im Guten oder Schlechten, und damit war bewiesen, dass Steele an einer Stelle grub, an der etwas zu finden sein mochte. Er nahm die Beschattung des Mannes erneut auf.

***

Es gehörte zu den erprobten Überlebenstaktiken von Dorkas, auf seine Umwelt wie ein weltfremder Trottel zu wirken. Man müsste an dieser Stelle genauer formulieren: auf seine Umwelt wie ein wesentlich weltfremderer Trottel zu wirken, als er es tatsächlich war. So war ihm keineswegs entgangen, dass sich der Mann, den er unter eher bescheiden angenehmen Umständen kennen gelernt hatte, wie ein Schatten seinen Spuren folgte. Zuerst hatte ihn das sehr nervös, dann aber hatte er sich mit dem Gedanken beruhigt, dass ein toter Dorkas niemandem, zumindest nicht diesem Menschen nützen würde. Was er an Unruhe mit dieser tröstlichen Überlegung nicht überwinden konnte, verdrängte er mit einer Mischung aus Fatalismus und Arbeitswut.

Er hasste es immer noch, in seine Wohnung zurückzukehren. Die Einsamkeit in seinen Räumen sprang ihn förmlich an wie eine fette weiche Katze, die hinter der Tür lauerte. Er räumte alles, was ihn an seinen ehemaligen Gefährten erinnerte, in den Keller und kam sich dabei vor wie eine Ehefrau, die von ihrem Mann im gemeinsamen Ehebett betrogen worden ist.

Obwohl er mit dem Kapitel Tony Tanner abgeschlossen hatte, ließ er den Anwalt weiter an dem Fall arbeiten. Zugleich kümmerte er sich darum, den Schaden, den dieser Verräter angerichtet hatte, möglichst gering zu halten.

Er verbrachte Tage damit, nur um zu seinem Erstaunen festzustellen, dass Tanner entweder so raffiniert gewesen war, dass das Durchschauen seiner Tricks die Fähigkeiten von Dorkas überstieg oder …

Das Oder bedeutete, dass Tanner kein Verräter war, keiner, der anständigerweise in dem Licht betrachtet werden durfte, in dem Dorkas ihn sah. Aber warum war er dann verschwunden? Warum meldete er sich nicht? Diese Überlegungen verwirrten Dorkas umso mehr. Als hätte er sich mit dem Ableben eines Menschen schon abgefunden und nun käme plötzlich und überraschend eine Postkarte, auf welcher der scheinbar Dahingeschiedene und schon Abgetrauerte von gutem Wetter und gutem Essen berichtet. Er konnte dergleichen Seelen-Wirrwarr nicht brauchen. Es kam darauf an, einen klaren Kopf zu behalten.

In manchen Augenblicken war Dorkas nahe daran, an sich selbst paranoide Wahnzustände zu diagnostizieren. Er hetzte wie ein Flüchtiger durch die Straßen, jeden Moment auf einen Schuss wartend oder einen Stich zwischen die Rippen, geriet immer wieder in Gefahr durch panische Unaufmerksamkeit ganz banal überfahren zu werden und versuchte dann wieder, sich zur Ruhe zu zwingen und sich zu fragen, ob seine Gedanken noch seine Gedanken waren oder ob sein Bewusstsein inzwischen schon zu einer Schale verkommen war, in die eine fremde Macht ihren schwärenden Eiter ergoss.

Es stand wahrlich nicht besonders gut um Dorkas. Er hätte Entspannung und Ablenkung gebraucht und führte sich dennoch auf wie der Manager eines angeschlagenen Konzerns, der sich gesundheitlich ruiniert, im Bestreben, doch noch die rettenden Kredite zusammenzuraffen.

Das Wissen, dass die Zeit verrann, zu schnell und unweigerlich und unwiederholbar, pochte in seinem Hinterkopf. Man müsste zu einem Schlag ausholen, den entscheidenden Sprung machen! Die Gewissheit war so nah, er konnte sie förmlich unter den Händen spüren, das entscheidende Wort lag auf seiner Zunge, aber konnte es nicht, noch nicht formulieren.

Dann wieder erfreute sich Dorkas damit, mit seinem Verfolger Katz und Maus zu spielen.

Das machte kindischen Spaß – jemanden, der sich seiner Unsichtbarkeit und Unerkanntheit sicher war, an der Nase herumzuführen. Irgendwann wurde sich sein Verfolger dessen gewahr und verschwand. Dorkas bedauerte das fast.

***

Während in der City Aktiengeschäfte abgewickelt, um Kredite gefeilscht, fusioniert und ganze Firmenzweige verhökert wurden, während Männer jeden Tag reicher wurden, die in ganzen Leben nichts anderes gemacht hatten, als Zahlen auf flimmernden Bildschirmen hin- und herzuschieben und sich andere Männer, in anderen Vierteln vor Hoffnungslosigkeit die Leber löchrig soffen, kreisten Steele und der Weißhaarige umeinander wie Haie, die sich die Beute streitig machen wollten.

Es gehörte zu den Regeln des Spieles, dem Gegner zu verstehen zu geben, dass man um seine Anwesenheit wusste, ohne dieses Wissen auch nur mit einem Wimpernzucken zu verraten.

Steele lernte, die Distanz, die zwischen ihm und dem Weißhaarigen war, zu schätzen. Er war realistisch genug, um anzuerkennen, dass der andere ihm überlegen war. Er wusste es spätestens, seit er dem Weißhaarigen in eine abseits gelegene Straße gefolgt war und dieser sich plötzlich in Luft auflöste. Jedenfalls wirkte es auf Steele so.

Tatsächlich war der andere, in der Deckung einer vorspringenden Hausecke, blitzschnell über die Mauer, welche die Straße begrenzte, gehechtet und war ebenso blitzartig an der Innenseite entlang gelaufen, war wieder über die Mauer gestiegen und stand nun einige Meter hinter Steele, bevor der die Situation überhaupt richtig einschätzen konnte. Als sie aneinander vorbeigingen, saß der Anzug des Weißhaarigen immer noch so perfekt wie vorher. Es war ein harmloser Bubenstreich, ein Kräftemessen, vermischt mit einem guten Schuss Angeberei.

Aber Steele nahm sich nun mehr denn je in Acht. Irgendwann, bald schon, würde die Situation eskalieren und aus den Scheingefechten würde mehr werden. Dass es so schnell geschehen würde, hatte Steele nicht geahnt. Dorkas saß in einem Lokal. Er hatte sich gut sichtbar direkt an der Schaufensterscheibe platziert, die den Innenraum begrenzte.

Der Bürgersteig vor dem Lokal war aufgerissen, Absperrungsgitter standen um ein tiefes Loch, in dem Arbeiten an einer Telefonleitung vorgenommen wurden.

Ein Lastwagen der Baufirma hielt und mit einem Schlag wurde die Situation in der Straße unübersichtlich.

Von der einen Seite rollte ein schwerer Kranwagen heran, von der anderen versuchte sich ein Lieferwagen durch die Engstelle zu drängen. Beide Wagen blockierten sich, der nachfolgende Verkehr musste anhalten, ein Stau bildete sich. Dem ersten Fahrer gingen die Nerven durch, und er ließ seinen Ärger am Hupenknopf aus. Als Steele dann den Weißhaarigen neben einem Absperrgitter sah und die lässige Bewegung bemerkte, mit der er sein Jackett aufknöpfte, erkannte er, dass es jetzt soweit war.

Sein erster Impuls war, der Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Es gab keinen Anlass für Mut oder ähnliche Empfindungen aus der Archäologie des männlichen Heldenlebens.

Trotzdem durchmaß Steele den Abstand zu dem Weißhaarigen mit einigen schnellen Schritten und stand ihm gegenüber.

Der Weißhaarige hatte eine Hand in das Jackett geschoben und blickte in Richtung auf das Schaufenster. Als er das Knirschen von Sand unter den Schritten von Steele hörte, wendete er den Kopf, ohne an seiner sonstigen Haltung etwas zu ändern. Er schätzte die Situation ein, und er tat das auf eine Art, die Steele wiederum Respekt abnötigte.

Keinem anderen wäre aufgefallen, dass Steeles Schuh halb unter einen schweren Schraubenschlüssel geschoben war, den ein Arbeiter auf die Straße gelegt hatte. Kein anderer hätte die Spannung in Steeles Oberschenkel derart abgeschätzt und gewusst, dass das Werkzeug in dem Moment, in dem der Weißhaarige auch nur den Ansatz einer Handbewegung gemacht hätte, wie ein Geschoss in seine Richtung geflogen wäre.

Vielleicht hätte dieses improvisierte Geschoss nicht getroffen, aber alleine die Möglichkeit war schon zu viel, zumal ein unbewusster Reflex der Abwehr jedes genaue Zielen unmöglich machte.

Einige Herzschläge lang fühlte sich Steele auf die Probe gestellt, gewogen und abgetastet von der arroganten Gelassenheit des Weißhaarigen.

Dann wandte sich dieser zur Seite, gab zu erkennen, dass kein Anlass für einen Streit vorhanden war und verschwand zwischen den Autos, ohne seine Hand bewegt zu haben.

Steele atmete auf und zog den Fuß zurück.

Aus dem Schaufenster schaute ihn Dorkas grinsend an.

Steele stampfte von dannen und fragte sich, was geschehen war. Hatte er diesem Dorkas das Leben gerettet? Oder wollte ihn der andere nur aus der Deckung locken, um zu wissen, wie es um Steele und Dorkas stand? Eines war klar: Steele hatte nur scheinbar einen Punktsieg errungen. Tatsächlich war es ein technischer K. O. für den Weißhaarigen.

***

Dorkas mochte es nicht, wenn jemand an seiner Tür klingelte. Früher nicht und jetzt schon gar nicht. Dahinter standen immer fremde Menschen, und das bedeutete Anstrengung und Stress. So ignorierte er das Klingeln eine Weile und überlegte, ob er das Badewasser einlaufen lassen sollte, um sich derart ein nachträgliches Alibi zu verschaffen. Aber das Klingeln war derart penetrant, dass Dorkas begann, den Urheber dieses Störgeräusches schon zu hassen, bevor er ihm auch nur in die hässliche Visage geschaut hatte.

Derart emotional befeuert, stürmte Dorkas schließlich zur Tür und riss sie auf, uneingedenk all der Fährnisse, die dahinter lauern mochten. Vor ihm stand in einer quälend demütigen Haltung ein Mann, den Dorkas in seinem geistigen Schubladensystem irgendwo zwischen »krank« und »Jammergestalt« einordnete.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte der Mann und blickte scheu in Dorkas grimmiges Gesicht. »Mein Name ist John Little. Ich suche Herrn Tanner.«

Dorkas blies die Backen auf. Zugleich erweckte der Name »John Little« in ihm eine vage Erinnerung, die nichts mit Robin-Hood-Geschichten zu tun hatten.

»Er ist nicht hier«, gab Dorkas den Stand seiner Information bekannt. Little zuckte unruhig zusammen. Er suchte in seiner Tasche und holte einen Brief heraus.

»Er hat das verloren. In Kairo. Das war meine Möglichkeit, ihn zu finden, Sie verzeihen?«

»Kairo? Kairo! Es scheint mir, es ist an der Zeit, Sie hereinzubitten.« Dorkas machte dem schmächtigen Mann den Weg in seine Wohnung frei.

***

Lucille Chaudieu lehnte sich zurück. Wenn sie sich nicht bewegte und die Korbmöbel nicht knarrten, war sie von völliger Stille umgeben.

Selbst die Vögel waren noch nicht erwacht, obwohl im Osten der erste Streifen von Grau die Baumwipfel stärker hervortreten ließ. Sie war unausgeschlafen, und dennoch wirkte dieser frühe Morgen auf sie wie ein starkes Aufputschmittel und jeder Gedanke an Schlaf war lächerlich.

Ein Schrei ihres Pfleglings Tony Tanner hatte sie geweckt und an sein Bett getrieben. Als sie neben ihm stand, lag er schon wieder ruhig da, in der undurchdringlichen Ruhe, die ihn seit Tagen gefesselt hielt. Es schien, als würde sie eine leere Hülle pflegen. Und während sein Körper sich mit jedem Tag erholte, viel schneller als Lucille erwartet hatte, weigerte sich sein Bewusstsein oder die Seele oder was auch immer, zurückzukehren. Lucille schaute in Augen, die wirkten, als wären sie aus Glas. Manchmal schienen in seinem Inneren Geschehnisse abzulaufen, die sie nicht verstehen konnte, und die Krämpfe, die Zuckungen, die Schreie, die fast die einzigen Lebenszeichen des Tony Tanner waren, wirkten wie das Wetterleuchten eines entfernten Unwetters.

Lucille Chaudieu lauschte in die Stille und grübelte darüber, welche Kraft es wohl sein mochte, die Tony Tanners Seele in ihrem Bann hielt.

Anscheinend bestand sein gesamtes Leben nur noch aus einem zeitlicher Rahmen, in dem sich eine Kette von Absurditäten abspielten, dachte Dorkas. Er merkte, dass sich auf seinem Gesicht ein Lächeln bildete. Wie hieß es in einem Lied von John Lennon – Leben ist das, was dir zustößt, während du Pläne machst.

 

Dorkas hielt nicht übermäßig große Stücke auf John Lennon, aber dieser Satz hatte in all seiner Hippie-Banalität doch etwas an sich. Zumindest in diesem speziellen Moment in Dorkas Leben, während er sich in der Küche zu schaffen machte und mit routinierten Handgriffen, die etwas von der Eleganz und Knappheit guter Boxschläge hatten, einen Tee zuzubereiten.

Der Mann, der sich als John Little vorgestellt hatte, saß am Tisch und räusperte sich dünn. Er verbreitete die zugleich nervöse und unangenehm hilflose Atmosphäre eines Zahnarztwartezimmers.

»Sie trinken doch einen Tee mit«, fragte Dorkas und stellte fest, dass diese Frage blöde war und lediglich dazu diente, ein Loch in das nervöse Schweigen des Mannes zu bohren.

Dorkas, aus dir wird nie ein Society-Typ, beurteilte er sich selbst, nur um dann aus gewachsener Lebenserfahrung hinzuzufügen, dass auf dieser Erde wesentlich mehr Dinge unmöglich erscheinen als sie es tatsächlich sind.

»Ich schätze, in England gehört das zum guten Ton«, antwortete Little etwas hilflos. Vor dem Satz räusperte er sich erneut und seine Stimme klang rau und belegt, als wäre er seit langer Zeit das Reden zu anderen Menschen nicht mehr gewohnt. Sein amerikanischer Akzent war so stark, dass Dorkas Mühe hatte, ihn sofort zu verstehen.

»In diesem Land gehört es auch zum guten Ton, halbrohes Rindfleisch mit einer seltsamen Minzesoße zu verschlingen«, bemerkte Dorkas trocken. »Und trotz meiner lebenslangen Tendenz zu kleinbürgerlicher Anpassung habe ich mich dieser Sitte immer verweigert. Also, es steht Ihnen frei …«

Little hob die Schultern, was Ausdruck einer gewissen Resignation zu sein schien, von Dorkas aber einfachheitshalber als Zustimmung gedeutet wurde und ihm willkommenen Anlass bot, eine Weile mit Tassen, Untertassen und Löffeln zu hantieren und langwierig nach Zucker und Sahne zu suchen. Schließlich ließen sich diese Tätigkeiten nicht mehr weiter ausdehnen, und Dorkas nahm seufzend Platz. Er betrachtete seinen Gast, der sich am Henkel der Teetasse festhielt wie eine Passagier eines Vorortzuges, wenn sein fahrender Untersatz über eine Weiche rumpelt.

Wir basteln uns einen John Little, dachte Dorkas und genoss seine Boshaftigkeit, und dazu nehmen wir einen feuchten Wischlappen und setzen ihn unter Starkstrom. Das war der Eindruck, den Little auf ihn machte. Zugleich wachsweich, geradezu schlaff und doch mit der Aura ständiger Anspannung und Nervosität. Little versuchte ruhig zu bleiben, äußerlich gelang es ihn sogar, und dennoch vibrierte etwas in ihm, als liefe da eine Maschine, für die der Körper Littles nur der Unterstellplatz wäre.

Dorkas holte Luft, um etwas zu sagen, aber dann fiel ihm nichts ein oder der Mut verließ ihn und er beließ es bei dem seufzenden Atemzug. Und dann war es zu spät, um etwas zu sagen, und so saßen die beiden Männer schweigend wie Fremde, die auf die U-Bahn warten.

 

Durch das Fenster drangen die Geräusche des Hofes. Ein Wagen wurde angelassen, aus einem Nachbarhaus erklang plötzlich eine Frauenstimme in unangenehm schrillen Tönen, denen ein männlicher Bass antwortete. Die Lautstärke der beiden Stimme steigerte sich, die Sätze wurden schneller herausgeschleudert, und Dorkas versuchte, die Worte zu verstehen. Es war ein Ehestreit von durchschnittlich alltäglicher Peinlichkeit, er glaubte sogar, sich an einige derartiger Szenen erinnern zu können. Dann hörte er das Klappern der Tasse und schaute auf Little, der weiter in sich zusammengesunken war und den Kopf gesenkt hielt, als müsste er Prügel befürchten. Seine Hand, die noch die Tasse umklammerte, zitterte unkontrolliert und so stark, dass die von Dorkas kunstvoll bereitete Flüssigkeit auf den Tisch schwappte.

»Nehmen Sie das nicht tragisch«, versuchte Dorkas zu beruhigen. »Diese Szenen liefern meine Nachbarn mit einer gewissen Regelmäßigkeit ab. Es gehört sozusagen schon zur hiesigen Folklore. Aber Sie wissen ja: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich …«

Little schüttelte den Kopf und versuchte, die Hand von der Tasse zu lösen, was ihm nur mit Mühe gelang. Der Tisch war auf seiner Seite mit Tee bespritzt, aber Little wischte mit seinem Ärmel durch die Lachen, ohne überhaupt zu registrieren, dass er sich beschmutzte.

Der Streit war inzwischen schon längst beendet, und das Auto hatte mit wütendem Motorgeheul den Hof verlassen. Langsam dämmerte Dorkas, was wirklich geschehen war. Dieser Vorfall war seinem Gegenüber nicht einfach peinlich gewesen, wie es bei den meisten Menschen mit einer einiger Kinderstube der Fall gewesen wäre. Nein, es war mehr, so als würde ein Fernsehempfang durch ein elektrisches Gerät gestört und sogar unterbrochen.

»Sie hassen sich derart … ich frage mich, warum sie noch zusammenleben«, flüsterte Little. Er fuhr sich über die Stirn und zuckte erschreckt zusammen, als er den nassen Ärmel bemerkte.

Dorkas holte ihm ein Handtuch.

Dorkas nahm Littles Äußerung dankbar zum Anlass, doch zu einem Gespräch zu kommen. »Ich sehe nur drei Möglichkeiten … entweder sie haben noch tierisch guten Sex miteinander oder es ist das Geld oder ein bedauerlicher Mangel an kreativer Lebensgestaltung, der ihnen nicht erlaubt, sich ein Leben ohne den herzlichst gehassten Partner vorzustellen. Ich würde einiges auf die dritte Variante setzen. Mmh – aber ich denke, Sie haben mir einiges zu erzählen.«

Little nickte, müde und schicksalsergeben wie ein Verurteilter. »Es wird eine ganze Weile dauern.«

Dorkas prüfte skeptisch den Inhalt seiner Teekanne, stellte mit Befriedigung einen Stand fest, der auf gut zweieinhalb Liter schließen ließ, und lehnte sich zurück. Seine Arme schwangen durch die Luft, in der umfassenden Gebärde eines Bauern, der Ähren zusammenrafft, und so legte Dorkas förmlich die Zeit in einem reichen Bündel auf den Tisch.

»Wir haben alle Zeit der Welt«, verkündete er großmütig und dabei dachte er: Wir haben gar keine Zeit. Aber irgendwie denn doch. Für Little war es ein Moment, den er seit Jahren gefürchtet hatte. Er empfand Angst und Schmerz und zugleich Erleichterung, denn nun war es soweit, und nun musste er es hinter sich bringen. Und so ließ sich John Little durch die Jahre zurückfallen, durch all die Jahre, die er wie ein Schutzpolster um sich her aufgebaut hatte und er stürzte und fühlte, wie die Hornhaut der seither wie eine Pflichtübung abgelebten Zeit schwand und wie der sanfte Sommerwind jenes Junis 1993 wieder über seine Wange strich.

***

Es war ein perfekter kalifornischer Morgen gewesen, kühl, kraftvoll und schön wie die Rückenansicht eines Beach-Girls. Little hatte ausgeschlafen, sich einen ausführlichen Dauerlauf gegönnt und dann ebenso ausführlich gefrühstückt. Beim Kauen hatte er sich überlegt, ob er seinem Gefühl trauen konnte, und war zu dem Ergebnis gekommen, dass heute der Tag war oder dieser Tag nie kommen würde. Er hatte im Institut angerufen und seine Entscheidung bekannt gegeben.

»Gut, es ist deine Show«, war die Antwort gewesen. »Allerdings solltest du an den Probanden Nummer Sieben denken.«

»Nummer Sieben hat Drogen genommen, auch kurz vor dem Versuch. Das ist eindeutig erwiesen. Solche Pfeifen kommen irgendwann in die Klapsmühle, so oder so. Da gehören sie auch hin.«

»Alles klar, wir erwarten dich dann«, lautete die knappe Erwiderung. Die Erinnerung an den Probanden Nummer Sieben warf einen kleinen Schatten auf Littles Stimmung, aber das hielt nicht lange an. Niemand hatte Schuld an dem misslungenen Versuch außer dem Probanden selbst, und irgendwie war es unvermeidbar, dass sich einer dieser bescheuerten Drogenfreaks auf der Suche nach weiterer » Bewusstseinserweiterung« (sprich einer neuen Dröhnung, die sein inzwischen abgestumpftes Hirn kitzeln würde) in dem Institut einnistete.

Sei’s drum.

Als Little den Motor seines 72er-Mustang gestartet hatte, war seine Welt wieder völlig im Lot gewesen. Er hatte für einen Herzschlag lang in sich hinein gelauscht und dort Aufregung, Neugier und eine angenehm prickelnde Abenteuerlust entdeckt. Er war losgefahren, nicht auf dem direkten Weg, sondern auf einer gewundene Straßen durch die Hügel. Manchmal war hinter einer Kurve die glitzernde Fläche des Pazifiks erschienen, dann wieder hatte sich ein bewaldeter Hügel davor geschoben und das Asphaltband der Straße in ein bewaldetes Tal gezwungen, in dem die Eroberung Amerikas durch die weiße Rasse noch nicht stattgefunden zu haben schien.

Die Luft war voll von dem süßen Duft des sonnenerhitzten Waldbodens gewesen, Little erinnerte sich, wie Raubvögel kreischten, aus dem Unterholz konnte in jeder Sekunde ein unentdeckter Indianerstamm treten. Little hatte bedauert, dass hier nur seine Phantasie am Werke war. Welche verdammte Rücksichtslosigkeit lag darin, die Welt bis in jede Falte hinein zu vermessen und zu betreten?

Da schwafelten diese Ökofanatiker von den Lasten, die diese Generation ihren Kindern aufbürdete! Aber was hatte seine Generation denn für ein Erbe übernommen? Landkarten ohne jeden weißen Flecken. Berge, auf deren Spitzen keine Götter mehr thronten, sondern leere Sauerstoffflaschen herumlagen und bunte Fetzchen, Nationalflaggen genannt, Zeugnis dafür ablegten, dass die Banalitäten der Täler dank menschlicher Zähigkeit auch in eisige Höhen getragen werden konnten. Zwischen Nord- und Südpol gab es keine Fußbreit Boden mehr, der nicht von den Horden schnatternder, sensationsgierig- verständnisloser Pauschaltouristen plattgetrampelt worden war.

Es war ein elendes Erbe. Man sollte jeder Generation aufs Neue die Chance geben, den Weltatlas neu zu schreiben. Neue Küsten, unbekannte Gewässer, geheimnisvolle Berge – und nichts wird verraten, damit die Söhne und Enkel nicht mit der Altlast schon vorgekauten Wissens aufwachsen müssen und fett und unzufrieden werden. Das wäre es. Aber es gab keine unbekannten Küsten mehr und so war John Little, den alle Boo Little nannten, zu dem geworden, was er war und wofür er manchmal die Bezeichnung Psychonauten nutzte, obwohl sie zu viel von der verborgenen Abenteurerromantik anklingen ließ, die er als eines seiner Forschungsmotive identifiziert hatte. Neurologe hätte die Sache auch getroffen oder Bewusstseinsforscher. Worauf es ankam, war das Faktum, dass alleine die Erforschung der menschlichen Psyche noch die Chance auf wirkliche Entdeckungen verhieß.

Es war sein Vater gewesen, der John Little auf diesen Weg geführt hatte. Nicht, dass sich Oliver T. (Surehand) Little durch ein besonders reiches Seelenleben ausgezeichnet hätte. Im Gegenteil. Er schien ein solches erst gar nicht zu besitzen, sondern bestand aus der glasharten Oberfläche eines bekannten Chirurgen, der Tag für Tag mit Geschick seinem Handwerk nachging. Oliver T. Little betrachtete den Menschen als eine Maschine, deren Reparatur er sich zur Aufgabe gemacht hatte. Er war ein genialer Klempner von Arterien, Venen, Bindegeweben und Muskelsträngen, der seine Patienten stets als Präparate bezeichnete und sich weigerte, auch nur einmal den Namen eines von ihm behandelten Kranken anstatt Das Präparat von Zimmer 7, Bett 1 zu nutzen.

John Little bewunderte seinen Vater rückhaltlos und doch ohne jede Liebe, weil er nicht fähig war, ein Wesen zu lieben, das die Perfektion der spiegelnden Kachelwände hatte, um deren Glanz sich seine Mutter als ihren täglichen Beitrag zum Wohlergehen der Familie hingebungsvoll gekümmert hatte. So verlief die Jugend Littles und sie endete an dem Tag, als sein Vater mit dem Auto volltrunken (bis dahin hatte Oliver T. Little jede Form des Rausches als selbst indizierte kindische Regression bezeichnet und erfolgreich gemieden) gegen einen Brückenpfeiler gerast war.

Die Polizei hatte keine Bremsspur gefunden, und Littles Vater war auch nicht angeschnallt gewesen. Die Mutter verfiel in sozial verträgliche Trauer, die sie erledigte wie ihre Hausarbeit. John Little war nicht weniger erschüttert gewesen, aber zum ersten Mal seit Jahren begann sein Vater für ihn zu einer interessanten Person zu werden. Er hatte in dessen Unterlagen geschnüffelt und eine dicke Kladde gefunden, auf der mit roter Tinte Contes barbares stand.

Little hatte nie gewusst, dass sein Vater Französisch sprach. Erst später erkannte er, dass der Titel auf der Kladde einem Titel eines Gauguin-Gemäldes entnommen war. Die Handschrift, die er auf den Seiten fand, ähnelte nur schwach der Handschrift seines Vaters, wie er sie aus dem Alltag kannte. Little hatte zu lesen begonnen.

Sein Vater war ein miserabler Schriftsteller und ein ebenso lausiger Zeichner, aber er konnte deutlich machen (Wem eigentlich? Doch wohl nur sich selbst?) was er meinte.

Nachdem Little einige Seiten gelesen hatte, mit einem ständig steigenden Gefühl der Atemlosigkeit, der Scham und des Entsetzens, stürmte er in den Garten und verbrannte die Kladde auf dem Grill. Das war also sein Vater. Besser – das war AUCH sein Vater. Aber – der Gedanke, dass dieser Mann, der diese Dinge phantasierte (Phantasierte er wirklich nur? Little wollte es lieber nicht wissen.) sein Vater gewesen war, ließ Little schaudern. Es war unvorstellbar und doch war es so. So entdeckte Little, dass sein Vater eine Seele gehabt hatte, und er setzte die Segel, um diese wilde Land zu entdecken.

Boo Little hatte Medizin und Psychologie studiert und daneben Kurse in Soziologie, Philosophie und kulturgeschichtlichen Fächern belegt. Er war intelligent und raublustig (auch wenn seine Lehrer ihn für fleißig und ehrgeizig hielten). Beziehungen zum anderen Geschlecht hatte Little nicht, trotz einer Reihe von Gelegenheiten, die sich bis zu offenen Angeboten einiger hübscher Studentinnen steigerten. Aber er dachte an die Kladde seines Vaters und fühlte sich seinem Erzeuger zum ersten Mal wirklich verbunden; verbunden und verhaftet in der Angst, dasselbe in sich zu tragen, was sein Vater unter der reibungslosen Alltagsmechanik versteckt hatte.

Nach dem Studium hatte Little an verschiedenen Hospitälern der Staaten und Kanadas gearbeitet und , nachdem er einige Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Neurologie gehabt hatte, eine Stelle in dem Institut, das in diesem Moment hinter einem Hügel auftauchte, bekommen. Von der Straße führte eine Zufahrt zu den Gebäuden, die auf einer Klippe direkt über dem Strand lagen. Die Schindeldächer ließen an ein Hotel denken oder an ein exklusives Sanatorium denken, nur nicht an ein weltweit renommiertes wissenschaftliches Institut.

Die naturnahe Bauweise war ein frommer Tick des Gründers und Sponsors der Einrichtung, dessen Namen sie auch trug: William-Evander Dillon-Institut für Bewusstseinsforschung.

Der Parkplatz, den Little angesteuert hatte, verriet eine ganze Menge über die Angehörigen des Institutes – einige Corvette und Porsche standen neben Rostlauben, auf denen sich sämtliche Sprüche, Symbole und Bilder der Hoch-Hippie-Ära finden ließen. Nicht zu vergessen war natürlich die Ansammlung von Fahrrädern, unter denen sich einige Exemplare befanden, die den Versuch dokumentierten, Weltraumtechnik mit dem guten alten Drahtesel zu kombinieren. Das alles hatte etwas von einem Studentenheim kurz nach Beginn der Semesterferien zusammengewürfelt mit einem hochwissenschaftlichen Labor.

Die Angehörigen des Institutes teilten sich in zwei Fraktionen, die sich in einer Art kreativen Wettbewerbs gegenüberstanden. Da waren auf der einen Seite die »Alten« (was nichts mit dem Geburtsjahr zu tun hatte), welche die konventionellen statistischen naturwissenschaftlichen Methoden bevorzugten, während die »jungen Wilden« keinerlei Hemmungen hatten, Eskimo-Schamanen oder neuguineische Medizinmänner zu konsultieren.

Der Aufsichtsrat des Institutes hatte Little unter anderem in der Hoffnung angeworben, er könne zwischen den beiden Fraktionen vermitteln.

Tatsächlich war ihm dies im Laufe der Jahre gelungen. Einerseits, indem er für regelmäßigen Gedankenaustausch sorgte und verhinderte, dass sich die Parteien allzu misstrauisch beäugten, andererseits aber auch durch seine eigene Person. Er hatte die emotionslose wissenschaftliche Ader seines Vaters geerbt und sich ebenso trommelnd und singend in Einführungskursen für Schamanismus und Lektionen in praktischer Magie für Fortgeschrittene herumgetrieben.

Überhaupt hatte Little, nachdem er Elternhaus und Universität überlebt hatte, größeres Vertrauen zu sich und dem Dasein gefasst und hatte seinem nicht unbeträchtlichen Nachholbedarf auf diversen Gebieten abgeholfen. So war er bald zu einem der wichtigsten Männer des Institutes geworden.

Little verstand schnell, wie man den Geldgeber bei Laune hielt: Man musste lediglich einmal im Jahr für einen wissenschaftlichen Streit sorgen, eine Aufsehen erregende Entdeckung publizieren oder zumindest einen Preisträger in den eigenen Reihen haben. Dann flossen die Gelder reichlich, und die Zukunft des Institutes war gesichert.

Dann war da jener Tag gewesen, von dem er Dorkas, der fasziniert zuhörte, berichtete. Little war fest davon überzeugt, dass er an diesem Tag den Grundstein für eine Aufsehen erregende Entdeckung gelegt hatte.

 

Dorkas hörte Dr. John Little fasziniert zu und erlebte dessen Bericht so, als sei er selbst dabei gewesen.

Aus den offenen Fenstern waren Geräusche gedrungen: das Klappern einer Schreibmaschine, das Rattern eines Nadeldruckers, auf- und absteigende Tonfolgen, Fetzen von Don Giovanni und rhythmisches Trommeln – hier wurden die Auswirkungen akustischer Reize auf die Hirnaktivität gemessen. Little war um den Komplex gelaufen, dessen einzelne Gebäude durch überdachte Gänge verbunden waren. Eine Welle von Harmonie durchflutete ihn. Er fühlte sich diesem Institut, den Leuten, die hier täglich zäh und entschlossen kleine funkelnde Stückchen von Erkenntnis aus dem Schutt von Datenmengen und Statistiken wuschen, verbunden als wären sie Kameraden einer Seilschaft oder eines Stoßtrupps in Feindesland.

Und, so hatte er überlegt, waren sie nicht wirklich etwas Ähnliches? Waren sie nicht dabei, in unbekannte Gefilde vorzudringen, dorthin, wo das Atmen schwerfällt, und war nicht auch die Gefahr ein Teil ihres Berufes?

Vor nicht allzu langer Zeit hätte Little jeden Gedanken an Gefahr als unpassende pubertäre Romantisierung von sich gewiesen. Dann aber gab es einige Ereignisse, an denen er mittelbar oder unmittelbar teilgehabt hatte, zuletzt natürlich der Proband Nummer Sieben, die ihn eines Besseren belehrten.

Das hatte Little nicht abgeschreckt. Im Gegenteil, es spornte ihn an. Der persönliche Einsatz, über Fleiß und Konzentration hinaus, wirkte auf ihn wie ein anregendes Mittel. Hier hörte die Wissenschaft endlich auf, eine 8-bis-16-Uhr-Angelegenheit zu sein, hier forderte sie mehr als stures Einhalten von Regeln. Er hatte sich vor die Treppe gestellt, die in einem eleganten Bogen hinab zum Strand führte, wo die Delfinbecken waren und …

»Wieso Delfine«, fragte Dorkas etwas verwirrt. »Hatten Sie eine Abteilung für Meeresbiologie in dem Institut oder so etwas?«

»Nein. Wir, das heißt vor allem ich, nutzten die Delfine als Untersuchungsobjekte.«

»Und wieso Delfine?«

Little zögerte etwas mit der Antwort. Dann sagte er: »Weil sie schön sind. Das ist der eigentliche Grund. Es gibt immer eigentliche Gründe und gute Gründe. Die guten Gründe waren, dass Delfine die einzigen höher entwickelten Säugetiere sind, die sich frei in einem dreidimensionalen Raum bewegen.«

Dorkas überlegte. »Aber Affen zum Beispiel, die klettern auf Bäumen herum, und diese Fähigkeit soll meines Wissens auch auf die geistige Entwicklung zurückwirken …«

»Das ist es nicht, was ich meine. Affen brauchen Bäume, der Mensch kann Leitern hochklettern oder auf Berge steigen. Aber er kann nicht spontan nach oben oder nach unten schwimmen. Für uns ist die dritte Dimension mehr oder weniger nur die Höhe. Für Delfine bedeutet sie Höhe und Tiefe. Man merkt schon, wie schwer das für die menschliche Fantasie nachzuvollziehen ist. Außerdem haben Delfine ein hoch entwickeltes Verständigungssystem. Sie können spielen. Sie haben ein kompliziertes Sozialgefüge. Ich hielt sie für intelligenter als die Menschen. Und sie sind ihrem Element in vollkommener Weise angepasst.«

»Und darum wurden Sie also Delfinforscher?«

»Mehr oder weniger. Ich studierte ihr Verhalten. Ich suchte nach Verständigungsmöglichkeiten und pappte ihnen Sensoren auf die Haut.«

»Das klingt, als ob der Bewunderer zugleich auch der Foltermeister gewesen wäre?«

»Nein, nein. Es war so, dass die meisten Versuchstiere Freiwillige waren. Wir fütterten sie und sie kamen sozusagen immer mal vorbei, um zu schauen, was gerade gebacken war im Institut. Ich bin sicher, dass sie mich ebenso als Versuchskandidaten genutzt haben wie ich sie. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Sie hatten Spaß an den Spielen und nutzten die Möglichkeit, ohne viel Arbeit an Futter zu kommen. Noch ein Zeichen für ihre Intelligenz.

Einige Tiere blieben eine Weile in den Becken und verschwanden dann wieder. Wie gesagt, kein Zwang, das hätte ich nicht über das Herz gebracht.«

»Gab es konkrete Ergebnisse Ihrer Untersuchungen?«

»Nun, ich studierte das Verhalten der Tiere – ich habe immer Hemmungen, sie Tiere zu nennen. Das klingt für mich immer nach Käfighaltung und Schlachtvieh. Nun ja, es gab eine Menge Papier, das ich beschrieben habe, und ich veröffentlichte einige Aufsätze und hielt eine Zeit lang fast wöchentlich einen Vortrag irgendwo in den Staaten. Vielleicht haben Sie schon von dem Little’schen Quadrat gehört. Es beschreibt sozusagen die Bewusstseinsstufen intelligenter Lebewesen in Bezug auf ihre Umwelt.«

Dorkas schaute derart verständnislos, dass sich Little keine Mühe machte, auf die Antwort zu warten, und gleich fortfuhr: »Quadrat deswegen, weil es vier Stufen sind. 1.: Du lernst das Spiel. 2.: Du lernst die Regeln des Spieles. 3.: Du machst deine eigenen Regeln zu dem Spiel. 4.: Du machst dein eigenes Spiel. Das ist das Little’schen Quadrat. 5.: Du erfindest Regeln zu deinem Spiel. 6.: Du bringst andere dazu, dein Spiel nach deinen Regeln zu spielen …«

»7.: Du kassierst Provision dafür«, ergänzte Dorkas grinsend. Die vier Regeln waren so einleuchtend, dass sie schon fast wieder banal waren. Aber er ahnte, wie viel Arbeit und Intelligenz aufgewendet werden mussten, bis am Ende eine solche Formel stand. »Warum haben Sie mit diesen Untersuchungen aufgehört?«

»Ich kam zu einem Stillstand. Ich brauchte etwas Neues. Außerdem hatten wir eine neue Mitarbeiterin, die besser mit den Delfinen umgehen konnte, als ich es je gekonnt hätte. Das war für mich ein ganz persönliches Problem, zumal sie in ihrem Neopren-Anzug außerordentlich knackig aussah. Ich beschloss, erst einmal eine kreative Pause einzulegen und den Kollegen im Institut über die Schulter zu schauen. Nach ein paar Tagen bekam ich Wind von den LSD- und Mescalinversuchen, und da hatte ich dann etwas, was mich wieder richtig packte. So vergaß ich erst einmal die Delfine.«

 

Die Delfinbecken, auf die Little jetzt schaute, als müsste er sich noch einmal die Stationen seines Lebens vergegenwärtigen, hatten ihm auch die Idee zu der Forschungsreihe gegeben, die er an diesem Tag weitertreiben wollte. Lange Zeit hatten sie die Reihen der Drogenexperimente weitergeführt, ergänzt durch Versuche mit Probanden, die sich in verschiedensten Stufen der Meditation befanden. Irgendwann wurde Little klar, dass diese scheinbar so verschiedenen Zustände einige Gemeinsamkeiten hatten. In beiden Fällen ging es darum, den Sinnesapparat beziehungsweise dessen Interpretation im Hirn zu verändern.

Bei der Meditation wurden die Sinne ausgeschaltet. Drogen dagegen führten zu einer neuen Interpretation bekannter Sinneseindrücke, In beiden Fällen war der Effekt von außen herbeigeführt. Durch einen Willensakt in der Meditation oder durch Veränderungen der Körperchemie im Drogenbereich. Die Frage war, wie das Bewusstsein reagieren würde, wenn die Sinne ohne Chemie oder einen religiös-kulturell fundamentierten Willensakt einer Veränderung unterworfen werden würden.

Zuerst arbeiteten sie mit Reizüberflutung. Sie stellten mit einem gewissen Erstaunen fest, dass in einer Zeit, in der jeder Normalbürger zugleich Auto fährt, Radio hört, einen Hamburger isst und sich mit seiner Frau streitet, Reizüberflutung zum Standard gehört, auf den das Gehirn mit Symptome reagierte, die jeder Hausarzt tagtäglich in seiner Praxis findet.

Über diesen Zustand hinaus langte man bei schizophrenen Zuständen an, die mit einer signifikanten Veränderung des Dopamin-Spiegels einhergingen, sich allerdings nach einiger Zeit wieder in den Normalzustand auflösten.

Little brach die Versuchsreihe ab. Sie führte in eine Sackgasse. Und zugleich war sie der Ansatz zur Lösung. Jemand, der seine fünf Sinne nicht beisammenhatte, war für diese Welt ungeeignet. Wer den sechsten Sinn hatte, war den anderen überlegen. Wenn etwas sinnlos war, dann war es für den Menschen unwichtig oder sogar störend. Der Mensch empfindet die Welt durch seine Sinne. Er speichert das, was die Sinne ihm mitteilen, in seinem Hirn. Und er spiegelt alles zurück in die Welt, indem er ihr einen Sinn geben will.

Seit Urzeiten, seit es überhaupt Menschen gibt, versuchte dieser Mensch, das Chaos seiner Umwelt zu ordnen und zu verstehen. In dieser Handvoll grauer Substanz, die jeder Zweibeiner in seiner Schädelkalotte trägt, steckt das Netz, in dem er die Welt fängt, um sie zu seiner Beute zu machen. Was aber, wenn man dem Menschen jeden Sinn nehmen würde? Wie würde das Gehirn, das Bewusstsein reagieren, wenn alle Drähte zur Welt gekappt werden und die graue Hirnsubstanz auf sich selbst zurückgeworfen und nur mit sich selbst beschäftigt sein würde?

In den Tagen, in denen sich Little mit derartigen Überlegungen abgab, sah er einen Delfin, der bewegungslos an der Oberfläche eines Beckens trieb. Dieser Moment war der Augenblick, in dem der Tank geboren wurde. Das Prinzip nannte sich sensorische Totaldeprivation. Der Tank war eine mit Salzwasser gefüllte Grube, in der die Versuchsperson bewegungslos treiben konnte. Wenn man den Deckel schloss, herrschten völlige Dunkelheit und völlige Stille.

Es gab eine Unzahl lästiger technischer Probleme zu lösen: Wie sollte man den Tank belüften, wie konnte man die Atemluft hereinführen, ohne dass Geräusche oder ein Windzug entstanden? Wie stellte man sicher, dass die Zuluft so rein war, dass keine Moleküle die Nase der Versuchsperson erreichen und in ihr eine Duftempfindung auslösen könnte? Welche Salzkonzentration für das Wasser, welche Temperatur, welches Material der Tankwände, damit alle Geräusche geschluckt wurden? Wie konnte man die Hirnströme messen, ohne das Prinzip der totalen Abschottung zu durchbrechen? Wie reagierte die Haut auf einen längeren Aufenthalt in dieser Salzlake, wie bekam man hygienische Probleme durch Säuberung der Trägerflüssigkeit in den Griff? Little fühlte sich manchmal in ein Ingenieurbüro versetzt, das eine Raumkapsel konstruieren soll.

Es ging ihm nicht schnell genug, jeder Tag brachte neue, kleine und unendlich kompliziert zu überwindende Hindernisse. Sie brauchten das Doppelte und Vierfache der angepeilten Zeit und erlitten mit einigen Versuchsmodellen Schiffbruch. Aber schließlich war es so weit und der Tank konnte in Betrieb genommen werden. Schon die ersten Probeläufe zeigten, dass Little und seine Mannschaft geradezu eine Goldgrube für die Wissenschaft gegraben hatten.

Hier war der Stoff für Dutzende von Dissertationen, Vorträgen, Veröffentlichungen.

Nach einer Phase der Euphorie merkten sie allerdings schnell, dass die Experimente nicht ungefährlich waren. Es gab Freiwillige, die nach kurzer Zeit als kreischende Nervenbündel aus dem Tank gezogen werden mussten und sich erst nach Tagen wieder ihrem Normalzustand näherten, während sich die Hirnwellen zu Mustern zackten, die das Entzücken jedes Experten hervorriefen. Es stellte sich heraus, dass der Aufenthalt im Tank nur einige Stunden, im Maximum sechs Stunden möglich war, ohne dass Schäden zu befürchten waren.

Und diese sechs Stunden waren auch nur bei Personen erreichbar, die sich schon oft im Tank aufgehalten hatten.

Die Wirkung von Drogen wurde im Tank verstärkt, eine Tatsache, die den Probanden Nummer Sieben in die geschlossene Abteilung einer Nervenheilanstalt gebracht hatte, wo er seither nur wimmernd in einer Ecke hockte und nur zur Seite rückte, wenn die Pfleger seine Urinpfütze wegwischen wollte. Da jeder Versuchsteilnehmer entsprechend aufgeklärt worden war und eine Versicherung unterschreiben musste, dass er in den letzten sieben Tagen weder Alkohol noch andere Drogen zu sich genommen hatte, war Proband Nummer Sieben weder ein juristisches noch ein wissenschaftliches Problem. Allenfalls ein emotionales, aber auch dafür hatte Little an diesem Tag keine Zeit und keine Lust.

Er vollendete seine Umrundung der Gebäude und betrat das Büro seiner Abteilung. »Hipp hipp hurra, wir dachten schon, du drückst dich«, wurde er begrüßt.

»Keine Idee«, antwortet Little. »Wir fangen sofort an.«

Sofort verflog die lockere Stimmung unter seinen Mitarbeitern. »Überleg’ es dir besser nochmal.«

»Wenn ich eine Sache zehnmal überlege und immer zur gleichen Entscheidung komme, dann lohnt sich das elfte Mal nicht mehr.«

»John, vierundzwanzig Stunden, das ist ein bisschen heftig!«

»Es ist lediglich das Maximum multipliziert mit dem Faktor vier.«

»Pass auf. Sagen wir neun Stunden – Maximum plus drei. Das bringt uns doch genug Material, um zwei Wochen Überstunden zu schieben. Und du brauchst auch nicht so lange an deinem Bericht zu schreiben.«

»Vierundzwanzig Stunden! Eine Sache über die Grenzen zu treiben hat auch einen Versuchswert. Also hört auf zu lamentieren und kommt mit. Ich will anfangen. Morgen um diese Zeit sehen wir uns in alter Frische wieder.«

Little wollte gehen, als ihm die Sekretärin mit einem Räuspern ein Formblatt entgegenhielt.

John Little unterschrieb mit dem besten Gewissen. Er hatte keine Drogen genommen, er hatte keinen Alkohol getrunken, er hatte keinerlei sexuelle oder sonstigen tief greifenden Probleme, in seiner Verwandtschaft war keine auffällige Häufung psychischer Erkrankungen zu beobachten und es war auch kein Strafverfahren gegen ihn anhängig. Er war in Bestform, und wenn einer fähig war, den Sturm auf den Gipfel zu unternehmen, dann war er es.

 

Die Routine der Vorbereitungen lief an. Elektroden wurden an Littles Körper befestigt, die Verbindungen geprüft, die Referenzwerte eingestellt. Dann legte er sich auf eine Bahre, die hydraulisch vom Grund des Tanks hochgefahren werden konnte. Dieses System war aufwändig und brachte technische Komplikationen mit sich, hatte sich aber bewährt.

Little hatte es selbst in groben Zügen entworfen, nachdem sie eine Versuchsperson in einem Zustand vollkommener Starre im Tank aufgefunden hatten und eine Aktion durchführen mussten, die schon etwas von einer Bergung aus einer Gletscherspalte an sich hatte.

Er machte es sich bequem, winkte mit der Hand seine Bereitschaft und spürte den leichten Ruck, mit dem sich die hydraulische Hebesäule in Bewegung setzte.

Der Abstand zwischen Oberkante des Tanks und dem Salzwasser betrug zweieinhalb Meter, nach unten waren es zwei Meter bis zum Grund. Somit war ausgeschlossen, dass sich ein Proband hinstellen oder aus dem Tank klettern konnte. Während Little nach unten glitt, schoben sich von beiden Seiten automatisch die Deckel des Tanks zu. Schon in völliger Dunkelheit merkte er, wie sein Körper auf das Wasser stieß und von ihm aufgenommen wurde.

Little befand sich in einer Welt völliger Lautlosigkeit und Stille. In gewisser Hinsicht war damit der Zustand eines erblindeten Taubstummen imitiert, aber hier, in diesem Tank, gab es keine Gerüche, keinen Wind, der die Haut erreichte, keine Berührungen, keine Vibrationen, keine Erde, die Widerstand bieten konnte. Little schwebte in einer körperwarmen Flüssigkeit.

Er spürte seinen Herzschlag. Der erhöhte Puls am Beginn eines Versuchsganges war normal und er legte sich, wie erwartet, nach kaum einer Minute.

Vor Littles Augen schwebten farbige Formen. Auch das war normal. Wilhelm Reich hatte dieses Phänomen mit der von ihm entdeckten Orgon-Energie in Verbindung gebracht. Little gefiel der Gedanke, dass er hier Gelegenheit hatte, die Spuren einer Energie zu finden, die den Kosmos bis an den Rand des Unendlichen erfüllen sollte. Zugleich schoss ihm die Frage durch den Kopf, ob der Tank nicht gegen derartige Energie, so es sie denn wirklich gab, isolieren sollte. Vielleicht hatten der menschliche Geist und sein materieller Sitz so etwas wie Antennen, die ständig Signale aufnahmen, die der Sinnesapparat nicht registrieren konnte?

Little blieb eine Weile bei diesem Gedanken, der das Prinzip der Abschottung in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ. Es war sogar denkbar (dieser Begriff hatte für Little in diesem Moment einen gewissen Beigeschmack), dass die sensorische Totaldeprivation einen völlig anderen Effekt auslöste, als erwartet wurde – die außersinnlichen Signale, die vorher nur als Rauschen im Hintergrund auftauchten, hatten nun die Möglichkeit, ungefiltert in das Bewusstsein zu dringen. Die Sache konnte spannend werden. Aber, falls es diesen Effekt gab, würde er etwas davon bemerken? Wie lange war er überhaupt schon in dem Tank?

Littles Zeitgefühl war vollkommen verschwunden. In einem Moment erschien es ihm, als wäre erst vor Minuten der letzte Lichtstrahl in sein Verlies gedrungen, und im nächsten erwartete er, dass sich die Deckelhälften wieder auseinander schoben, weil die vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Seine Gedanken zerfaserten sich, sprangen von einem Begriff zum anderen, hielten an, damit sich ein einzelnes Wort wie eine zähe Masse durch eine enge Stelle drücken konnte, um dann sofort wieder im Zickzack weiterzuspringen. Little registrierte sie ohne Anteilnahme, als lehnte er unbeteiligt aus einem Fenster und schaute sich balgende Kinder im Hof an.

Ein leichter Schauder lief durch seinen Körper, das Zeichen, dass er in die Phase völliger Entspannung eingetreten war. Er konnte die Grenzen seiner Haut nicht mehr spüren, sein Körper löste sich auf, verlief in die Dunkelheit hinaus, war eins mit dem Nass, das ihn trug und aufsog und schützte.

Nach den wild umherspringenden Gedanken kamen die Bilder. Zuerst waren es sexuelle Phantasien, die an ihm vorüberzogen, dann folgten Erinnerungen an Menschen, die er gekannt hatte, schließlich fand er sich an den Orten seiner Kinderzeit wieder. In einem Moment der Klarheit erkannte Little, dass er nun etwa sechs Stunden im Tank sein musste, denn bei den letzten Versuchen hatte er sich auf demselben Weg bewegt und war genau an diese Stelle gekommen.

 

Sechs Stunden. Er war an der Grenze zur Terra incognita, er setzte den Fuß auf einen weißen Fleck der Landkarte. Eine leichte Beunruhigung ergriff Little, vielleicht war es auch Erregung, und färbte den Ort, an dem er sich gerade aufhielt, in ein pulsierendes Orange. Mit einiger Verwunderung bemerkte er, dass er sich in der Küche seines Elternhauses befand und sich frei bewegen konnte, obwohl ihm in jedem Moment klar war, dass er nicht wirklich dort war, sondern sich in dem Tank des Institutes befand.

Little versuchte zu fliegen, aber es gelang ihm nicht. Er war verärgert. In Träumen konnte er fliegen, warum nicht in diesem Traum oder dieser Vision? Er konnte sich wenigstens umschauen. Aber es war langweilig, er kannte ja alles. Nur das pulsierende Orange störte. Er wollte es abstellen und erkannte, dass nicht er für die Farbe verantwortlich war. Seine Mutter war nicht im Haus. Vermutlich war sie bei einem ihrer frommen Damenkränzchen mit Kuchen und Klatsch und Kirchlichem.

Little lief durch die Küche, und plötzlich durchzuckte ihn die Frage, ob diese Vision nicht vielleicht doch wirklich war. Vielleicht musste er dieses Leben noch einmal durchleben und dabei wissen, dass es gar nicht seines war, sondern ein Traum eines Mannes während eines Versuches in einem Isolationstank. Und was dann – er würde studieren, am Institut eine Stelle bekommen, an Delfinen forschen, den Tank entwerfen, den Vierundzwanzig Stunden-Versuch beginnen, in den Tank steigen, sich in der Küche seines Elternhauses wiederfinden, zur Schule gehen, studieren – er war gefangen. Ein Ring ohne Ausweg, eine Mühle, gedreht von einem blinden Esel, ziellose Lebenskreise aufeinander gehäuft, um damit die leeren Ewigkeiten von Äonen zu füllen.

Der Gedanke ließ ihn schwindeln. Das war Karma, der Kreis der Wiedergeburten, aber ein Kreis ohne Ausweg. NEIN, das konnte nicht stimmen. Triumph! – Dieses pulsierende Licht war neu, DAS passte nicht zu dem schon abgelebten Leben. Die Beruhigung blieb nicht lange, denn das Licht irritierte ihn. Er ging in den Garten. Nein, es ging ihn in den Garten, Little wurde in den Garten gegangen und dort traf er auf seinen Vater. Warum war sein Vater nicht im Hospital? Es war sehr ungewöhnlich, dass er um diese Zeit zuhause war. Außerdem war ungewöhnlich, dass sein Vater dieses Licht in der Küche produzierte, dieses pulsierende, irgendwie kranke orangefarbene Licht, das in keiner Weise zu seinem beherrschten Wesen passen wollte. Sein Vater ging hin und her und schrieb mit leichtem Kichern in eine Kladde.

Little erkannte die Kladde. Es war ein peinlicher Moment, denn er schien seinen Vater hier bei einer höchst intimen Beschäftigung zu beobachten. Little wollte sich abdrehen, da erkannte er, was sein Vater gerade niederschrieb. Er konnte es nicht in Worte fassen, aber er sah die Bilder, die seinem Vater vor Augen standen und er entdeckte, dass hier die Quelle des seltsamen Lichtes war.

Er sah einen von Bombentrichtern umgepflügten Strand, einen Bunker, der halb aus einer Düne ragte, vier japanische Soldaten, die aus der Öffnung traten, ihre Waffen fortwarfen und mit steil erhobenen Händen, als hätte man ihnen ihre Glieder an die Schulter genagelt standen.

Ihre Gesichter waren bewegungslos. Dann spürte Little eine ungeheure Lust, eine Mischung aus Gier und Geilheit, die sich im selben Moment in triumphale Erfüllung ergoss, als sich ein Zeigefinger krümmte und ein Feuerschweif aus dem Flammenwerfer von Little senior hervorschoss – goldfarben, rot, pulsierendes Orange, das in dickflüssigen, träg zerfließenden Rauch überging. Das Feuer hüllte die Soldaten ein, löste ihre Starre auf in einem taumelnden Tanz, der die Körper zu Boden warf und sie in wildes Zucken trieb, bis jede Bewegung erlosch und nur noch verkohlte, in sich verkrampfte Karikaturen zurückblieben.

Little fühlte sich dem Erbrechen nahe, der Gestank von verbranntem Fleisch bohrte sich in seine Nase. Zugleich wühlten sich, wie ein Fremdkörper, wie Insekten, die ihre Eier ablegen wollen, die fremden Empfindungen in ihn hinein und forderten das Echo seines Abscheus heraus.

Er erlebte mit, wie sich sein Vater an einem Stück Stoff, das noch brannte, eine Zigarette anzündete und aus der Hocke den jungen Leutnant mit dem erschrockenen Gesichtsausdruck angrinste, der die Szene beobachtet hatte. Einen Moment starrten sich die Männer an, der Offizier und der Untergebene, dann wandte sich der Leutnant zur Seite und stapfte unsicher die Düne hoch, während Little senior aufstand, zu seinem Trupp ging und irgendeinen Witz riss, den aber keiner verstand, weil in diesem Moment einige Jagdbomber von See her im Tiefflug über sie herdröhnten.

Und jetzt blickte sein Vater von der Kladde auf und starrte ihn, John Little, genauso herausfordernd an, mit einem Blick, der vor Unverschämtheit und Selbstbewusstsein triefte.

Little wollte weglaufen, er schaffte einige Meter, dann wurde er zurückgezogen und bemerkte, dass die Luft von silbernen Fäden schimmerte, als wäre mit einem Mal der Altweibersommer mit seinen Spinnfäden ausgebrochen. Die Fäden spannten sich und zerrten an ihm. Sie waren wie Haare aus seiner Haut gewachsen. Little wurde zu seinem Vater gezogen.

Die Fäden liefen durch den Körper seines Vaters hindurch, andere wuchsen aus seiner Haut und schwebten in alle Richtungen.

Little glitt durch seinen Vater wie durch einen bunten Schatten. Auf der Straße sah er seine Mutter und die andern Damen ihres Kränzchens, wie sie mit teenagerhaftem Kreischen um einen Mann herumsprangen, den Little als den sentimentalen, braunäugigen Jesus von einem ekelhaft kitschigen Öldruck im Sprechzimmer des Vikars identifizierte. Die Szene sah nicht besonders erfreulich aus.

Ein anderer Mann stand in Littles Weg. Er musste überlegen, bis er ihn erkannte. Das Gesicht, das ihm freudlos entgegensah, kannte er nur von einer braun getönten Fotografie. Es war sein Großvater. Der Mann wirkte unsympathisch und abstoßend auf Little, aber die Fäden zogen ihn weiter zu dem Mann und wieder glitt er durch ihn hindurch und hatte die Empfindung, bei diesem Durchgang etwas wie Schmutz oder schlechten Geruch auf der Haut zurückzubehalten.

Es kamen weitere Männer, junge und alte, durch die Little hindurchgezogen wurde, und es kamen weitere Frauen, die in der Nähe in irgendwelchem Tun verfangen waren, das er nicht verstand. Die Kleidung änderte sich – ein Mann starrte ihn über den Rand eines bronzenen Rundschildes an, einer der folgenden war nur noch von rohen Fellen bedeckt.

Die ganze Welt bestand nur noch aus einem Netz von silbrigen Fäden, die zu Little hin- oder von ihm fortführten und ihn in ein Gewebe von Beziehungen, Abkünften und Verwandtschaften verwoben.

Nun war nichts mehr zu erkennen, nun lag nur noch eine Leere vor ihm. Aber hinter dieser Leere musste etwas sein, das ihn zu sich zog, etwas, das die Fäden in der Hand hatte. Little fühlte Panik. Seine Angst stieg mit jedem klopfendem Herzschlag eine weitere Stufe auf der Treppe zur Besinnungslosigkeit empor. Er erkannte etwas und er erkannte es wieder nicht, weil es keine Worte dafür gab, keine Begriffe, die sich als Transportmittel angedient hätten.

Etwas war, mehrere, viele Etwas waren da und sie ließen die Fäden durch Etwas gleiten, was bei einem Menschen die Hände gewesen wären, und sie schauten ihn an und beobachteten ihn und zogen ihn immer näher an sich heran, träge lauernd, spöttisch abwartend und gnadenlos urteilend. Sie waren die – Herren. Nein, sie waren mehr. Sie waren – Etwas.

 

Nach vierundzwanzig Stunden wurde John Little, genannt Boo Little in einem Zustand völliger Starre aus dem Tank geholt. Er war nicht ansprechbar und reagierte auf keinerlei äußere Reize. Er atmete, ansonsten hatte er einen großen Teil seiner Reflexe verloren und musste wochenlang künstlich ernährt werden. Dann erholte er sich insoweit, als er selbsttätig Nahrung aufnehmen konnte und passiv auf Außenreize reagierte. Aber er blieb in einem psychotischen Zustand und wurde nach einigen gescheiterten Behandlungsansätzen in einen geschlossene Anstalt gebracht.

Dort blieb er, ließ öfter Anzeichen von Panik erkennen, ohne dass ein Anlass erkennbar gewesen wäre. In solchen Momenten kreischte und strampelte Little oder hockte sich in eine Ecke, die Arme schützend über dem Kopf gekreuzt wie ein Kind, das Prügel fürchtet.

Die ersten Sätze sprach er nach vierzehn Monaten. Sie lauteten: »Zieh dich aus, du Schlampe. Und wage nicht, auch nur ein Wort davon zusagen. Dir glaubt sowieso keiner.« Es waren exakt diese Sätze, die in exakt diesem Moment der Oberarzt der Abteilung, zwei Räume weiter und ein Stockwerk tiefer, zu der neuen Schwesternschülerin sagte.

Little hatte sie deutlich gehört, und er spürte deutlich die Geilheit des Mannes und die Panik des Mädchens – und daher warf er sich wimmernd in eine Ecke. Früher hätte John Little wenigstens einen wissenschaftlichen Begriff für den Zustand gehabt, in dem er sich befand: Little war ein offenes System geworden.

Während John Little in einer Ecke hockte, zusammengesunken und den Kopf unter die Arme geschoben, spürte er die Fäden, die aus seiner Haut herauswuchsen und durch Zeiten und Räume in unbekannte Weiten wucherten. Er konnte sie nicht mehr sehen, aber er wusste, dass sie noch vorhanden waren. Und er hörte sie. Wie Telefondrähte summten und zirpten sie und erbrachen in jeder Sekunde Stimmen und Geräusche in seinen Kopf.

Aber das war es nicht alleine. Als er vor einigen Tagen einem Pfleger zusah, der mexikanischen Eintopf aus einer Schale löffelte, füllte sich sein eigener Mund sofort mit dem Geschmack von Bohnen und scharfen Gewürzen. Und jetzt vernahm er das Wimmern verkrampfter, gewaltsam aufgebrochener Muskeln, das Getöse einer sexuellen Entladung, das Wimmern von Scham und Schuldgefühlen, während sich lebensgierige Spermien in knisternder Hast ein Rennen lieferten, um als Erste die Haut der Eizelle zu durchbrechen. Dann das Rauschen der ersten Zellteilungen, symmetrische Klänge von gnadenloser Entschiedenheit.

Little tobte und kreischte, bis er mit Hilfe von Medikamenten ruhiggestellt wurde.

Der Aufruhr, der herrschte, bot ihm einen Moment seltsamer Ruhe. Dann, für die Umwelt scheinbar in tiefem Schlaf liegend, drückten die Bilder und Geräusche wieder mit neuer Wucht gegen seinen Schädel wie die Wasser des Ozeans gegen die berstende Hülle eines sinkenden Unterseebootes. Er wurde die Verbindung zu der jungen Frau und dem Arzt nicht mehr los. Wie implantiert in seinem Schädel musste er die Furcht und die Gier miterleben und erleiden, ihre Versuche, sich zu entziehen, seine plumpe Annäherung, die Drohungen, die Scham und den Selbstekel.

Wochen später raste plötzlich das Bild eines Autodaches auf ihn zu und Little wusste, dass sich die Schwesternschülerin, schwanger und im Zustand tiefster Depression, vom Dach des Stationsgebäudes auf den Parkplatz gestürzt hatte. Er war für kurze Zeit geradezu beruhigt, eine Stimme weniger in seinem Kopf, so hoffte er, aber dann registrierte er immer noch die Verzweiflung und die Orientierungslosigkeit der jungen Frau und erkannte, dass sie immer noch da war, irgendwie und irgendwo, und dass sie ebenso wenig mit dieser Tatsache fertigwerden konnte wie Little, der ihre Klagen vernahm.

Diese Klagen, wie aus endlos tiefen Schächten hervorsteigend, quälten ihn Tag und Nacht, aber trieben ihn auch aus seiner Abgeschlossenheit. Später wusste er selbst nicht, ob er es gewesen war, der die Geschehnisse in Gang gesetzt hatte oder ob er sie begleitend miterleben musste. Auf jeden Fall erwischte einer der Insassen, ein unförmiger, gorillaartiger Triebtäter den Oberarzt und einen Pfleger, nahm sie als Geiseln und verbarrikadierte sich in einem Teil der Station.

Der Pfleger berichtete später, dass sich ihr Entführer stundenlang damit beschäftigt hätte, seine perversen Fantasien an dem Arzt auszuleben, während er selbst nur als Geisel von Interesse gewesen war. Bevor sich das eingetroffene SWAT-Team auch nur einen Überblick über die Lage verschafft hatte, brach der Gorilla aus seinem Versteck aus, schleppte den Arzt wie eine Puppe mit sich auf das Dach, wo er ihn vor den Augen verschiedenster Fernsehkameras regelrecht in Stücke riss und sich dann vom Dach stürzte.

Die Bilder waren so widerlich, dass die TV-Anstalten in gegenseitigem Einvernehmen auf ihre Ausstrahlung verzichteten, das heißt zumindest für einige Tage, dann gab es die ersten Standbilder in einer Talk-Show, natürlich nur, um eine Psychologen Material für seine seriösen Erklärungen zu bieten.

Tags darauf folgten die ersten Ausschnitte, in denen man mit elektronischen Verfälschungen die Zuschauer neugierig machte, und nach nicht einer Woche pushten die Sender ihre Quoten mit den vollständigen Filmaufnahmen in werbeträchtige Höhen.

Little wäre ein besserer Zeuge gewesen als die Kameraobjektive, aber er lag mit einem Kreislaufkollaps in der medizinischen Abteilung. Die freundliche Routine, die ihn dort umgab, tat ihm gut. Er fand Zeit, trotz des Dröhnens in seinem Kopf über sein bisheriges Leben nachzudenken. Das Little’sche Quadrat kam ihm wieder in den Sinn, Worte, die er selbst formuliert hatte. Spiele das Spiel, lerne die Regeln. John Little war klug genug, um diese Regeln in die Tat umzusetzen.

Den Ärzten war es egal, ob sie einen total Irren vor sich hatten, solange sich der Irre wie ein Normaler benahm. Auf diese Weise bescherte Little dem neuen Oberarzt ein klassisches Erfolgserlebnis und dies innerhalb dreier Wochen. Im Klartext: Little erinnerte sich der Normen und Verhaltensweisen, die von einem ernst zu nehmenden Mitglied der Gesellschaft verlangt wurden, und spielte sie erfolgreich vor.

Er wurde als geheilt entlassen und kehrte in seine Wohnung zurück. Die Abgeschiedenheit brachte ihm nicht die erhoffte Ruhe, aber er lernte, die Stimmen dadurch in den Hintergrund zu drängen, indem er selbst Lärm machte, und sei es, dass er sich darauf konzentrierte, Kindergedichte auswendig zu lernen. Sogar dem Institut konnte er wieder einen Besuch abstatten. Er fuhr vor wie ein motorisierter Lazarus und genoss seinen Auftritt sogar.

Er studierte die Aufzeichnungen seines Tankaufenthaltes, diktierte ein (zensiertes, aber dennoch aufschlussreiches) Protokoll, und nahm dann offiziell Abschied von dem Institut.

Angeblich wollte er sich Privatstudien widmen. Die Kollegen verdächtigten ihn, eine große Sache in der Hinterhand zu haben und spekulierten, sein Aufenthalt in der Psychiatrie sei Teil des ganzen Versuches gewesen. So ganz unrecht hatten sie vielleicht nicht, aber unter der kühlen und gelassenen Fassade Littles tobte es wieder, und er war nach dem Besuch kaum noch in der Lage, nachhause zu fahren, wo er sich tagelang nur noch im Bett, in einem geschlossenen Raum aufhielt.

Die Frage war, wie wirklich sein Erlebnis im Tank war. Die Antwort lautete, dass es vielleicht so war, als würde man einem Pygmäen die Bibel auf Russisch vorlesen, will heißen, es gab Anlass zur Vermutung, dass Missverständnisse möglich waren. Aber das änderte nichts an der Wirklichkeit des Pygmäen, der Bibel oder der russischen Sprache.

Eine Weile lernte Little sogar, die Tatsache, dass sein Bewusstsein ein offenes System geworden war, für sich zu nutzen. Er mietete sich in der Nähe der Wall Street ein und spekulierte mit Aktien. Für ihn war das ein Kinderspiel mit garantiertem Gewinn und ausgeschlossenem Risiko, denn er registrierte die ersten Anzeichen von Gewinnen oder Verlusten, bevor auch nur der geldgierigste Day-Trader an seinem Computermonitor eine Veränderung an der siebten Ziffer hinter dem Komma bemerken konnte.

Auf diese banale Weise kam Little zu einem unverschämten Reichtum, den er sorgfältig gestreut anlegte, um sich wenigstens der Sorgen um das finanzielle Überleben enthoben zu wissen. Ein anderes Überleben wurde immer schwieriger, denn inzwischen bedrängte ihn der Gedanke an diese Etwas, welche die Fäden in der Hand hielten, immer mehr. Man konnte lernen zu reden, aufrecht zu gehen und sich nicht in die Ecke zu werfen, wenn im Kopf ein Feuerwerk von Lärm losplatzte. Aber wie sollte man lernen, mit etwas umzugehen, das die Quelle aller Ängste zu sein schien, das überwältigend real war und sich doch jedem Zugriff von Sprache oder Bildern entzog und nur als dumpfes Empfinden seinen giftigen Nebel durch sein Bewusstsein wabern ließ?

Was waren diese Etwas? Waren sie Götter, waren sie Bildzeichen irgendeiner Macht, die sich noch weiter im Hintergrund verborgen hielt? Little erkannte, dass er in Bewegung bleiben musste, um nicht erneut in den Zustand einer kataleptischen Starre zu verfallen. Er musste in körperlicher Bewegung bleiben, reisen, umherziehen, um zu verhindern, dass sich der Lärm in seinem Kopf zu bestimmten Mustern verfestigte, die er nie wieder entfernen konnte.

Und er musste auch im übertragenen Sinne in Bewegung bleiben, er musste nach einer Erklärung suchen wie ein Schwimmer im kalten Wasser, der nur durch ständige Anstrengung vor dem Erfrieren bewahrt wird.

Es lag nahe, sich zu den religiösen Zentren zu begeben, weil hier die Frage nach dem, was hinter der Welt ist, zum Alltag gehört. Was Little fand, war aber nur die Routine eines eingefahrenen Kultbetriebes, Machtwillen, Gier oder vorgestanzte, mit den heiligen Schriften konforme Antwortklischees. Und dennoch erschien dies als der einzige gangbare Weg.

 

Dieser Weg führte John Little, den seit langer Zeit niemand mehr Doktor Boo Little genannt hatte, in die sufitische Schule in Kairo.

»Was hatte es mit der Schnitzerei in der Tür auf sich«, fragte Dorkas. Er hatte inzwischen schon das Licht in der Küche angeschaltet. Little saß mit nassgeschwitzter Kleidung immer noch am Tisch. Er zuckte müde die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, welches Motiv es war, das ich berührte. Aber es war irgendwas – ich spürte es deutlich und es zwang mich zu dieser – Aktion. Nur kann ich diese Dinge nicht in Worte fassen.«

Dorkas zeigte inzwischen seine häuslichen Qualitäten, sorgte für neuen Tee und kramte nach etwas Essbarem. Als er sich wieder an den Tisch setzte, sagte er ruhig zu Little: »Sie sind sich hoffentlich im Klaren, dass man Ihren Zustand rein medizinisch als schizophren bezeichnen würde?«

»Durchaus«, antwortete Little. »Es gibt allerdings einen Unterschied. Der Schizophrene weiß nicht, dass er schizophren ist. Ich bin mir dessen bewusst. Darum kann ich auch – sagen wir mal funktionieren

Dorkas nickte befriedigt. Little hatte den Test mit Bravour bestanden. Der Verdacht, der Dorkas schon vor einigen Stunden befallen hatte, steigerte sich zur Gewissheit. Das Schicksal, der Zufall, die himmlischen Götter oder was auch immer hatten ihm in der wenig eindrucksvollen Gestalt des John Little eine Trumpfkarte in die Hände gespielt.

Little seinerseits erholte sich langsam von den Anstrengungen, die ihm seine Erzählung abverlangt hatte.

Es war tatsächlich etwas wie eine Befreiung gewesen, ein schmerzhaftes und eben doch befreiendes Herausarbeiten aus dem zwängenden Kokon zurückgehaltener Bilder und Erinnerungen. Dass Dorkas ihn ernst genommen hatte, erstaunte Little, machte ihm seine Aufgabe aber leichter. Er fühlte sich besser als je in den letzten Jahren und begann, sich mit Tee und den Dorkas’schen Essbarkeiten zu stärken.

»Eine Frage«, sagte Dorkas, »diese Etwas, das Sie gesehen haben oder glaubten gesehen zu haben – können Sie irgendeine Beschreibung abgeben?«

Little schaute auf. Man sah seinen Augen an, dass er sich noch einmal in die Räume der Erinnerung vorwagte und sich selbst vorwärtsstieß bis zu diesem Punkt des namenlosen Schauderns. Er suchte, würgte, seine Zunge versuchte, Worte zu bilden, aber sie blieb nichts als ein hilfloser zuckender Muskel in einer Mundhöhle. Little schüttelte den Kopf. »Nein, es geht nicht. Es ist wie blinder Fleck. Die Sprache versagt, wenn ich mich nur der Erinnerung nähere.«

»Könnten Sie dieses Etwas zeichnen?«

»Nein.«

»Sonst wie darstellen?«

»Nein.«

»Na gut. So etwas Ähnliches hatte ich erwartet.«

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Im Grunde habe Sie ja schon eine Definition geliefert. Nur sozusagen aus dem Negativen heraus. Alles, was man beschreiben kann, ist es nicht. Wir haben es also mit einer Art von schwarzem Loch zu tun.«

Little wurde an der Stelle einquartiert, die vor einiger Zeit von Tony Tanner belegt worden war. Bevor er sich niederlegte, musste er zusehen, wie Dorkas einige höchst merkwürdige Rituale vollzog und, während er in seinen Handlungen einem Steinzeitschamanen glich, hochmoderne psychologische Theorien über seelische Prädisposition durch ritualisierte Verfestigungen vorgegebener Neigungen referierte. Es war Little nicht ganz klar, was Dorkas nun wirklich ernsthaft betrieb, aber es war ihm in diesem Augenblick ziemlich egal.

Ehe er einschlief, glaubte er, in seinem Kopf eine köstliche Stille zu bemerken, aber bevor er sich dessen völlig bewusst war, hatte ihn der Schlaf schon übermannt.

Dorkas seinerseits brütete bis tief in die Nacht. Die Theorien Littles hatten ihn nicht bloß beeindruckt. Sie passten in das Schema. Einige Tatsachen standen fest: Die Fähigkeit des Geistes, außersinnliche Signale zu empfangen; diese Signale waren im Normalzustand, ein Hintergrundrauschen, und wurden nicht als Signal eingestuft. Wenn er die Tatsache dazuzählte, dass es irgendwo ein Etwas gab, das auf keinen Fall entdeckt werden wollte, dann war die Strategie klar. Solange die Menschen noch die Fähigkeiten hatten, sich kurzzeitig von den eigenen Sinneseindrücken zu befreien und sei es, dass sie sich für kurze Zeit in eine Kirchenbank hockten, musste dieses Etwas sich bedeckt halten. Vielleicht war es dennoch oft genug registriert worden und man hatte versucht, es zu beschreiben. Vielleicht war das die Ursache der Erzählungen über Hexen, Dämonen und Teufel – hilflose Versuche, etwas zu umschreiben, von dem nur sicher sein konnte, dass es böse und gefährlich war.

Die heutige Situation war grundlegend anders. Ein wesentlicher Teil der Menschheit stand unter dem Einfluss einer Reizüberflutung. Die Parallele zu dem, was er Tony Tanner über das Prinzip der Geheimgesellschaften gesagt hatte, drängte sich auf. Auch hier wurde eine Mauer aus Lärm aufgebaut. Neues Wissen, neue Informationen, virtuelle Welten, Zeitmessung in Takt von Hundertstelsekunden. Und dahinter konnte sich dieses Etwas rühren, konnte wachsen und sich nähern und seine Manipulationen vollführen. Du dröhnst dir mit dem Walkman die Rübe voll und bemerkst den Typen hinter dir nicht, der gerade zum Stoß auf deinen Nacken ansetzt.

War die sprunghafte Zunahme geistiger und seelischer Erkrankungen vielleicht das Signal, dass das Unbewusste ständig Alarm schlug, ständig Gefahren witterte, ständig das Anschleichen eines gewaltigen Feindes spürte, während die Menschheit sich in ihrem weichen Pfühl von Globalisierung, Fusionen und Turbokapitalismus suhlte und glaubte, ihre jämmerlichen kleinen Ängste wären mehr wert als ein Stirnrunzeln?

Für Dorkas war die Antwort eindeutig. Und wieder einmal mehr nahm ihm dieses Wissen fast den Atem, nur um ihm im nächsten Moment wie einen Felsblock die Gewissheit seiner eigenen Schwäche entgegenzuschleudern. Dorkas wälzte sich unruhig in den Kissen. Wenn es eine Lösung gab, dann hatte sie einen Namen. Aber der Mann mit diesem Namen war verschwunden.

Irgendwie musste Dorkas in wieder in die Finger kriegen und sei es, um herauszufinden, warum er zum Verräter geworden war. Aber wie sollte er ihn finden?

Der Halbschlaf umnebelte Dorkas, und dennoch spannen sich seine Gedanken weiter. Schließlich fand er die Lösung. Oder zumindest einen Möglichkeit, eine Lösung zu finden. Dorkas schlurfte zu tiefnächtlicher Stunde in den Keller, holte einen Gegenstand und begab sich wieder in seine Wohnung. Es war vielleicht nicht ganz anständig, mit Sicherheit war es das nicht, aber Dorkas hatte sich entschlossen, sein weiteres Leben unter den gelockerten Gesetzen eines globalen Notstandes zu führen. Außerdem war der Versuch spannend.

Fortsetzung folgt …