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Schauernovellen 2 – Der Verrat

Ferdinand Kleophas
Schauernovellen Band 2
Verlag Franz Peter, Leipzig 1843

Der Verrat

Der Richter: »Beklagter, nenne deine Mitschuldigen, und das Gesetz wird dich freisprechen.«

Der Beklagte: »Verurteilt mich! Ich will lieber das Schwert des Henkers als den scheußlichen Namen Verräter

Sie wiedersehen!

Das war der Gedanke, der sein Gehirn erhitzte, der Gedanke, der ihn im Postwagen hin- und herwendete.

Sie wiedersehen! Nachdem er seit sechs Monden fern gewesen war; nachdem er seit sechs Monden nicht ein einziges Mal ihren Namen hat nennen hören, den Namen: Klarissa!

Wenn sie wenigstens, bevor er sie verließ, ihm gesagt hätte: »Paul, ich liebe dich!« Er weiß wohl, dass sie ihn liebt, wie nie ein Engel des Himmels geliebt hat; er hat es gelesen in ihren feuchten Augen, in ihrer bewegten Stimme, in dem unbestimmten Druck ihrer zitternden Hand, aber nie hat sie ihm das süße Bekenntnis getan: »Paul ich liebe dich!« Bevor er diese Worte hörte, diese Worte, die er mit einem Jahr seines Lebens bezahlt hätte, musste er reisen, reisen für eine lange Zeit, reisen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben.

Aber es handelte sich um das Leben seines Bruders; denn sein Bruder hätte die Schande nicht überlebt, und ohne die schnelle Ankunft Pauls, ohne das Opfer eines Teils seines Vermögens, wäre sein Bruder entehrt gewesen.

Er durfte also nicht zögern. Er hatte alles verlassen, sein Künstlerleben, seine bejahrte Mutter und mehr noch vielleicht – Klarissa.

Aber er wird sie wiedersehen und sie wird ihn noch mehr lieben um seiner Abreise willen, denn ihre edle Seele weiß ein solches Opfer zu würdigen.

Er wird sie wiedersehen! … O die Regungen, welche er bei diesem Gedanken empfindet, ließen ihn beinahe seine Abwesenheit segnen.

Und der bestäubte Wagen rollt rasch durch die Stadt; eine Tür öffnet sich; eine Stimme: »Mein Sohn, mein teurer Paul!« Seine Mutter liegt in seinen Armen. Sie weint vor Freude; sie umstrickt ihren Sohn, sie presst ihn an ihr Herz; sie segnet ihn, sie nennt ihn ihren einzigen Trost, die einzige Freude ihres Lebens.

Sie hat nicht allein sein wollen bei ihrer Freude. O nein! All die, welche jeden Abend kamen und fragten, »Ist er zurückgekommen?«, all die, welche wiederholten, »In einem Monat, einer Woche, in einem Tag werden wir ihn wiedersehen!« Nicht ein einziges von ihnen soll diesen Abend fehlen. Sie gibt einen Ball, und Paul wird wohl tanzen müssen, ungeachtet der drei Nächte, die er im Wagen zugebracht hat. Seine Freunde werden so vergnügt sein, seine Freunde, die die Mutter mit kindlicher Gefälligkeit aufzählt und unter denen sie den Gemahl Klarissas und Klarissa selbst nennt.

Diese Ergießungen mütterlicher Zärtlichkeit, dieses Fest der Rückkehr, diese erleuchteten Säle, das Geräusch der Wagen; die Gäste, welche kommen, die Töne der Instrumente, welche gestimmt werden, und dann das Glück, sie zu erwarten, sie zu erwarten mit klopfendem Herzen, sie zu suchen unter den Frauen, welche eintreten, all das erzeugte in ihm eine berauschende Aufregung, eine süße Bangigkeit.

Da ist sie! Da ist sie!

Er läuft. Sie bannte ihn mit einem kalten Lächeln ohne Liebe.

Sie hat wohl getan, ihn zu zügeln, denn ohne dieses Lächeln würde seine Aufregung sie vielleicht dem Tadel ausgesetzt haben.

Sie hat wohl getan; o ja! Und doch ist es eine traurige Sache mit einer so großen Klugheit; eine vage Unruhe beengt sein Herz.

Welche Torheit!

Endlich, nun, kann er ohne Unklugheit sich ihr nähern … Ein junger Mann kommt ihm zuvor, er lädt sie zum Tanz ein und sie lächelt ihm, wie Paul alles in der Welt darum gegeben hätte, wenn sie ihm, ihm so gelächelt beim Wiedersehen.

Wie zaudert er, sich von ihr zu entfernen!

Endlich geht er.

Klarissa.

Noch einmal dieses eisige Lächeln, und dann gleichgültige Worte, eine Hand, die seinem Pressen nicht mehr erwidert.

Sie liebt ihn nicht mehr; jener junge Mensch ist der Glückliche, den sie liebt.

Umso besser, dass sie ihn nicht mehr liebt, umso besser, dass sie ihn nicht länger getäuscht hat. Nach allem ist eine solche Liebe nicht zu bedauern; er wird sich bald trösten. Eine Frau lieben, die unsere Liebe nicht versteht, das wäre entsetzlich, das würde herabsetzen. Man muss sich für eine solche Unbeständigkeit durch eine kalte Verachtung rächen; das wird nicht schwer sein.

Ach! … Dieser junge Mann verlässt sie nicht; sie hat nur Worte für ihn, nur für ihn hat sie ein Lächeln.

Sie tanzen nur miteinander. Da neigt er sich zu ihrem Ohr; sie errötet, sie blickt ihn an mit Zärtlichkeit. Verdammt, verdammt!

Und seine Hände ballen sich zusammen, seine Zähne knirschen.

Auf diesen Anfall von Verzweiflung folgte eine noch schrecklichere Freude; unruhiges Übelbefinden, ein Irrsein voll Aufregung und Niedergeschlagenheit; äußerste Mattigkeit, verbunden mit einem gebieterischen Bedürfnis nach Bewegung. Seine Augen brannten, die Brust kochte, der Kopf schwindelte.

Als es zwei Uhr schlug, musste er vom Ball gehen; er erstickte.

Er suchte vergeblich einen Stuhl, um sich zu erholen. Nicht ein Einziger fand sich im Vorzimmer; vergeblich befahl er den Domestiken, ihm einen zu bringen. Sie gehorchten ihm nicht, denn zwanzig neue Befehle der Herrin des Hauses brachten den Befehl Pauls wieder in Vergessenheit.

Er erinnerte sich alsdann, dass sich ein altes Kanapee am Ende eines langen Korridors gerade im Angesicht des Saales befand, wo man tanzte. Er ging, sich darauf zu setzen.

Hier fühlte er bald sonderbare Regungen. Er hörte die Musik nicht mehr: Nur das vage Murmeln der Stimmen summte in weiter Entfernung. Dann trat eine große Ruhe ein, um einige Augenblicke später noch einmal von jenem unbestimmten Geräusch unterbrochen zu werden.

Die äußerste Ermüdung, die heiße und dicke Luft des Korridors, seine Dunkelheit, das Murmeln des Saales, nach so viel erstickender Hitze, so vieler Aufregung und so vielem Geräusch, diese Menge, die da wogte und sprach, ohne dass man sie hörte, die Tänze ohne Musik, welche man durch eine entfernte Tür wie durch die Wellen einer durchsichtigen Gaze gewahrte, verursachten Paul eine Art von Alpdrücken, welches weder die Bangigkeiten der Seele noch die Tätigkeiten der Sinne einschläferte, sie aber alle mit einer eisernen Hand umstrickte und daraus einen, ich weiß nicht, welchen abscheulichen Zustand, bildete, mit der sich obendrein eine Beklemmung der Brust und eine fade Unlust verband.

Er duldete auf eine Art, die sich kaum beschreiben lässt, und doch hatte er nicht Kraft genug, sich loszureißen, ja er fand darin einen gewissen unerklärlichen Reiz. Man ging um ihn, man setzte sich zu ihm, ohne dass er Acht darauf hatte, ohne dass er eine Bewegung machte, welche dieser grausamen Bedrängnis ein Ende gemacht hätte.

Solches fühlte und empfand er, als eine klare lispelnde Stimme an seiner Linken zu sprechen begann und verwirrte Reden führte, welche er hörte, ohne sie zu verstehen und welche das Seltsame seiner Empfindungen noch vermehrte.

Es schien ihm sogar, dass diese Stimme eine der Gaukeleien seines Traumes sei, denn es war in diesen sonderlich artikulierten Worten ein Spott, der sich mit seinen Erinnerungen vereinigte und seine Schmerzen grausam erneuerte.

»Ach, ach!«, sagte die Stimme, »wie diese junge Frau, in Rosa gekleidet, sich mit Wollust den Armen ihres Walzertänzers hingibt. Kennen Sie sie? Entschuldigen Sie, mein Herr, ich bewohne diese Stadt nicht. Welche Blicke sie wechseln! Entweder ich verstehe mich nicht darauf oder, auf mein Wort, sie ist gerade auf den Punkt der Unklugheit gekommen, der in den Abgrund der Schande stürzt.«

Gleich bei den ersten Worten dieses Mannes hatte Paul im Schatten die Züge des Gatten Klarissas zu erblicken geglaubt. Er fühlte ganz die Notwendigkeit dieser Stimme, welche das verhängnisvolle Geheimnis der jungen Frau verriet, Schweigen zu gebieten, aber er fühlte eine Art so seltsamen Genusses, diese verräterischen Worte zu hören. Es war so wenig Energie in seinen trägen Organen, dass er nicht genug Willen darin fand, aus seinem schrecklichen Zustand zu treten, und dass er die Stimme fortfahren ließ: »Jetzt kommt sie an uns vorüber. Wie ihr Busen zittert! Wie ihre Hand die ihres Geliebten drückt! Da zieht sie ein Papier aus ihrem Busen. Sie gibt es ihm.«

Und Gespenster versammelten sich um Paul. Sie richteten auf ihn ihre eisigen Blicke. Er sah eine junge Frau, welche mit ihren beiden Hände das Gehirn aufzuhalten versuchte, das sich aus ihrem zerschmetterten Schädel ergoss. Er sah einen jungen Mann, der die Hand auf das Herz hielt, und diese Hand hob sich durch die Gewalt des Blutes, welches aus einer breiten Wunde sprudelte. Diese Frau war Klarissa, und dieser junge Mann war ihr Geliebter.

Währenddessen aber fuhr die Stimme an Pauls Seite fort: »Wie sie sich verzehren mit ihren Blicken; wie er ihre Taille presst; ihr Taumel ist aufs Höchste gestiegen: sie vergessen sich! Sie vergessen sich auf immer! Ich war dessen gewiss: Da, da sehen Sie, ihre Lippen berühren sich …«

Ein plötzliches, schreckliches Geräusch weckte Paul aus seiner Erstarrung. Ein Mann, der Gatte Klarissas, stürzte dahin und ergriff auf dem Kamin die Reisepistolen Pauls. Zwei Schüsse und die Menge stürzte sich mit Entsetzen aus den Sälen.

Und Klarissa bedeckt mit ihren beiden Händen ihre blutige Stirn, und ihr Geliebter drückt mit sterbender Hand die Wunde, die er auf der Brust empfing.