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Der Welt-Detektiv Band 6

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Nick Carter – Carruthers, der Verbrecherkönig – Kapitel 7

Nick Carter
Carruthers, der Verbrecherkönig
oder: Lebendig begraben
Kapitel 7

Lebendig begraben

Sekundenlang stand Nick Carter bewegungslos in der tiefen, ihn umhüllenden Dunkelheit. Rings um ihn rührte sich nichts, kein Schall aus der Oberwelt drang zum Ohr des lebendig Begrabenen nieder.

Dann hörte er plötzlich wieder Geräusche. Über seinem Haupt dröhnten schwere, dumpfe Schläge, und er erkannte alsbald, dass Carruthers, und wer sonst noch bei ihm weilen mochte – höchstwahrscheinlich war dies Isaak Meadows – schwere Gegenstände auf die Falltür häuften, um deren Öffnung unmöglich zu machen.

Ein zerrissenes, hoffnungsloses Lächeln umspielte Nick Carters Lippen. Nun wusste er, was die bange Ahnung in seiner Seele zu bedeuten gehabt hatte. Geschah nicht ein Wunder, so fiel er dem verhängnisvollen Fehler, den er gemacht hatte, indem er Carruthers gestattete, sich aus dem Haus zu entfernen, zum Opfer. Er war sicher, dass Carruthers die Falltür derartig verrammeln würde, dass der Versuch, sie zu heben, vollkommen nutzlos erschien. Nicht im Geringsten zweifelte Nick Carter ferner daran, dass der Verbrecher mit eigener Hand die Brandfackel in das Haus werfen und sorgfältig alle Vorbereitungen treffen würde, um es bis zum Grund niederbrennen zu lassen. Das gebot dem Mörder des unglücklichen Paul Lafont schon der Selbsterhaltungstrieb.

Nach dessen Leiche würde niemand unter den Brandtrümmern suchen, und mehr als unwahrscheinlich war die Entdeckung der Kellerfalltür und des unter ihr verbogenen schauerlichen Geheimnisses.

»Bitte, nur hereinspaziert!, sagte die Spinne zur Fliege, als diese im Netz zappelte!«, meinte Nick Carter voll grimmigem Humors. »Es ist wirklich großartig, dieser Carruthers hat recht, ich habe wie ein Narr gehandelt.«

Er dachte eine Weile nach, während er das Licht seiner elektrischen Laterne nach allen Seiten spielen ließ.

»Es ist so, wie ich gleich von Anfang an voraussetzte!«, nahm er dann sein Selbstgespräch wieder auf. »Aus diesem Brunnenschacht gibt es für mich nur einen Ausweg … mich durch den von Carruthers künstlich verschütteten Stollen zu graben. Hat dieser ihn verschütten können, so muss es mir auch möglich sein, das Hindernis wieder fortzuschaffen, wenn nur die Luft gut bleibt, damit ich atmen kann! Davon hängt alles ab! Doch ich denke, sie wird aushalten, denn die Erde ist frisch, die er in den Tunnelgang eingebracht hat.«

Unbeugsame Entschlossenheit prägte sich in seiner Miene aus.

»Well«, sagte er. »Hat man getanzt, muss man auch die Musikanten bezahlen … und ich habe keine Minute zu verlieren … darum los!«

Als er sich aufrichtete, fiel der Strahl seiner Laterne gerade wieder in das stille Totenantlitz des ermordeten Detektivs.

»Armer Paul Lafont«, sagte er leise vor sich hin. »Du hast es ja überstanden … und allein der Himmel weiß, ob dieses scheußliche Loch unser gemeinsames Grab werden oder es mir vergönnt sein wird, noch mal die Luft der Freiheit zu atmen.«

Nick Carter starrte zu der verschlossenen Falltür über seinem Haupt. Kein Geräusch war mehr hörbar, alles war still wie das Grab. Kein Zweifel, Carruthers war mit seinen teuflischen Vorbereitungen zu Ende, und das Haus über ihm brannte schon lichterloh.

»Eine recht nette Lage, in die ich mich gebracht habe«, murrte der Detektiv. »Carruthers hat ganz recht, wenn er mich auslacht. Natürlich glaubt er, mich abgetan zu haben. Möglich, dass er recht hat; jedenfalls war ich bodenlos dumm. Wie konnte ich mir nur einbilden, dass er nicht zurückkommen würde. Nun verstehe ich seine übermütige Stimmung. Er rechnete darauf, dass ich die geheime Falltür entdecken würde, und er wollte diesen Moment nur abwarten, um mich dann zu fangen, wie eine Maus in der Falle. – Well, solange ich atme, hoffe ich auch!«

Ohne weiteren Aufenthalt entledigte er sich all derjenigen Kleidungsstücke, welche ihn bei der Arbeit im engen Tunnel nur hindern konnten. Dann nahm er sein breites und starkes Dolchmesser sowie den Steinsprenger, der ihm schon den Abend über beim Beklopfen der Hauswände gute Dienste getan hatte, schob die Laterne vor sich her und gelangte auf diese Weise bald zu der verschütteten Tunnelstelle.

Dann setzte Nick sich aufrecht, nahm die Laterne zur Hand und leuchtete über die Schuttfläche. Doch je länger er dies tat, um so trostloser wurde sein Gesichtsausdruck.

»Alles kommt darauf an, wie weit sich die verschüttete Stelle erstreckt!«, murmelte er wieder vor sich hin. »Ich muss Stein um Stein erst lockern und dann einzeln zum Brunnenschacht schleppen und in diesen werfen, denn sonst wäre ich bald hier in dem Loch wie eine Ratte gefangen. Es sieht kaum so aus, als würde ich dieses Werk zu einem glücklichen Ende führen können … zumal ich kein Wasser habe und auch die Luft schon dumpf und stickig wird. Doch ich muss es versuchen, denn wie meine Großmutter schon immer zu sagen pflegte: Das einzige Mittel, um alt zu werden, ist, am Leben zu bleiben!«

Unverzüglich machte er sich an die Arbeit. Zuerst war diese leicht, denn das Erdreich war noch locker. So gelang es ihm, die lose sitzenden Steine ohne viel Schwierigkeiten herauszuziehen und neben sich zu häufen. In kurzer Zeit hatte er einen stattlichen Steinhaufen aufgestapelt und sah sich nun gezwungen, diesen erst zum Brunnenschacht zu schaffen und hinabzuwerfen. Mindestens ein Dutzend Mal musste er den Weg zurücklegen, und es war eine ermüdende Aufgabe, auf dem Bauch liegend die schweren Steine vor sich herzuschieben. Doch endlich war der Steinhaufen verschwunden, und Nick Carter konnte sein eigentliches Werk fortsetzen.

Nach einer reichlichen halben Stunde lagerte ein zweiter Steinhaufen neben dem im Schweiße seines Angesichts Arbeitenden und musste gleichfalls zum Brunnenschacht befördert werden, was wiederum ganz beträchtliche Zeit in Anspruch nahm.

Dann ging es an die Aushöhlung der Erdmasse. Als aber eine weitere Stunde verflossen war und der keuchende Detektiv seine bisher vollbrachte Arbeit betrachtete, da hätte er beinahe verzagt, denn all sein Schaffen schien ihm ähnlich wie die Arbeit eines am Seestrand spielenden Kindes, das Löcher in den Dünensand gräbt, welche die nächste Flut wieder glättet.

Nein, es war nicht daran zu denken, einen Tunnel durch die verschüttete Stelle zu graben, denn das Erdreich gab immer wieder von Neuem nach. Wollte er sich einen Ausweg sichern, so blieb ihm nichts andere übrig, als die Erde ebenso wegzuschleppen wie zuvor die Steine.

Hierzu konnte er sich nur seiner Kopfbedeckung bedienen. Zum Glück war dies ein breitrandiger Filzhut. Stülpte er den Hutrand hoch, so konnte er ungefähr die dreifache Quantität Erde auf einmal fortschaffen.

Gesagt, getan! Ein Hut voll Erde um den anderen wurde von den unermüdlichen Händen des Detektivs gefüllt und dann durch die engen Wandungen des Tunnels zum Brunnenschacht gezogen und dort in die Tiefe befördert.

So ging es in endlosem Einerlei weiter. Wie viele Male Nick bereits den Weg zwischen der Arbeitsstätte und dem Brunnenrand durchmessen hatte, das zu zählen hatte er längst aufgegeben. Er merkte es kaum, dass von dem vielen Kriechen auf der Erde seine Beinkleider und auch die Unterwäsche an den Knien aufgescheuert waren und nun in Fetzen herunterhingen. Auch der brennende Schmerz an seinen zerschundenen und blutenden Knien und Händen ließ ihn völlig gleichgültig. Die dumpfe Luft, verbunden mit der Grabesruhe und der in seinem Inneren gärenden gewaltigen Erregung machte ihm das Atemholen immer schwieriger, und immer reichlicher rann ihm der Schweiß von der Stirn.

Rein mechanisch füllte er den Hut, stampfte so viel Erde hinein, wie derselbe fassen wollte und zog ihn dann zum Brunnenrand, um ebenso automatisch sich der gleichen Beschäftigung wieder und immer wieder von Neuem hinzugeben.

Nur ein einziges heißes Sehnen erfüllte Nick Carters ganze Seele; das Sehnen nach der goldenen Freiheit. Darüber vergaß er fast gänzlich den glühenden Durst, der ihm die Lippen braun färbte und ihm fast die Zunge am Gaumen festkleben machte.

Zuweilen tauchte vor seinen Blicken das Bild des über seinem Haupt lichterloh brennenden Hauses auf. Er sah die Feuerwehr herangerast kommen, die mit allem Aufgebot an Tapferkeit und Energie das dem Untergang geweihte und natürlich zuvor gehörig mit Petroleum getränkte Gebäude nicht mehr zu retten vermochte.

Ob einige von den Männern, welche die frische Nachtluft einatmen durften, wohl auf den Gedanken kamen, dass einer ihresgleichen tief unter der Erde von ruchloser Verbrecherhand in einem dumpfen Mauerloch eingeschlossen und zum Hungertod verdammt worden war, dass die krachenden Trümmer sich zu einem Grabmal wölbten, das immer höher über dem lebendig Begrabenen sich türmte?

Weiter – immer weiter arbeitete Nick Carter. Er hatte in seinem unterirdischen Verließ jegliche Zeitberechnung verloren. Er wusste nicht, wie viele Stunden bereits verflossen waren, wie lange er schon gearbeitet hatte, diese entsetzliche, nicht enden wollende Erdmauer fortzuschaffen, die ihn von Freiheit und Licht, von Sonnenschein und frisch pulsierendem Leben schied – und er, der so gerne lebte, der in rastloser Geschäftigkeit seinen Tag verbrachte, immer drauf bedacht, dem Nächsten zu dienen, den Schwachen zu stützen, den Frevler zu schrecken, er sollte hier, fernab von aller Menschenhilfe, elendiglich umkommen müssen?

Diese Vorstellung allein genügte, um Nick Carter den kalten Schweiß auf die Stirn zu treiben. Nun verdoppelte der Unglückliche noch die verzweifelten Anstrengungen der letzten Stunden.

Schon häufte sich im Brunnenschacht die Masse der darin angesammelten Erde; bald war die Wölbung voll, und was dann, wenn der Ärmste sich immer noch nicht zum anderen Ende des verschütteten Geheimganges durchgraben hatte!

Schließlich überkam ihn die Erschöpfung, und sie überwältigte ihn zeitweilig derart, dass er wie im Traum dasaß, die Hände müßig in den Schoß gelegt. Seine Fantasie aber wanderte – wanderte im Sonnenschein. Da blühten Blumen am Weg und die Vögel sangen – er hörte Glocken läuten, die klangen so feierlich. Er breitete die Arme in übermächtiger Bewegung dem Sonnenschein und dem Vogelfang, den Blumen und den Glockenklängen entgegen – um erschauernd zu gewahren, dass er sich im engen Grabverlies befand, die Luft so schwer und drückend geworden war, dass er sie kaum mehr einatmen konnte, dass die blutrünstigen Hände ihm wie Feuer brannten, ebenso wie seine vertrockneten Lippen.

Bei dieser Erkenntnis überkam den starken Mann, welcher dem Tod und der schrecklichen Gefahr so oft schon furchtlos in die Augen geschaut hatte, die Verzweiflung in solchem Maße, dass er an sich halten musste, um derselben nicht zu erliegen.

Doch Nick Carter blieb stark, denn er wusste, dass er verloren war, gab er sich seiner Schwäche hin. Er wollte, er musste stark sein; nein und tausendmal nein! Dieser Erdhaufen … er wollte hindurch, und er musste durchkommen! Mit diesem ehernen Vorsatz nahm Nick Carter seine aufreibende Tätigkeit von Neuem auf.

Mit zitternder Hand hob er seine Laterne und betrachtete die bereits getane Arbeit.

Als er nun mit der Rechten in dem losen Erdreich wühlte, um zu untersuchen, wie tief dieses noch den Durchlass versperrte, stieß er mit den Fingern an einen Stein von großem Umfang.

Sogleich kam ihm auch die Erkenntnis, dass dieser Stein von Menschenhand absichtlich gegen die Erdmassen gestemmt worden war, um diese festzuhalten.

War seine Annahme richtig, dann hatte er sich somit durch die Erdmasse gegraben und stand vor dem anderen Ende des Hindernisses.

»Seit stark, Nick, alter Junge!«, sprach er sich erregt selbst Mut zu. »Es wird schon gehen. Du wirst siegen, denn über uns allen lebt ein Gott, ohne dessen Willen auch nicht ein Haar von unserem Haupt fällt – und ich baue auf ihn. Er wird es wohl machen!«

Mit gewaltiger Anstrengung wälzte Nick Carter die Erde zur Seite, bis er dicht an dem großen Steine, dem voraussichtlich letzten Hindernis, angelangt war.

»Ah – Luft. Ich bekomme Luft!«, flüsterte er.

Wirklich strich ein frischer Luftzug vom Stein her. Es mochte schlechte dumpfige Kellerluft sein, doch sie schien dem nahezu Verschmachteten himmlisches Labsal.

Der Gedanke, dass er vielleicht dicht vor seiner endlichen Befreiung stand, verlieh ihm neue Kräfte. Er erinnerte sich seines Steinsprengers und holte ihn schnell hervor.

Dann beleuchtete er, nachdem er die letzte Erde abgekratzt und diese unter seinen Füßen festgestampft hatte, das künstlich geschaffene Hindernis. Es war dies, wie Nick Carter beim Laternenschein unschwer erkannte, eine frisch errichtete Mauer aus Backsteinen. Augenblicklich vermochte sich der Detektiv in die Lage hinein zu denken. Er stand vor der Grundmauer des Hauses, in welchem Morris Carruthers seinen Spießgesellen Isaak Meadows untergebracht hatte. In diese Grundmauer war nun vor kurz oder lang eine türartige Öffnung gebrochen und diese mit einem geheimen Gang, der von einem Haus zum anderen führte, in Verbindung gebracht worden.

Carruthers hatte zweifellos den Tunnel vom Keller dieses zweiten Hauses aus zuzuschütten begonnen. Anders konnte es gar nicht sein, denn wie hätte er sonst die Unmasse von Schutt und Steinen herbeibringen können. So hatte sich Carruthers jedenfalls einige Wagenladungen Erde in den Keller karren lassen – oder sie waren auch schon vorhanden gewesen, denn in Amerika ist es vielfach Sitte, Kartoffeln und Kohlgemüse den Winter über im Keller aufzubewahren, indem man sie in die Erde gräbt. Als Carruthers dann den Verbindungsgang durch eine breite, steingemischte Erdschicht aufgefüllt hatte, hatte er obendrein noch die frühere Öffnung in der Grundmauer wieder mit Backsteinen verschlossen.

Der verwendete Mörtel war noch frisch, und als sich Nick mit mächtigem Anprall gegen die Backsteinmauer warf, da erzitterte diese merklich. Ganz sicher wäre es dem mit Bärenkräften ausgestatteten Detektiv möglich gewesen, die Mauer durch wiederholte Angriffe zum Einsturz zu bringen.

Er musste jedoch vollständig lautlos arbeiten, wollte er nicht die Aufmerksamkeit seines Todfeindes von Neuem erregen … und damit auch die letzte Hoffnung verlieren. Zudem hielt er ein Instrument in der Hand, welches mit diesem letzten Hindernis bald genug aufgeräumt haben würde.

Dieser Gedanke reichte auch schon hin, um ihn seine volle Ruhe und Kaltblütigkeit wiederfinden zu lassen. Er begriff, dass er nicht waffenlos sein durfte. Darum begab er sich nochmals durch den Tunnel zurück, um seine abgelegten Kleider und Waffen herbeizuholen. Dabei konnte er es sich nicht versagen, während des Vorbeirutschens auszumessen, wie lang die von ihm ausgehöhlte Erdstrecke war. Es waren reichlich zehn Fuß. Er begriff nun auch die teuflische Schadenfreude seines Todfeindes. Nick Carter hatte einfach geleistet, was ihm selbst unmöglich deuchte – und er sagte sich selbst, dass er schwerlich ein solches Stück Arbeit nochmals würde vollbringen können.

Nun machte er sich daran, vermittels Messer und Steinbohrer den Zement aus den Fugen zu kratzen. Die Arbeit ging schnell von statten, und bald hatte er den ersten Stein so weit, um ihn aus den Fugen zu heben und vorsichtig nach innen zu ziehen, denn er wollte auch das mit einem Ausstoßen zur entgegengesetzten Seite verbundene Geräusch vermeiden.

Kaum hatte Nick Carter jedoch den gelockerten Stein aus der Mauer gezogen, als er auch bereits in plötzlichem Schrecken innehielt … aus dem entstandenen Loche strahlte ihm der Schein einer anderen elektrischen Laterne entgegen!

Mit einem raschen Druck hatte der Detektiv sein eigenes Licht zum Verlöschen gebracht. Nun duckte er sich selbst, so tief er konnte, denn er vermeinte nicht anders, als von Carruthers wieder mit Pistolenschüssen begrüßt zu werden. Denn natürlich war dieser es, der hinter der Mauer harrte, die Blendlaterne vorgestreckt und den schussbereiten Revolver in der Rechten.

Erst als Nick Carter die eigene verlässliche Waffe in der Hand fühlte, wagte er es wieder, sich ganz langsam aufzurichten und den Versuch zu machen, einen Blick durch das entstandene Mauerloch nach der anderen Seite zu tun. Doch da wäre ihm vor Überraschung beinahe der Revolver aus der Hand gefallen, und ein Ausruf des Erstaunens drang über seine Lippen. In dem Kellerraume jenseits der Mauer brannte keine Laterne, aber gerade ihm gegenüber lugte durch ein schräg angebrachtes und vergittertes Kellerfenster heller, goldener Sonnenschein.

»Bei Gott, es ist keine Täuschung!«, kam es tonlos von den Lippen des Detektivs. »Draußen scheint die Sonne … es ist wieder Tag geworden!« Mit zitternder Hand griff er nach seiner Uhr, und ein Blick auf das Zifferblatt belehrte ihn, dass es nahezu acht Uhr war – er hatte also beinahe acht Stunden, nämlich seit Mitternacht, tief unter der Erde um sein Leben gerungen!

Wieder lauschte er, doch nichts regte sich im Keller, der ihm im Übrigen merkwürdig bekannt vorkam.

Im Geiste überdachte er nochmals die ihm genau bekannte Lage des Grundstücks, in welches er am Vorabend eingedrungen war. Dieses lag inmitten eines Gartens. Vielleicht zweihundert Fuß davon in nordwestlicher Richtung erhob sich ein zweites Haus, das wiederum inmitten eines Gartens stand, aber mit der Front zu einer Seitenstraße. Auch dieses Haus stand verlassen, mit jahrein, jahraus geschlossenen Fensterläden!

Nun wusste Nick Carter alles. Dem Äußeren nach war dieses Gebäude das Seitenstück zu dem Haus des Verbrecherkönigs. Zweifellos gehörte es ihm auch, und dieser hatte zwischen beiden nicht nur eine Privattelefonverbindung eingerichtet, sondern auch einen unterirdischen Verbindungsweg angelegt. Das sah Carruthers ähnlich. Wer sollte auch auf eine solche Vermutung kommen! Natürlich konnte er auf diese Weise der Überwachung durch den geschicktesten Geheimpolizisten Trotz bieten, denn während dieser die Boston Road entlang patrouillierte und gerade genug damit zu tun hatte, das weitläufige Grundstück mit dem Haus in der Mitte unausgesetzt im Auge zu behalten, hatte sich der schlaue Verbrecher einfach durch den Geheimgang nach dem anderen Hause begeben, das auf den Namen irgendeines Strohmannes eingetragen war und von welchem darum niemand vermutete, dass es sich im Besitz Carruthers befand, und es durch eine ganz andere Straßenflucht längst wieder verlassen.

Auf diese Weise vermochte Carruthers mit seinem steckbrieflich verfolgten Spießgesellen ungestört von den Fenstern des zweiten Hauses sich die Feuersbrunst der vergangenen Nacht angesehen und weidlich über den überlisteten Detektiv gelacht haben, welcher tief unter der Erde schmachtete und von dem Schurken zum Hungertod verurteilt worden war.

Nun begann er Stein um Stein zu lösen. Obwohl der Keller leer war und niemand sein Kommen vermuten konnte, so war es doch sein fester Entschluss, jegliches Geräusch zu vermeiden.

Noch wenige Minuten angestrengter Arbeit verstrichen – und dann stand Nick Carter im Keller. Dieser war genau derselbe wie der vor acht Stunden von ihm verlassene, nur mit dem Unterschied, dass hier der Eingang in den unterirdischen Gang von der Seite aus erfolgte, während er am anderen Ende durch die Falltür gegangen war. Das entsprach den Tatsachen, da der Tunnelgang in ziemlich steilem Winkel aufwärts ging. Nur wer sich wie Nick Carter schon halb verloren gegeben und niemals mehr zu hoffen gewagt, die frische Lebensluft einzuatmen, wird seinen Jubel ermessen können, als er sich nun unter die winzige, vergitterte Kellerluke stellte und ein wirklicher Sonnenstrahl ihm das Gesicht beschien. Nun begriff er es erst, dass er dem schauerlichen Grab wirklich entronnen war!

Gewiss, es mochte ihm noch viel Gefahr drohen … dieses zweite Haus, in dessen Keller er soeben erst eingedrungen war, mochte sich ihm noch ungleich verhängnisvoller erweisen als das andere mit seinen düsteren Geheimnissen … doch was verschlug das dem kühnen Mann … Er hatte sich selbst wieder, und vor ihm lag die Möglichkeit, sein Leben zu erkämpfen. Auch bot sich ihm vielleicht nun eine Gelegenheit, den teuflischen Unhold, der ihm das Leben abgesprochen hatte, zu überraschen und ihn der rächenden Justiz zu übergeben.

Langsam ging er weiter. Im Keller selbst herrschte Halbdunkel, doch es genügte seinem scharfen Auge, und er bedurfte der Laterne nicht länger. Dort führte die Treppe zum Kellergeschoss empor, ganz genau wie in dem anderen Haus … und richtig! Wo der Treppenverschlag mit dem Mauerwerk zusammenstieß, da zogen sich wieder zwei Telefondrähte hin. Sie strebten dem anderen Ende des Fernsprechers zu, und der zugehörige Apparat mochte in einem der oberen Zimmer des Hauses aufgestellt sein, welches ohne Zweifel dem Schurken Meadows zum Aufenthalt diente.