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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Das Auge der Prinzessin Singawatha – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Auge der Prinzessin Singawatha

2. Kapitel
Beinahe erwischt

Lucknow mit seiner Viertelmillion Einwohner liegt an der Gomti, einem linken Nebenfluss des heiligen Ganges. Wir hätten also mit unserem Kutter einen ungeheuren Umweg machen müssen, um nach Lucknow zu gelangen; nämlich den Ganges abwärts bis Benares und bis zur Einmündung der Gomti, dann diesen Fluss aufwärts bis ans Ziel. Das würde eine Woche vielleicht gedauert haben.

Wir konnten jedoch den Weg sehr erheblich dadurch verkürzen, dass wir den sonst nur für Regierungsfahrzeuge erlaubten Kanal benutzten, den die Engländer nach dem großen Inderaufstand vom Jahre 1857, bei dem in Lucknow allein 3000 Engländer niedergemacht wurden, von Allahabad nach Lucknow bauen ließen, um bei einer neuen Erhebung nicht lediglich auf die Eisenbahn als bequemen Verkehrsweg angewiesen zu sein.

Die Erlaubnis zur Fahrt auf dem Kanal hatte uns Inspektor Hamilton liebenswürdigerweise verschafft. Über diese Reise zu Wasser ließe sich manches Interessante berichten. Ich muss jedoch darauf verzichten, da diese Erzählung sonst zu umfangreich wird. Wir lernten jedenfalls einen großen Teil des Inneren des einstigen Königreiches Audh kennen; mit seinen zahlreichen Seen, seinen weiten Feldern von Weizen, Reis, Mohn, Zuckerrohr, Indigo, Baumwolle und Tabak. Dieses blühende, fruchtbare Land ist völlig eben. Nur selten findet man noch größere Dschungel (Buschwildnis) und wilde Tiere, wenn auch der Panther und die Giftschlangen immer noch zahlreich genug sind. Der Tiger ist ausgerottet. Wilde Elefanten gibt es sehr spärlich, dafür desto mehr verwilderte Rinder.

Am Abend des zweiten Reisetages passierten wir die Schleusenanlagen zu der Gomti hin und hatten nun die Riesenstadt Lucknow vor uns. Dieser Tag war der 22. Dezember: In der folgenden Nacht also sollten wir unter der Eisenbahnbrücke das Boot erwarten.

Der 22. Dezember! Das Weihnachtsfest nahte. Meine erste Weihnacht außerhalb des Vaterlandes. Nun, diesen Heiligen Abend werde ich nie vergessen, nie!

Harst steuerte unseren Kutter, sich nach einem Stadtplan orientierend, in den Polizeihafen hinein, legitimierte sich hier den Beamten gegenüber, bat um die Erlaubnis, hier anlegen zu dürfen, und auch um volle Verschwiegenheit. Die Beamten waren sehr zuvorkommend. Obwohl es bereits elf Uhr abends war, erschien sehr bald der Leiter der hiesigen Detektivpolizei, Inspektor Greaper, und lud uns ein, bei ihm zu wohnen. Harst lehnte dankend ab. Er tat so, als ob er es lediglich auf Warbatty abgesehen hätte und erklärte Greaper, wenn wir auf dem Kutter blieben, hätten wir größere Bewegungsfreiheit. Der Inspektor sagte uns jede Hilfe zu, die wir nur wünschten, und riet Harst dringend, irgendeine Verkleidung zu wählen, da er hier in Lucknow sehr bald erkannt werden würde. Gestern hätte die Lucknower illustrierte Zeitung drei Bilder Harsts gebracht, die einer ihrer Reporter in Allahabad auf sehr schlaue Art geknipst hatte. Und Harst sei darauf nur zu gut getroffen.

»Na, dann geht es nicht anders«, meinte mein Freund und Brotherr schlecht gelaunt. »Diese verdammten Zeitungsspione! Master Greaper, sorgen Sie nur dafür, dass Ihre Beamten den Mund halten und nicht überall herumbringen, dass ich jetzt hier in Lucknow bin.«

Der Inspektor versprach es und verabschiedete sich bald.

Ich hoffte, dass wir nun nach der anstrengenden Reise – wir hatten ja nur immer abwechselnd für Stunden schlafen können – uns einmal ordentlich ausruhen würden. Vorbeigedacht! Harst begann seinen Koffer auszupacken, wenigstens die Hälfte, in der all das lag, was wir zur Maskerade brauchten.

Der Kutter hatte ein kleines Beiboot, das drei Personen tragen konnte. Ich habe dies schon bei unserem vorigen Abenteuer erwähnt. Gegen halb ein Uhr morgens verließen zwei Inder mit langen Bärten den Polizeihafen und ruderten stromabwärts bis zur letzten der vier Brücken, die die Gomti überspannen. Lucknow ist eine sehr weitläufig gebaute Stadt. Fast 1¼ deutsche Meilen zieht sie sich am Fluss entlang.

Die Lage des Palastes des Prinzen Achmed Ibur Dau hatte Harst aus dem Stadtplan ersehen. Wir lenkten bald in einen Nebenfluss der Gomti ein, der das ärmliche, schmutzige Eingeborenenviertel durchfloss. Harst ruderte; ich steuerte. Nachdem wir noch einige Schneidemühlen am Ufer des Flüsschens hinter uns gelassen hatten, tauchte rechts auf einer bewaldeten Anhöhe, deren Fuß eine hohe Mauer umgab, ein burgähnliches, sehr ausgedehntes Gebäude auf.

Wir verbargen das Boot in einer sumpfigen Ausbuchtung des Flusses und schlichen dann einen Pfad entlang, der durch Buschwerk sich bis zur Westseite des Parkes und weiterhin zu einem kleinen Eingeborenendorf hinzog. Die Parkmauer bestand aus mächtigen Steinblöcken, deren Bindemittel ein rotbrauner, steinhart werdender Flussschlamm war. Es gab jedoch überall genug Risse und Vorsprünge, mit deren Hilfe man hinaufklettern konnte. Harst war auch im Augenblick oben.

»Warte«, rief er mir leise zu. »Bin ich bei Tagesanbruch nicht zurück, so bleibe auf dem Kutter, bis ich wieder da bin. Ich kann dir nämlich noch schnell eine kleine Neuigkeit mitteilen: Warbatty hat auch hier seine Hand im Spiel!«

Dann verschwand er von der Mauerkrone. Um mich her tiefe Stille und das Halbdunkel der Tropennacht; in mir aber sehr bald eine nervenverzehrende Unruhe, die sich mit jeder entschwindenden halben Stunde zu ernstester Sorge um meines Freundes Sicherheit steigerte.

Ich hatte mich in die nahen Büsche gesetzt und schaute nur zu oft auf das Leuchtzifferblatt meiner Uhr.

Es wurde im Osten heller und heller. Aus dem Grau der Nacht traten die Umrisse der Türme und Türmchen, der Kuppeln und Dächer der Stadt Lucknow klarer und klarer hervor.

Ich musste an den Rückweg denken. Schwer genug entschloss ich mich dazu, das kleine Boot wieder flott zu machen und zum Polizeihafen und unserem Kutter zu rudern. »Warbatty hat auch hier seine Hand im Spiel«, hatte Harst gesagt. Das genügte! Wo Warbatty, da auch allergrößte Gefahr!

Ich kam unbemerkt längsseits des Kutters, kletterte an Deck, nachdem ich die Kette des Bootes an einem Ring festgeschlossen hatte. Mein Blick fiel zufällig auf das Oberlichtfenster der Wohnkajüte.

Licht da drinnen – Licht! Die Lampe brannte!

Und in der Tür jetzt eine Gestalt.

»Guten Morgen, lieber Alter«, sagte Harst herzlich. »Du wirst dich meinetwegen geängstigt haben. Aber ich konnte leider nicht wieder zur Parkmauer zurück. Dazu war es zu spät geworden, viel zu spät …«

Er drückte mir warm die Hand.

Wir setzten uns in die Kajüte und er erzählte.

»Ich bin recht enttäuscht«, begann er. »Ich hatte mir mehr von diesem Ausflug versprochen. Ich hoffte, ich würde wenigstens …« Eine kurze Pause. Ich sah, dass sein Blick ein paar Sekunden auf seinem Koffer ruhte, der rechts von uns an der Wand auf dem Boden stand. Dann hüstelte Harst. »Mir ist doch wahrhaftig eine dieser verdammten Stechmücken in die Kehle geraten«, fuhr er fort. »Wozu nur dieses Viehzeug da ist. Man müsste hier in der Kajüte dauernd Räucherkerzen brennen, um diese Plagegeister zu verscheuchen. Ja, also ich hoffte, Warbatty würde uns in einem Boot unauffällig folgen. So wollte ich ihn ins Freie außerhalb der Stadt locken und ihn dort irgendwie überraschen und festnehmen. Du hast wohl gemerkt, lieber Schraut, wie häufig ich scharf hinter uns spähte. Als wir dann auf gut Glück in das Nebenflüsschen eingebogen waren und uns verborgen hatten, um nach einem verdächtigen Boot abermals Ausschau zu halten …«

Was sollte dies? Wozu erzählte Harst mir hier Dinge, die doch der Wahrheit gar nicht entsprachen? Ich fiel ihm nun denn auch ins Wort.

»Entschuldige, aber diese merkwürdigen …«

»Unterbrich mich nicht!«, rief er unliebenswürdig. »Du weißt, wie sehr ich darüber stets ungehalten bin. Ich vertrage das nicht. Also, ganz recht, diese beiden merkwürdigen Gestalten, die wir dann in der Ferne bemerkten, hätte ich nicht so voreilig für unseren alten Feind und einen seiner Verbündeten halten und ihnen nicht zwecklos nachsetzen sollen. Es war ein zu viel von Jagdeifer dabei. Wir hätten besser diese Nacht zum Schlafen benutzt …«

Er gähnte zwanglos und fügte schnell hinzu, als ich gerade meinerseits nun erklären wollte, ich würde nicht recht begreifen, weshalb er mir diesen Unsinn auftische.

»Hundemüde bin ich. Gönne mir jetzt ein paar Minuten Ruhe und schweige bitte. Ich bin verteufelt abgespannt – wirklich!«

Ich hatte nun das Gefühl, dass hinter seinem sonderbaren Benehmen eine ganz bestimmte Absicht steckte.

Er saß in Hemdsärmeln mir gegenüber auf dem kleinen Ledersofa. Ich kenne seine ganze Art und Weise so genau, dass mir auch jetzt auffiel, wie sein Gesicht allmählich den Ausdruck einer bis aufs Äußerste gesteigerten Spannung angenommen hatte.

»Wo habe ich nur mein Feuerzeug?«, meinte er nun und suchte in den Taschen seiner Beinkleider. »Reich mir doch bitte mal meine Jacke dort vom Stuhl herüber. Auch die Zigaretten befinden sich in der Außentasche.«

Ich wollte mich vorbeugen.

Wollte. Da kam schon die Überraschung.

Die niedrige Tür zur Schlafkajüte flog auf. Auf der Schwelle, in jeder Hand einen Revolver, stand ein kleiner, schmächtiger Eingeborener mit hellem Turban.

»Bitte, keine Bewegung, meine Herren! Diesmal haben wir die Partie gewonnen! Ich schieße sofort, wenn einer von Ihnen auch nur die Nasenspitze rührt.«

An Cecil Warbatty – sein höhnisches Meckern kannte ich nur zu gut – vorbei drängten sich vier Kerle, vier Hindu, lange, sehnige Burschen. Auf diese Weise war für Sekunden Warbatty das Schussfeld versperrt.

Harst schnellte hoch. Ein Satz zur Tür.

Er wäre auch hinausgelangt. Aber Warbatty hatte dieses Mal an alles nur zu gut gedacht. Harst lief zwei weiteren braunen Halunken gerade in die Arme.

Dann saßen wir mit dünnen, geölten Stricken an Händen und Füßen gefesselt in der Kajüte nebeneinander auf dem Sofa. Uns gegenüber hatte unser Todfeind mit behaglichem Lächeln Platz genommen, während ein Teil seiner Verbündeten den Kutter losmachte, andere wieder den Motor in Gang brachten.

»Alam Bandur hat Sie doch fraglos vor den Schwertbrüdern gewarnt, Herr Harst«, begann Warbatty und steckte sich eine Mirakulum aus Harsts Silberdose an. »Ich begreife nicht, dass Sie nicht vorsichtiger waren. Sie hätten sich doch sagen müssen, dass es nicht schwer ist, in einen Kutter einzudringen, sich zu verstecken und …«

»… und wer sagt Ihnen, Warbatty, dass ich nicht gemerkt habe, wie es hier um unsere Sicherheit bestellt war?«, fiel ihm Harst ins Wort. »Schraut sollte mir nur deshalb die Jacke reichen, weil ich meinen Revolver in die Hand bekommen wollte. Das Feuerzeug steckt hier in meiner Weste; der Revolver steckte in der Jacke. Sehen Sie Warbatty, die Sache liegt so. Ich hatte mich kaum hier an Bord begeben, kaum die Lampe hier angezündet, als Schraut mit dem Beiboot schon zurückkehrte. Ich gebe zu: Ich vergaß darüber, den Schlafraum nebenan zu durchsuchen. Erst als wir uns unterhielten, fiel mir etwas auf, das mich die Gefahr merken ließ, eine Kleinigkeit. Ich wusste nämlich genau, dass ich meinen Koffer dort anders hingestellt hatte, als er jetzt steht – mit der linken Seite etwas vorgerückt. Und nun steht er parallel zur Bordwand. Mithin mussten während unserer Abwesenheit hier Fremde eingedrungen sein, die den Koffer durchsucht hatten. Im Übrigen ist das alles auch recht gleichgültig. Die Hauptsache: Ich habe meinen Zweck erreicht.«

»Was heißt das nun wieder?«, fragte Warbatty mit leisem Argwohn in der Stimme. »Zweck erreicht? Soll das nur ein Witz sein?«

»Es ist ein witziger Einfall kein direkter Witz, Warbatty. Seit einigen Tagen hatte ich den Entschluss gefasst, den Kampf gegen Sie unmaskiert weiterzuführen.«

»Ja, ich war erstaunt, als mir gemeldet wurde, dass Sie ganz offen wieder als Harst und Schraut hierher unterwegs waren …«

Die Schraube des Kutters begann zu arbeiten. Der Motor puffte. Das Schwanken des Fahrzeugs zeigte, dass es aus dem Polizeihafen in den Fluss hinausglitt.

»Sie werden sehr bald noch erstaunter sein«, warf Harst gleichmütig hin.

»Worüber?« Warbatty wurde noch unruhiger.

»Schauen Sie sich hier mal bitte genauer um.« Harsts Stimme klang ironisch.

Mein Herz schlug schneller. Ich ahnte irgendetwas voraus, etwas uns Günstiges.

Warbattys Augen eilten hin und her. Er hatte seine beiden Revolver vor sich auf den Tisch gelegt. Er fühlte sich bisher sicher. Er glaubte niemals, dass Harst Derartiges ausführen könnte, was nun geschah.

Harsts auf dem Rücken gefesselt gewesene Hände schnellten plötzlich nach vorn. Die Stricke fehlten. Die beiden Revolver richteten sich auf Warbatty.

»Sitzen Sie ganz still«, sagte Harst drohend. »Nicht Sie haben mich dieses Mal überlistet, sondern ich Sie! Dass Sie hier irgendetwas gegen mich unternehmen würden, war selbstverständlich.«

Das Motorgeräusch verstummte plötzlich. Laute Stimmen draußen. Dann drei, vier Schüsse. Ein paar schrille Angstrufe.

Warbatty lächelte, verneigte sich.

»Mein Kompliment Herr Harst. Ich begreife jetzt alles. Sie haben den Kutter absichtlich so dicht am Ausgang des Polizeiboothafens am Bollwerk festgemacht, damit wir leichter an Bord konnten. Wie aber sind Sie Ihre Stricke losgeworden?«

Unter dem Sofa kroch ein kleiner, kräftiger Hindu hervor.

Harst zeigte auf ihn. »Ein Detektiv! Er hat die Fesseln durchgeschnitten. Und vor dem Polizeihafen lagen zwei Motorboote auf der Lauer.«

Warbatty nickte. »Mein Kompliment nochmals. Es tut mir leid, dass ich nicht gleich abgedrückt habe, als ich dort in der Tür stand. Nun, das nächste Mal!«

Gegen seine kaltblütige Frechheit gab es kein Mittel. Welch ein Mensch, dachte ich wieder.

Die Treppe zur Kajüte kamen schnelle Schritte herab. Inspektor Greaper trat ein.

»Guten Morgen. Also das ist der berüchtigte Warbatty. Freue mich sehr …«

Das Weitere blieb dem guten Greaper im Mund stecken.

Warbatty hatte mit einem Satz, sich dabei tief bückend, seinen Platz verlassen.

Harst schoss – schoss vorbei.

Warbatty packte Greaper von hinten, schleuderte ihn gegen den Tisch, halb auf Harst herauf. Im Nu war er dann zu der noch offenen Tür hinaus.

Wir jagten hinterher.

Revolverschüsse knallten. Die Polizeibeamten hatten dem Flüchtling, der sofort mit Hechtsprung in den Fluss gesprungen war, Kugeln nachgeschickt.

Der erste helle Schimmer des erwachenden Tages lag über dem gelbbraunen Wasser der Gomti, über den Gebäuden, den nahen Parkanlagen des Europäerviertels.

Auf dem Deck unseres Kutters sah ich drei regungslose Körper; drei gefesselte Hindu hockten auf dem Vorderdeck.

Wir suchten nach Warbatty eine halbe Stunde lang. Harst war einer der Eifrigsten. Er hatte das kleine Beiboot losgekettet und ruderte hin und her.

Endlich mussten wir es aufgeben. Der Inspektor fluchte. Harst schwieg, meinte nur: »Jetzt ist die Geschichte gründlich verfahren!«

Unser Kutter wurde darauf mehr im Inneren des Hafenbassins vertäut, und zwar an zwei Pfählen etwa zehn Meter vom Bollwerk ab. Greaper verabschiedete sich kleinlaut. Von dem, was wir im Interesse der Prinzessin Singawatha vorhatten, wusste er noch immer nichts.