Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Jegors Ende

Jegors Ende

 

I

 

Im kleinen Lande Escosa, nahe dem großen Gebirge im Süden, herrschte einst Regent Jegor. Jegor war ein despotischer Mann, der zu Wutausbrüchen und Gewalt neigte, was sich auch in seiner Politik niederschlug. So gab es in Escosa zu seiner Zeit eine Geheimpolizei, die die Bürger bespitzelte und nicht selten einen von ihnen grundlos einsperrte, folterte oder sogar hinrichtete.

Jegors Minister und Beamte waren sämtlich korrupt, und nur die, die mit dem Tyrannen befreundet waren, brachten es unter seiner Herrschaft zu Reichtum und Einfluss.

Als Jegor wieder einmal die Steuern für die Bauern des Landes erhöht hatte, weil er ein größeres und schöneres Schloss für sich und die Seinen bauen wollte, als er es bisher gehabt hatte, kam es zu Unruhen unter der Landbevölkerung. Die Bauern mussten nämlich diesmal fürchten – sie hatten bereits zuvor kaum Geld für das Nötigste behalten können – zusammen mit ihren Frauen und Kindern Hunger zu leiden, krank zu werden oder sogar zu sterben.

Jegor aber reagierte auf die Unruhen im Lande mit harter Hand. Er ließ einige der rebellierenden Bauern durch seine Polizei vom Fleck weg verhaften und auch foltern und andere sogar standrechtlich erschießen, um ein Exempel zu statuieren, das die übrigen Bauern veranlassen sollte, künftig Ruhe zu halten.

Unter den Bauern, die verhaftet und in den Kerker gesperrt wurden, waren auch Sopos und seine Frau Erga. Sie hatten einen erwachsenen Sohn namens Topar, der zu der Zeit, als die Geheimpolizei seine Eltern in deren eigenem Haus verhaftete, gerade auf dem Feld war. Er bemerkte die Abwesenheit seiner Eltern erst am Abend, als er zum Haus zurückkehrte. Die Nachbarin kam zu ihm, als er gerade die Haustür aufschloss, und berichtete ihm von der Verhaftung seiner Eltern durch Jegors Schergen. Was nur mochte im Kerker des Despoten mit ihnen geschehen?

Topar dachte voller Angst darüber nach und konnte die ganze Nacht lang nicht schlafen. Am nächsten Tag aber hatte er einen Entschluss gefasst. Er würde ins Ausland ziehen, um dort nach einem Weg zu forschen, Jegor zu beseitigen.

 

II

 

Topar gelangte auf einem Schleichweg unbehelligt über die Grenze in das Nachbarland Kortasa. Dort fragte er viele Leute, die er auf seinem Weg durch das Land traf, ob sie nicht von einer Möglichkeit wüssten, wie Jegors Tyrannei im Nachbarland beendet werden könne. Keiner aber von jenen, die er fragte, wusste, was er gegen den Despoten unternehmen konnte.

Schließlich kam Topar müde an einer kleinen Dorfkirche an. Er ging hinein, und drinnen war, von Blumen und Kerzen eingerahmt, der Leichnam eines Klosteroberen aufgebahrt. Neben seiner Leiche hatte man ein Pult mit einem Kondolenzbuch und einer Feder aufgestellt.

Topar setzte sich in die erste Reihe der Kirchenbänke und betrachtete das Bild, das sich ihm bot. Während er sinnend auf den Toten blickte, kam der Pfarrer der Kirche aus einem der hinteren Räume hinein und grüßte ihn mit einem Kopfnicken. Dann fragte er Topar leise, wer er sei und woher er komme, denn er habe ihn noch nie in seiner Kirche gesehen.

Topar antwortete, er sei ein Bauernsohn aus Escosa und sei aus seiner Heimat vor dem Despoten Jegor geflohen. Er suche in Kortasa nach einer Möglichkeit, Jegor zu beseitigen und so den Bürgern Escosas Frieden und Freiheit zu bringen.

»Nimm dir ein weißes Blatt Papier und schreibe dein Begehr mit der Feder darauf, die neben dem Kondolenzbuch des Abtes Donus liegt!«, sagte da der Pfarrer. »Dann lege den Zettel in das Kondolenzbuch hinein, klappe dieses zu und sprich das Vaterunser! So wirst du Rat bekommen, was in deiner Angelegenheit zu tun ist!«

Während der Pfarrer die Kirche durch das Haupttor verließ, um zu seinem Pfarrhaus zu gehen, tat Topar, was dieser ihm geraten hatte. Nachdem er das Vaterunser gesprochen hatte, verließ auch er die Kirche, um sich ein Quartier für die Nacht zu suchen.

 

III

 

Zwei Monate zogen ins Land, und Topar war verzweifelt. Er hatte gehofft, bald einen Rat zu erhalten, was er gegen Jegor unternehmen könne, doch nichts war geschehen. Er war sogar noch einmal in die kleine Kirche zurückgekehrt, in welcher der Abt aufgebahrt gewesen war, um noch einmal nach dem Zettel zu sehen, den er in das Kondolenzbuch gelegt hatte. Als er aber die Kirche betreten hatte, da war der Leichnam des Donus fort gewesen und auch das Buch hatte nicht mehr an seinem Platz gelegen. Topar hatte daraufhin den Pfarrer der Kirche aufsuchen wollen, der ihm damals den Rat gegeben hatte, doch es gab inzwischen einen anderen Pfarrer für die Kirche, und niemand wusste, wohin der alte Pfarrer gezogen war.

Ich werde in ein anderes Land ziehen und dort versuchen, einen Weg zur Beseitigung Jegors zu finden!, dachte Topar bei sich und suchte das Posthaus des Ortes auf, von welchem in zwei Stunden eine Postkutsche zum Nachbarland Dortosi abfahren sollte.

»Macht zweiunddreißig Heller!«, sagte der Mann, der die Fahrkarten für die Kutsche verkaufte. »Das Gepäck kostet nichts extra!«

Als aber Topar in seine Jackentasche fasste, um sein Portemonnaie hervorzuholen, da fühlte er, dass sich ein zusammengefaltetes Papier in ihrem Innern befand, das sich zuvor nicht dort befunden hatte. Er zog das Papier hervor und faltete es auseinander. Da traute er seinen Augen kaum! Es handelte sich bei dem Zettel um das Papier, das er, beschrieben mit seinem Wunsch, einen Rat zur Beseitigung Jegors zu bekommen, in das Kondolenzbuch in der Kirche gelegt hatte. Unter dem von seiner Hand niedergeschriebenen Wunsch aber war nun auf dem Blatt der Plan einer Stadt gezeichnet. Es handelte sich dabei um Novon, die Hauptstadt Kortasas. Während Topar den Plan erstaunt betrachtete, erschien darauf plötzlich, wie von Geisterhand gemalt, ein rotes Kreuzchen an der Stelle, an welcher die Kathedrale der Stadt eingezeichnet war.

»Nun brauche ich keine Fahrkarte mehr!«, sagte Topar zum Fahrkartenverkäufer.

Dann verließ er das Posthaus, um sofort nach Novon aufzubrechen, das nicht sehr weit von dem Dorf entfernt war, in welchem er sich befand. In der dortigen Kathedrale wartete sicher ein Rat auf ihn, wie Jegor zu beseitigen war.

 

IV

 

Einige Zeit Später hatte Topar die Stadt Novon erreicht. Er wanderte durch die Straßen auf der Suche nach der Kathedrale. Als er das Zentrum der Stadt erreicht hatte, konnte er in der Nähe Türme und Dach der Kathedrale sehen. Minuten später hatte er sie erreicht. Er trat durch den Haupteingang ins Innere.

In einer Nische konnte er eine alte Frau sehen, die gerade vor einem Marienbild eine Kerze anzündete. Sie war außer ihm der einzige Mensch, der sich im Moment in der Kathedrale aufhielt. Als die Alte fertig war, trat sie auf ihn zu und fragte: »Bist du der Bauernsohn Topar aus Escosa?«

Verblüfft antwortete Topar: »Ich bin es! Aber sage mir, woher weißt du, wer ich bin? Du hast mich doch zuvor noch nie getroffen!«

»Das, lieber Junge, wird mein Geheimnis bleiben«, sagte die alte Frau lächelnd. »Nun aber zu deinem Anliegen, hier in dieser Kathedrale einen Weg zu finden, Escosas Despoten Jegor zu beseitigen. Ich habe da etwas für dich!«

»Du weißt auch von meiner Mission?«, fragte Topar und wunderte sich noch mehr als zuvor. »Und du sagst, du hättest etwas für mich?«

»Ja!«, erwiderte die Alte und hielt ihm ein altes Amulett hin, das an einem Lederband hing. »Nimm!«

»Was hat es damit auf sich?«, fragte Topar und nahm das Amulett an sich.

»Es hat Zauberkraft!«, gab die alte Frau zur Antwort. »Du musst es folgendermaßen benutzen: Beschaffe dir Kleidung von Jegor, ziehe sie dir selber an, und hänge dir dann das Amulett um den Hals! Du wirst erleben, dass du auf diese Weise seine Tyrannei beenden kannst! «

»Und wie soll dies geschehen?«, fragte Topar ungläubig. »Wie kann ein unscheinbares Ding wie dieses eine so große Wirkung haben?«

»Versuche es einmal!«, sagte die Alte lächelnd, schüttelte ihm die Hand und verließ dann die Kathedrale, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

 

V

 

Topar reiste ohne Umschweife nach Escosa zurück und suchte das Schloss des Regenten in der Hauptstadt auf, wo er – wie er hoffte – an Kleidung des Tyrannen herankommen konnte. Er sprach dort einen jungen Küchengehilfen an, der Abfälle in den Hof brachte, und fragte ihn, ob er ihm für zehn Dukaten etwas Kleidung des Despoten beschaffen wolle.

»Das wird nicht so schwer sein!«, sagte der junge Mann. »Unser Herr ist verreist, und seine Räume sind nicht verschlossen und werden nicht bewacht. Warte hier einen Moment auf mich! Ich will sehen, was ich für dich tun kann!«

Mit diesen Worten ließ er Topar stehen und verschwand im Inneren des Schlosses.

Eine Weile später war der Küchengehilfe zurück und brachte Topar ein Hemd aus dem Kleiderschrank seines Herrn. Topar nahm es entgegen und zahlte ihm dafür zehn Dukaten. Anschließend zog er zum Haus seiner Eltern zurück, um dort mit dem Hemd des Despoten und dem Amulett zu tun, was die alte Frau in der Kathedrale verlangt hatte.

Kaum war er zu Hause angekommen, da zog er Jegors Hemd über und hängte sich das Amulett um den Hals. Er dachte, es müsse nun etwas Außergewöhnliches geschehen, doch in seiner Nähe passierte gar nichts.

»Die Alte hat Unsinn geredet!«, sagte er voller Verzweiflung zu sich selbst und zog Jegors Hemd und das Amulett wieder aus.

Da es bereits Abend geworden war, ging er dann zu Bett und schlief bis zum frühen Morgen.

Als Topar aber in der Frühe erwachte, da kamen gerade seine Eltern bei ihrem Haus an. Sie waren unversehrt aus der Gefangenschaft entlassen worden.

»Das Land hat seit gestern Abend einen neuen Regenten«, sagte Topars Vater Sopos. »Er hat sofort alle Gefangenen Jegors freigelassen und Folter und Todesstrafe abgeschafft! Auch die Geheimpolizei hat er aufgelöst!«

»Und was ist mit Jegor geschehen?«, fragte Topar, der dies alles noch gar nicht fassen konnte.

»Stell dir vor, Junge, er weilte gestern bei einem Bankett in der Hafenstadt Formala, da bekam er ganz plötzlich überall schwarze Haare und einen Schwanz, sein Gesicht wurde zu einer bösen Fratze und ihm wuchsen zwei Hörner auf dem Kopf«, entgegnete Topars Mutter Erga. »Dann tat sich die Erde auf und verschlang ihn. Das haben Boten erzählt, die von Formala kamen.«

Topar dachte sofort an die Worte der Alten, die ihm das Amulett gegeben hatte. Dies also war seine Wirkung gewesen!

Künftig wurde Escosa von seinem neuen Herrscher milde und gütig regiert, und dem Volk erging es so gut, wie schon lange nicht mehr. Topar übernahm später den Hof seiner Eltern und wurde ein guter und tüchtiger Bauer. Er heiratete eine hübsche Frau aus dem Dorf, und sie bekamen drei Söhne. Das Amulett behielt er für immer in seinem Besitz, musste es aber nie wieder benutzen.

(hb)