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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Das Auge der Prinzessin Singawatha – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Auge der Prinzessin Singawatha

1. Kapitel
Ein Todesurteil

Alam Bandur, unser liebenswürdiger Wirt in Allahabad, besuchte uns am Morgen nach Warbattys missglücktem Anschlag auf die Diamanten des Goldschildes des weißen Elefanten ganz überraschend auf unserem Kutter, den er uns als Wohnung zur Verfügung gestellt hatte.

Bandur, ein sehr reicher eingeborener Kaufmann, war durch die Sorge um unsere Sicherheit zu uns getrieben worden. Er hatte in der Morgennummer der Allahabadpost unser gestriges Abenteuer mit allen Einzelheiten geschildert gefunden und so auch gelesen, dass zwei der verhafteten Mitschuldigen Warbattys zu dem Geheimbund Putra Rakisana – Schwertbrüder – gehörten, einer Vereinigung von über ganz Indien zerstreuten Verbrechern.

Wir empfingen ihn in der Wohnkajüte. Sofort nach der Begrüßung warnte er Harst sehr eindringlich vor den Schwertbrüdern.

»Sie haben sich die Brüderschaft zu Todfeinden gemacht, Master Harst. Nehmen Sie das nicht leicht. Gerade dieser Geheimbund ist fast noch gefährlicher als die Thugs, die Mördersekte, mit denen die Schwertmänner in engster Verbindung stehen. Glauben Sie mir: Warbatty ist auch nicht im Entferntesten trotz all seiner Schlauheit so zu fürchten wie der Putra Rakisana. Ich könnte Ihnen Fälle erzählen, in denen Polizeibeamte in ihrer Wohnung am hellen Tag aus Rache von den Schwertbrüdern ermordet wurden, ohne dass man auch nur die geringste Spur von dem Täter gefunden hätte. Es gibt gegenüber diesen Leuten nur ein Mittel zur Rettung: schleunigste Flucht, das heißt, einen unbemerkten Wechsel des Aufenthaltsortes, so gern ich Sie noch wochenlang als meinen Gast beherbergen möchte, Master Harst. In Ihrem und ihres Freundes Interesse rate ich Ihnen, Allahabad bei Nacht und Nebel zu verlassen! Denn Sie müssen damit rechnen, dass selbst hier auf dem Kutter eine heimtückische Kugel Sie treffen kann, oder dass mitten im Pilgergewühl einer Straße jemand Sie von rückwärts erdolcht und dann in der Menschenmenge blitzschnell untertaucht.«

Er langte in die Tasche, reichte Harst einen großen versiegelten Umschlag und erklärte weiter: »Dieses Schreiben wurde mir heute früh persönlich für Sie abgegeben, Master Harst. Die Überbringerin war eine verschleierte Mohammedanerin, der Kleidung nach den reicheren Ständen angehörend. Anscheinend eine Frau! In Wahrheit dürfte es wohl ein verkleideter Putra Rakisana gewesen sein. Und der Umschlag mit den dicken Siegeln aus goldenem Zierlack mit dem Bild zweier über einem Busch kämpfender Adler wird vielleicht Ihr Todesurteil enthalten. Schon häufiger haben die Schwertbrüder ähnliche, versiegelte Schriftstücke verschickt. Auch der Vorgänger des Detektivinspektors Hamilton musste hier vor den Schwertbrüdern das Feld räumen und wurde insgeheim unter anderem Namen in eine andere Stadt versetzt.«

Harst schnitt bereits den Umschlag auf und zog den einmal gefalteten Briefbogen heraus.

Er las die beiden sehr eng beschriebenen Seiten, nickte dann und meinte: »Ganz recht! Es ist mein Todesurteil! Nun, der Klügere gibt nach. Ich habe hier auch nichts mehr zu tun. Würden Sie mir Ihren Kutter für eine Woche leihen, Master Bandur?«

»Sehr gern. Auch für einen Monat. Leider kann ich Ihnen jedoch meinen Monteur oder Maschinisten nicht mitgeben. Ich brauche ihn für mein Geschäft als Lenker eines Lastautos.«

»Oh, das tut nichts. Jedenfalls besten Dank. Ich verstehe mit Bootsmotoren sehr gut umzugehen. Wo lassen wir aber die indische Pilgergesellschaft, die auf dem Vorderdeck haust? Ich möchte die bescheidenen Leutchen nicht gern obdachlos machen.«

Bandur überlegte. »Die können ganz gut auf einem meiner Lastkähne unterkommen«, erklärte er dann.

»Mir fällt ein Stein vom Herzen«, gab Harst lächelnd von sich. »Die Leutchen wären also untergebracht. Bitte tun Sie jedoch den ihren gegenüber so, als ob wir nur eine kurze Fahrt heute Abend in Ihrer Begleitung unternehmen wollten.«

»Gut, abgemacht! Von mir erfährt niemand etwas über Ihre Abreise und Ihr Reiseziel, Master Harst. Wer die Schwertbrüder kennt, ist dreifach vorsichtig. Und ich kenne sie! Ich will Ihnen nur eingestehen: Ich habe mich vor einem Jahr von ihnen losgekauft. Sie hatten mir Rache geschworen. Ich opferte 25.000 Rupien und wurde sie so für immer los …«

»Ah!«, machte Harst. »Unglaublich! Die Bande nimmt also Lösegeld an. Nun, Sie, Master Bandur, taten klug daran, dergestalt Ihre persönliche Sicherheit sich zu verschaffen. Bei mir liegen die Dinge anders. Ich fürchte Warbatty als einzelnen doch weit mehr als die Putra Rakisana – falls ich überhaupt etwas fürchte!« Er lächelte dazu wieder ohne jede Prahlerei.

In demselben Moment bemerkte ich ein winziges Motorboot, das auf unseren Kutter zuschoss. Darin saß Inspektor Hamilton mit einem Polizeibeamten.

Ich eilte an Deck und führte Hamilton in die Kajüte.

»Master Harst,« rief er sofort, »wir haben bei der Razzia im unterirdischen Brahmatempel in der verflossenen Nacht großes Glück gehabt. Aber gerade deshalb möchte ich Sie in Ihrem Interesse …«

»Weiß schon!«, entgegnete Harst, ihn unterbrechend. »Auskneifen soll ich. Wird geschehen … noch heute Abend. Und Sie selbst, der Sie doch auch jetzt nicht gerade bei dem Geheimbund beliebt sind?«

»Ich … ganz im Vertrauen! … Ich werde morgen nach dem Nordosten versetzt, wo die Putra Rakisana nicht vertreten ist.«

Eine halbe Stunde später saßen wir beide wieder allein in der Kajüte. Unsere Gäste hatten uns mit der nochmaligen Mahnung »Vorsicht — größte Vorsicht!« verlassen.

»Der gute Bandur will uns natürlich sehr gern los sein, weil er selbst Angst vor den Schwertbrüdern hat«, meinte Harst, nachdenklich und langsam sich eine Zigarette anzündend. »Er fürchtet ihre Rache, weil er uns beherbergt hat. Nur um ihm nicht Ungelegenheiten zu bereiten, flüchte ich von hier. Außerdem zieht es mich jetzt auch mächtig zum berühmten Lucknow hin, wo ja wahrscheinlich Freund Warbatty wieder auftauchen dürfte. Wenigstens ist diese Stadt die nächste Etappe seiner verbrecherischen Tour durch Indien, wie wir bereits längst wissen.«

Mich zog es gar nicht nach Lucknow! Gar nicht! Ich hatte hier in Allahabad von dieser Verbrecherjagd wieder einmal über und über genug bekommen. Und aus diesem selben Gefühl, also dem einer gewissen Scheu vor neuen Abenteuern, fragte ich nun: »Wie lautet eigentlich das Todesurteil? Bin ich mit erwähnt darin?«

Harst blinzelte mir listig zu. »Gewiss! Da lies!« Er reichte mir den Briefbogen.

Und ich fand darauf Folgendes – mein Erstaunen wird jeder begreifen – in deutscher Sprache:

»Sehr geehrter Herr Harst. Ein Zufall hat mich in den Zeitungen der letzten Monate immer wieder auf Ihren Namen als den des zurzeit berühmtesten Detektivs aufmerksam gemacht. Ich habe mit wachsender Spannung dann ihre verblüffenden Erfolge gelesen, habe schließlich eigentlich nur noch alle möglichen Zeitungen gelesen, nur um wieder auf Ihren Namen zu stoßen. Ihre Erlebnisse in Nagpur sind die Letzten, die ich ausführlich geschildert fand. Da entstand urplötzlich in mir der Entschluss, mich Ihnen anzuvertrauen. Ich sagte mir, dass nur Sie mir helfen könnten. Ich werde eine Frau, die mir treu ergeben ist, mit diesem Brief nach Nagpur senden, damit er schnellstens in Ihren Besitz gelangt.

Sie haben vielleicht schon gemerkt, dass ich eine halbe Landsmännin von Ihnen bin. Von meiner Mutter lernte ich Deutsch lesen und schreiben. Ich liebe Deutschland, obwohl ich nie dort war, und falls Sie sich nicht meiner annehmen, nie dorthin gelangen werde.

Wer ich bin? Das will ich Ihnen erst sagen, wenn Sie mir Ihre Hilfe bestimmt versprochen haben. Ich muss misstrauisch sein wie selten eine Frau. Mein goldener Käfig ist umstellt von unterwürfigen Kreaturen des Mannes, den ich lieben müsste und doch nicht lieben kann; nicht einmal achten kann ich ihn. Es wäre für mich besser gewesen, wenn das Schicksal es mir erspart hätte, Mitwisserin von Geheimnissen zu werden, die mich jetzt … Doch nein! Wenn ich diese Gedanken zu weit ausspinne, könnten Sie mit Ihrem Scharfsinn herausfinden, wer ich bin. Und das darf erst sein, wenn Sie Ihr Wort gegeben haben, mir ein verschwiegener Befreier sein zu wollen.

Das, worum ich Sie bitte, ist mit großen Gefahren verknüpft und verlangt rücksichtslose Preisgabe Ihrer eigenen Person und Ihres Freundes Schraut. Gewiss, die Gefahren können auf ein Mindestmaß zusammenschrumpfen, wenn Sie alle Umstände klug ausnutzen und wenn wir überhaupt Glück haben. Ich verhehle Ihnen jedoch nicht, dass die Möglichkeit weit größer ist, Ihnen könnte bei diesem Vorhaben etwas sehr Ernstliches zustoßen.

Wenn Sie trotzdem bereit sind, für mich einspringen zu wollen, so finden Sie sich am 23. Dezember nachts 12 Uhr in Lucknow unter der Eisenbahnbrücke, mittelster Pfeiler, in einem Boot ein und warten Sie dort auf ein anderes Boot, das als Erkennungszeichen in Zwischenräumen von drei Minuten eine rote und eine grüne Laterne aufblitzen lassen wird.

Nochmals betone ich: Sie tun ein gutes Werk an einer Frau, die fliehen muss, wenn sie nicht umkommen will.«

Ich ließ den Brief sinken.

»Und das nennst du ein Todesurteil?«, rief ich leise und schaute Harst kopfschüttelnd an.

»Na, ich bitte dich, lieber Alter, insofern ist es vielleicht ein Todesurteil, wie die Prinzessin Singawatha …«

»Wer? Prinzessin Singawatha?«

»Nun ja. So heißt die Absenderin des Briefes.«

»Ja, aber woher weißt du denn das?«

»Durch den guten Alam Bandur, lieber Alter. Ich habe ihn, als du mit dem Inspektor vorhin über Tigerjagden sprachst, ganz unauffällig ausgehorcht. Er kennt ganz Lucknow, ist jede Woche dort, da er dort eine Zweigniederlassung besitzt. Zunächst das Todesurteil. Sieh mal, ich werde der Prinzessin natürlich helfen, besonders da ich hinter ihrem traurigen Los noch etwas Besonderes wittere. Und meine Witterung trifft zumeist zu. Ich helfe ihr also und nehme damit Gefahren auf mich, die nicht unbedeutend sind, ohne Frage! Sie können vielleicht für mich schlecht enden. Vielleicht macht man mich stumm dabei für alle Zeiten. Insofern also könnte man von einem unter gewissen Voraussetzungen vollstreckbaren Todesurteil reden.«

»Na, die Begründung dieser Bezeichnung bleibt schwach«, meinte ich. »Ist ja auch nebensächlich. Die Hauptsache: Was ist mit dieser Prinzessin?«

»Ich will mich kurz fassen. Wie gut ich Leute auszufragen verstehe und dabei doch den Kernpunkt stets im Dunkeln lasse, ist dir bekannt. Bandur war spielend leicht auszuhorchen. Er mag ein sehr guter Kaufmann sein. In anderen Dingen ist er gerade kein Genie. Aus dem Brief der Prinzessin konnte ich sofort Folgendes entnehmen. Erstens: Es muss sich um eine Haremsbewohnerin handeln. Sie spricht von unterwürfigen Kreaturen, mit denen ihr goldener Käfig umstellt ist. Damit konnte nur ein Harem gemeint sein. Ich fragte Bandur also, ob er in Lucknow einen mohammedanischen Fürsten kenne, der eine Deutsche zur Frau hätte. Mir wäre darüber so einiges zu Ohren gekommen. Die Antwort erfolgte prompt: Ja, der Bruder des Radscha von Bukanir, einem indisch-mohammedanischen Vasallenstaat an der Grenze nach Afghanistan, besitzt in Lucknow einen Palast und wohnt dort auch die größte Zeit des Jahres über. Und dieser Prinz, dem die Engländer das Prädikat Hoheit zugestanden haben, weil er es mit ihnen hält und ein Feind der großindischen nationalen Bewegung ist, dieser Achmed Ibur Dau hat eine Deutsche als Lieblingsfrau gehabt. So lange sie lebte – das alles ist in Lucknow stadtbekannt –, hatte sie so großen Einfluss auf ihn, dass er seine schlechten Instinkte unterdrückte. Als sie bei einer Choleraepidemie starb, machte er aus Verzweiflung einen Selbstmordversuch, wurde jedoch wieder trotz der schweren Brustschusswunde geheilt, gewöhnte sich, für einen Bekenner Mohammeds doppelt verächtlich. das Trinken und noch andere Laster an. Das Kind dieser Deutschen, die Prinzessin Singawatha, soll, obwohl zuerst der Abgott ihres Vaters, sich mit diesem ganz überworfen haben. Bei dem Palastpersonal, alles fanatischen Mohammedanern, ist sie wenig beliebt. Man sagt ihr nach, sie sei heimlich zum Christentum übergetreten. Man munkelt auch allerlei von einem Mordanschlag auf sie, bei dem sie ein Auge verloren haben soll. Was daran wahr ist, entzieht sich natürlich der allgemeinen Kenntnis. Jedenfalls verlässt die Prinzessin seit etwa sechs Monaten den Harem des Palastes nie mehr, während sie früher, natürlich dicht verschleiert, oft durch die Straßen in einem eleganten Ponygespann fuhr. Ihre Mutter soll von Mädchenhändlern seiner Zeit nach Indien verschleppt worden sein. Sie hieß in Lucknow nur die wohltätige Fürstin Manokawa. Dies alles erzählte Bandur mir. Es genügte vollauf. Die Briefschreiberin ist die Prinzessin. Du findest in ihrem Brief Redewendungen, die nur jemand kennt, der das Deutsche vollständig beherrscht. Die Schrift ist etwas kindlich-unbeholfen; trotzdem verrät sie in den dicken Grundstrichen einen gefestigten, energischen Charakter. Aus dem Inhalt wieder kann man auf Aufrichtigkeit und Seelengröße schließen.«

»Freilich, für dich war das Herausfinden der Absenderin eine Kleinigkeit! Ob etwa das beim Siegeln des Briefumschlages benutzte Petschaft das Wappen des Prinzen darstellt?«

»Aber, aber Max Schraut! Wo wird Singawatha so töricht gewesen sein, ein so bekanntes Wappen zu benutzen. Nein, Bandur sagte, gerade dieses Petschaft sei Dutzendware und das Bild darauf ein beliebiges Fantasieprodukt.«

Wir sprachen dann noch dies und jenes über das unserer in Lucknow wartende Abenteuer, blieben den Tag über an Bord und warfen abends gegen halb 10 während eines schweren Gewitters und Platzregens den Motor an.